Einen Monat nach dem Schlusspfiff der Europameisterschaft: Wie beurteilen Sie die Wirkung des Turniers?

Meine Erwartungen wurden weit übertroffen – und die waren schon hoch. Ich war überzeugt, dass wir die Stadien füllen können und dass die Schweizer Gesellschaft viel weiter und interessierter ist, als viele in der Fussballwelt dachten. Das wurde bestätigt. Was mich aber wirklich fasziniert hat, war die Welle der Begeisterung im ganzen Land: die Public Viewings, die Fanzonen, die mediale Abdeckung, die fantastischen TV-Zuschauerzahlen. Auch der kommerzielle Sprung, wie viele Partner plötzlich ihre Sponsorings richtig aktivierten, hat mich in dieser Intensität überrascht.

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Sie haben früher in Führungspositionen bei der Uefa und bei der Fifa gearbeitet. Und Sie haben mal gesagt, Sie seien nicht immer die «passende» Person gewesen, weil Sie ungeschriebene Gesetze hinterfragten. Wie sehen Sie das heute? Braucht es nicht genau solche unbequemen Stimmen?

Meine kritische Haltung hat mir manchmal geholfen und manchmal geschadet. Fast immer hat man mich machen lassen, weil ich gut vernetzt und respektiert und glaubwürdig war und weil meine Arbeit den Zielen der Organisation diente. Wenn ich heute die grossen Verbände anschaue, sehe ich zwar mehr Budget für den Frauenfussball, aber es ist noch lange nicht genug. Persönlichkeiten wie zum Beispiel Nadine Kessler bei der Uefa oder Marion Daube beim Schweizerischen Fussballverband leisten exzellente Arbeit, aber für echten Wandel braucht es viel mehr Frauenfussballexpertise, Ressourcen und Entscheidungsmöglichkeiten.

In Spanien hat die Rubiales-Affäre grosse Konflikte offengelegt. Ticken die Uhren in der Schweiz anders?

Bei uns ist es weniger eine Sexismusdebatte als eine Frage der Prioritäten und des Willens. Das Kernproblem ist: Wenn man den Frauenfussball stärken will, muss man das Geld woanders wegnehmen, bevor sich neue Einnahmequellen aufbauen lassen. Das braucht Mut und klare Entscheide in der Führung. Daran fehlt es bisher noch zu oft.

Gerade weil Geld eine zentrale Rolle spielt: Wäre der Frauenfussball nicht ideal für Unternehmen mit Fokus auf Purpose und soziale Verantwortung?

Absolut. Die Einstiegsbeträge sind attraktiver als bei den Männern, was den Markt auch für neue Partner öffnet. Ein Problem war oft jedoch die Bündelung der Rechtepakete: Ein grosser Sponsor kauft das Gesamtpaket, aber die interne Verteilung der Gelder durch den Verband bleibt intransparent. Erst wenn der Frauenfussball als eigenständiges Produkt mit eigenen Angeboten, Kampagnen und Budgets vermarktet wird, kann sein volles Potenzial ausgeschöpft werden.

Und wie sieht es bei der öffentlichen Förderung aus – hat die EM ein Umdenken ausgelöst?

Sie hat bewiesen, was möglich ist. Die Städte haben mit ihren Fanzonen aus eigener Initiative gehandelt und einen riesigen Erfolg gefeiert. Eine Investition in den Frauensport ist eine Investition in die ganze Gesellschaft – in Diversität, in positive Gemeinschaftserlebnisse und in eine moderne Standortpolitik. Es ist nicht nur fair, es ist klug und zukunftsweisend.

Welche Kriterien müsste die öffentliche Hand bei der Förderung künftig stärker gewichten?

Ganz klar die Geschlechtergerechtigkeit in der Infrastruktur. Das Stadion in Lausanne wurde vor wenigen Jahren mit öffentlichen Geldern gebaut – und hatte anfangs im gesamten Kabinentrakt nur wenige Frauentoiletten. Es hat niemand damit gerechnet, dass jemals ein Frauenfussballspiel im Stadion stattfinden wird. Solche Blindstellen zeigen, wie wenig das Bewusstsein verankert ist bei Planenden, Vereinen und Behörden. Fussball ist für Männer und Frauen. Dasselbe gilt bei der Vergabe von öffentlichen Geldern, beim Bau von neuen Fussballplätzen und Garderobengebäuden: Wenn ein Verein Fördergelder erhält, muss geprüft werden, ob Mädchen gleichberechtigt Zugang haben. Ein «Wir haben keinen Platz für ein Mädchenteam» darf nicht akzeptiert werden. Hier muss die Politik mit klaren Bedingungen bei der Vergabe von Fördergeldern ansetzen.

Die mediale Präsenz der Spielerinnen war riesig. Wie kann diese Sichtbarkeit langfristig erhalten bleiben?

Es ist klar, dass die Aufmerksamkeit wieder abnimmt. Aber das Niveau wird nie mehr so tief sein wie vor dem Turnier. Die Spielerinnen haben eine neue Plattform erhalten, einige sind zu Social-Media-Stars geworden. Das wird bleiben. Entscheidend ist, was die Medien daraus machen. Blick und SRF zum Beispiel haben gezeigt, dass professionelle Berichterstattung über Frauenfussball – mit der gleichen Tiefe und den nötigen Ressourcen – auf grosses Publikumsinteresse stösst. Die Erkenntnis muss sein: Wenn man es richtig verpackt, ist das Interesse riesig, und es ist profitabel.

Zur Person

<p>05.02.2025, Hamburg: Spobis 2025. Foto: Georg Wendt</p> <p>Tatjana Hänni</p>

05.02.2025, Hamburg: Spobis 2025. Foto: Georg Wendt

Tatjana Hänni

Quelle: GEORG WENDT

Tatjana Haenni ist Chief Sporting Officer in der National Women’s Soccer League (NWSL) in den USA, einer der weltweit führenden Frauenfussballligen. Sie hat einen MBA in Sportmanagement und ist zudem Dozentin im Bereich Sportmanagement. Haenni begann ihre aktive Fussballkarriere 1979, spielte unter anderem für den DFC Bern, den SV Seebach und den FC Rapid Lugano und bestritt von 1984 bis 1996 23 Länderspiele für die Schweizer Nationalmannschaft. Nach ihrer Spielerkarriere arbeitete sie als Funktionärin. Sie war die erste Frau in der Geschäftsleitung des SFV und hat sich stark für die Förderung des Frauenfussballs eingesetzt, auch bei der Uefa und bei der Fifa.

Tatjana Haenni gilt als Expertin und Pionierin im internationalen Frauenfussball und hat sich intensiv für die Professionalisierung und bessere Sichtbarkeit des Sports eingesetzt.

Hat es eine Rolle gespielt, dass während der EM fast ausschliesslich Frauen im Rampenlicht standen – auf dem Feld, an der Seitenlinie und bei den Stadiondurchsagen?

Ich bin keine Freundin von «nur Frauen im Frauenfussball». Echte Gleichberechtigung haben wir erst, wenn eine Frau ganz selbstverständlich ein Männerteam trainiert. Aber solange diese Türen verschlossen bleiben, müssen wir Frauen im Frauenfussball gezielt fördern – um ihnen Karrieren, Erfahrung und Sichtbarkeit zu ermöglichen. Dass im Final zwei Trainerinnen standen oder dass Sarina Wiegman zum dritten Mal in Folge ein Team ins EM-Final geführt hat, sind unglaublich starke Statements. Um solche Türen zu öffnen, braucht es manchmal einfach einen Push – vielleicht sogar Quoten. Das hat auch Doris Keller als Turnierdirektorin gezeigt: Eine Frau mit ihrer Erfahrung bringt eine andere Perspektive mit. Marion Daube und Alice Holzer haben im Verband den Fokus bewusst auf Sichtbarkeit und Förderung von Frauen gelegt. Das war mitentscheidend für den Erfolg.

Die Schweiz ist im Viertelfinal ausgeschieden. Was bedeutet die sportliche Lücke zu den Topnationen für die Zukunft?

Das Viertelfinal war eine hervorragende Leistung und das Maximum von dem, was man erwarten durfte. Aber man muss realistisch sein: Mit der momentanen Leistung wird eine WM- oder EM-Qualifikation schwierig. Und genau da liegt der Knackpunkt. Ohne Endturniere gibt es keine Sichtbarkeit. Deshalb muss der SFV jetzt investieren. Wir haben im Männerbereich ein hervorragendes Talentsystem. Die gleichen Investitionen brauchen wir auch für die Frauen. Eine volle Pipeline, gezielte Förderung, genug Ressourcen.

Wenn Sie freie Hand hätten, was wäre Ihr erster Schritt?

Es gibt nicht den einen Schritt. Das Wichtigste ist, das Momentum zu nutzen. Es braucht eine klare Strategie, wie sich das Nationalteam kurzfristig und für die nächsten fünf bis acht Jahre wieder unter die besten zwölf Teams entwickeln kann. Dazu gehören konkrete Massnahmen wie beispielsweise diese, die AXA Women’s Super League als eigenständiges, kommerzielles Produkt auszugliedern oder die Ressourcen bei der Talentförderung zu erhöhen. Das zwingende Ziel muss stets sein: die regelmässige Qualifikation für Endrunden. Alles steht und fällt damit. Finanzierung, Sichtbarkeit und Fortschritt.

Ihr Abschlusswort?

Ich bin seit dreissig Jahren im nationalen und internationalen Frauenfussball beschäftigt und habe oft erlebt, dass viel mehr geredet als umgesetzt wurde. Aber der Druck und die Erwartungshaltung sind heute so gross wie nie. Ich hoffe – und ich erwarte –, dass wir den Punkt überschritten haben, an dem man einfach wieder zur Tagesordnung übergeht. Dass man jetzt auch lebt, was man sagt. Nur so sichern wir, was wir erreicht haben.