Nach dem Kursfeuerwerk an den Aktienmärkten von über 50 Prozent in den letzten 14 Monaten fragen sich Anleger: Wie weit kann dieser neue Bullenmarkt die Aktien noch tragen und sind die Bewertungen inzwischen nicht viel zu hoch?

Das aktuelle Kurs-Gewinn-Verhältnis – kurz KGV – ist höher als das 23-Fache der erwarteten 12-Monatsgewinne des MSCI World Index. Das ist in der Tat eine stolze Bewertung, die zu Beginn eines neuen Konjunkturzyklus bereits so hoch wie sonst in der Spätphase des Zyklus ist.

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Doch der reine Blick auf das KGV lässt zwei wesentliche Punkte ausser Acht. So haben 12 Jahre Niedrigzins die Vermögenspreise auf breiter Basis nach oben katapultiert. Auch spiegeln die KGVs von Indizes immer nur den Durchschnittswert eines Aktienmarkes wider und sagen nichts darüber aus, ob die aktuell erhöhte Bewertung nur durch einen Investmentstil verursacht wird oder repräsentativ für den breiten Markt ist.

Tilmann Galler ist globaler Kapitalmarktstratege bei J.P. Morgan Asset Management.

Ein Grossteil der aktuellen Bewertungsexpansion ist auf den Boom der Wachstumsaktien zurückzuführen. Schwaches Wirtschaftswachstum, technologische Entwicklung und niedrige Zinsen waren der Nährboden für eine Wertentwicklung, wie zuletzt Ende der 1990er-Jahre.

Seit April 2010 haben globale Wachstumsaktien ihren Besitzern einen Mehrertrag von 182 Prozentpunkten gegenüber Value-Aktien beschert. Interessanterweise lag das weniger am höheren Gewinnwachstum, als an der Bewertungsausweitung: Das KGV der Wachstumsunternehmen hat sich auf das 32-Fache mehr als verdoppelt.

Die Bewertungen von Value-Aktien sind im Vergleich mit einem KGV von 15x geradezu günstig. Neben der Pandemie hat auch der Kampf gegen den Klimawandel die Bewertungsschere zwischen Wachstums- und Value-Aktien geöffnet.

Das Ziel der CO2-Neutralität hat Kurse und Bewertungen alternativer Energie- und Versorgerunternehmen und Hersteller von elektrischen Antriebskonzepten nach oben katapultiert. Der Markt scheint eine fundamentale und nachhaltige Veränderung der Ertragskraft der Unternehmen weg von Finanzwerten, Industrie, klassischem Einzelhandel und Energie hin zu Fintech, IT, Online-Handel und nachhaltiger Energieerzeugung zu erwarten.

Expansive Fiskalpolitik pusht Value

Es spricht einiges dafür, dass dies langfristig eintreten wird. Aktuell lohnt es sich aber für Investoren, die verschmähten Value-Aktien wieder in den Fokus zu nehmen. Denn die Pandemie und die Reaktion der Politik haben im Vergleich zur vorherigen Dekade die Parameter an den Märkten in einem entscheidenden Punkt verändert – der Fiskalpolitik.

Die Abwendung von der alten stabilitätsorientierten Politik hin zu einer wachstumsorientierten Fiskalpolitik schafft zumindest kurzfristig ein Umfeld von kräftigem Wirtschaftswachstum und Inflation. Value-Branchen profitieren von dieser Entwicklung.

Die Industrie wächst dank staatlicher Investitionsprogramme, Finanzwerten hilft die steilere Zinsstrukturkurve und der Einzelhandel profitiert von dem aufgestauten Bedürfnis nach einer realen «Shopping-Erfahrung». Das bedeutet, in einem Umfeld üppigen Wirtschafts- und Gewinnwachstums werden Investoren ihr «Beuteschema» verändern.

«Wachstum um jeden Preis» wird durch «Wachstum zum günstigen Preis» – sprich Value – ersetzt. Investoren können mit einer stärkeren Berücksichtigung von Value-Aktien den Malus der hohen Gesamtmarktbewertung zumindest partiell kompensieren.