Stimmt das, ist man ein guter Mensch, wenn man die richtigen Sachen konsumiert? Ja, natürlich. Aber was sind die richtigen Sachen? Kommt drauf an. In der komplexen spätmodernen Gesellschaft, in der wir leben, gilt «richtig» nicht mehr für alle. Das war früher. Heute existieren immer mehr Milieus mit relativ geschlossenen Wertvorstellungen nebeneinander.

Man erlebt und sieht das sehr eindrücklich am Beispiel von Körpernormen und Schönheitsvorstellungen. Es gibt ein riesiges Bevölkerungssegment da draussen, für das «Natürlichkeit» in der Erscheinung als Wert überhaupt keine Rolle spielt. Ein Segment, für das im Gegenteil sichtbare Körpermodifikationen ein Statussymbol bedeuten. Zum Beispiel der Kardashian-Phänotyp.

Das ist das eine. Das andere ist: «Richtig» erscheint bei Fragen des Konsums immer stärker als eine moralische Kategorie. Kaufe diese Turnschuhe, die sind nachhaltig. Der Kulturwissenschafter Wolfgang Ullrich spricht hier vom «Gewissenshedonismus» eines neuen «aggressiven Moraladels» und meint damit ein Milieu, das mit materiellem Besitz auch immateriellen Reichtum zu erwerben meint, indem durch den Konsum moralisch etikettierter Güter vermeintlich Gutes getan und verkündet wird.

 

 

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 
Über den Autor

Philipp Tingler ist Schriftsteller und Philosoph sowie Kritiker im SRF-«Literaturclub» und im «Literarischen Quartett» des ZDF. Er ist ausserdem Mitentwickler und Gesicht des Literaturkritikformats «Steiner & Tingler» im SRF und Juror beim ORF-Bachmannpreis.

Tugendsignalisation durch Verbrauch. Seht her, ich esse klimaneutrale Hähnchenbrust. Diese Signalisierung funktioniert nur, wenn die Tugendbotschaft auch Teil der Werbebotschaft ist. Die direkte und logische Kehrseite einer Moralisierung von Reklame sind Werbeverbotsforderungen für böse Sachen. Zum Beispiel bei potenziell gesundheitsschädlichen Produkten wie Tabakwaren. Die sind bei einer moralistischen Auffassung von Gesundheit eben auch «falsch» beziehungsweise «schlecht». Wahrscheinlich müssen Zigaretten bald über Darknet-Postfächer verkauft werden wie Dirty Sprite.

Geschmack und Moral

Tatsächlich waren Geschmacksfragen und Kaufentscheidungen von jeher stets auch eine Wertedeklaration – und im sozialen Vergleich eine Demonstration der Zugehörigkeit zu jener Gruppe, die die eigenen Werte teilt. Das Spiel der Mode ist schon immer ein Wechselspiel aus Zugehörigkeit und Abgrenzung. Und die zunehmende Bedeutung von Geschmacksfragen in einer hochdifferenzierten Konsumgesellschaft ist übrigens per se weder schlecht noch oberflächlich. Sondern Zeichen von Konsumentensouveränität. Denn eine Gesellschaft mit wenig Geschmacksfragen ist tendenziell eine illiberale Gesellschaft.

Das Problem, zu dem auch die neuere Ausrichtung der Werbung beiträgt, liegt viel eher in der Moralisierung selbst, in der Tendenz, auch einstmals triviale Produkte (wie Hähnchenbrüste) narrativ und symbolisch aufzuladen. Kurz: Das Problem liegt darin, dass Moral zur Marke wird. Genauer: darin, dass Moralisierung zur Produktsemantik von Marken wird.

 

«Moralisierungen behindern den freiheitlichen Diskurs in der Gesellschaft.»

Denn tatsächlich gehts ja hier nicht um Moral, sondern um Moralisierung. Was aber ist Moralisierung? Ein Kategorienfehler, eine Übergriffigkeit, die dann vorliegt, wenn moralische Erwägungen in Bereichen geltend gemacht werden, in denen solche Erwägungen nicht einschlägig sind, zum Beispiel in den Sphären der Kunst oder in lebenspraktischen Bereichen wie Ernährung und Mobilität. Bereits von Immanuel Kant kennen wir die Zurückweisung der Moralisierung moralisch indifferenter Sachverhalte. Und wir alle erleben täglich, dass immer mehr Phänomene zu einer moralischen Angelegenheit aufgeladen werden, die keine sind: Schönheit, Reichtum, Gesundheit, Sprache, Dekarbonisierung. Zum Beispiel. 

Warum verkaufen sich Moralisierungen so gut?

Moralisierungen behindern den freiheitlichen Diskurs in der Gesellschaft. Werbung sollte nicht zu Moralisierungen beitragen. Sie tut es aber. Warum? Warum sind Moralisierungen trotz ihrer Banalität so potent und attraktiv? Aus drei Gründen.

  • Erstens: Eben weil sie Debattenkiller sind. Der Moralisierungsnutzen liegt darin, das Gefühl zu haben, auf der richtigen Seite zu stehen und also seinen Standpunkt nicht rechtfertigen zu müssen. Moralisierungen beenden jede Diskussion, auch die um das Produkt. Der einzige Preis, der anfällt, ist der Tugendaufschlag für meine veganen Turnschuhe. Eine Art Ablasshandel. Die Moralisierung von Konsumgütern ist auch eine Antwort auf Unbefriedigtheiten, auf den Affekt- und Motivationsmangel der scheinbar rationalisierten, versachlichten, technisierten Spätmoderne. Deshalb lässt sich jeder Tinnef über die passende Moralisierung prima verkaufen.
  • Zweitens: Das moralische Urteil traut sich jeder jederzeit zu. Auch wenn ich Phänomene wie Fracking, zum Beispiel, oder die Rezyklierfähigkeit von textilen Mischgeweben spontan nicht fachlich beurteilen kann – moralisch habe ich sofort eine Position. Und ich habe mehr Möglichkeiten denn je, sie zu verbreiten. In der Sphäre der sozialen Medien geht es oft nicht um die begründete, diskursfähige Meinung, sondern um die schnelle Befriedigung der eigenen instinkthaften strassenmoralischen Impulse. Hier wird die Moralisierung zum Motor der Selbstdarstellung, mit der das digitale Ich seine eigene Markenbildung vorantreibt. Dem Soziologen Armin Nassehi verdanken wir den Hinweis, dass «Branding» in der spätmodernen Gesellschaft zu einer weitverbreiteten, gar universalen Darstellungsform aufsteigt: vom Nation Branding (dem Management eines Landes als Marke) bis zum Personal Branding im Lebenslauf oder über virtuelle Plattformen.
  • Drittens: Moralisierungen erlauben als Modephänomen, das sie sind, Zugehörigkeit und Abgrenzung. Zugehörigkeit scheint wichtiger denn je für sehr viele Menschen. Zahlreiche Leute scheinen geradezu wild darauf, sich gemäss ihrem vermuteten Wesen in die entsprechende Kohorte einzusortieren. Das ist so entlastend eindeutig. Und auch ein bisschen armselig. Der Wunsch nach Zugehörigkeit signalisiert in verunsicherten Zeiten nicht zuletzt einen Bedarf nach Regeln und Routinen, denen man vor der Souveränität des Subjekts oder einer Lebensform der expressiven Individualität den Vorzug gibt.
Diogenes CEO Philipp Keel: «Digital kann mich mal»
Philipp Keel
Quelle: Franco Tettamanti

Er ist ein Berufener, der alles, was er anpackt, mit Leichtigkeit zu beherrschen scheint. Philipp Keel bleibt auch als Kopf des grössten unabhängigen Verlags in Europa ein Künstler. Weiterlesen.

Die Richtung der Reklame

Was bedeutet das für die Zukunft der Werbung in einer Gesellschaft, deren Zugehörigkeitsdiskurse sich parallel zur Steigerungslogik ihres Moralismus ausweiten? Werbung ist befasst mit Ideen- und Symbolproduktion. Sie sollte den Wert von Leistung betonen, Leistung im Sinne von Kompetenz und Gelungenheit jener Waren und Dienste, die sie bewirbt. Werbung sollte nicht mitmachen bei der Idolisierung von Erfolg. Erfolg ist etwas anderes als Leistung. Erfolg ist ein Prestigegewinn, der nicht zuletzt durch Zufälle in der zeitgenössischen digitalen Aufmerksamkeitsökonomie bestimmt wird. Werbung sollte nicht unterstützen, dass die moralistische Belehrung zu einer Dauereinstellung dieser Aufmerksamkeitsökonomie wird.

Und Werbung sollte nicht mitweben an einer Chimäre von Identität, die neuerdings gleichbedeutend scheint mit dem Bewusstsein von Zugehörigkeit. Werbung sollte ein anderes Bewusstsein unterstützen: das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein. Nicht Zugehörigkeit, sondern Individualisierung als selbstbestimmte Gestaltung der Subjektivität – darinnen liegt der Zauber des freien Marktes. Und jetzt muss ich mich auf die Warteliste für diese Tote Bag eintragen. Hergestellt aus den berühmtesten Katzen des Internets.

Digital-Abo

Die digitalen Angebote der «Handelszeitung» und der «Bilanz» vereint auf einer Plattform.