Wege zu finden, um den gesamten Talentpool nutzen und eine produktive Zusammenarbeit ermöglichen zu können, ist entscheidend für Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Rund 40 Prozent des Wachstums des BIP pro Kopf in den Vereinigten Staaten ist darauf zurückzuführen, dass die Beschränkungen, die talentierte Menschen in den 1960er-Jahren vom Arbeitsmarkt fernhielten, heute nicht mehr gelten.
Iris Bohnet und Siri Chilazi sind die Autorinnen des Buches «Make Work Fair: Data-Driven Design for Real Results», das 2025 publiziert wurde.
Um die restlichen Hürden zu überwinden, können wir von der Präzisionsmedizin lernen, die schon länger zeigt, dass ein datenbasierter, differenzierter Ansatz bessere Resultate für Patientinnen und Patienten erzielen kann. «One size fits all» funktioniert weder bei der Diagnose von Herzinfarkten noch bei Testdummies, die benutzt werden, um herauszufinden, wie Autos konstruiert sein müssen, um schwere Verletzungen bei Kollisionen zu vermeiden. Auch Fairness kann präziser am Arbeitsplatz verankert werden, zum Beispiel um zu bestimmen, wo und wann Menschen arbeiten sollen, wie sie beurteilt werden und wie sie lernen sollen.
Wo und wann Menschen arbeiten
Für die «digitalen Nomaden» in den über vierzig Ländern mit entsprechender Gesetzgebung wie etwa Deutschland, Kroatien und Portugal oder für die Informatiker und Informatikerinnen, die nach Tulsa gezogen sind – eine Stadt im US-Bundesstaat Oklahoma, die sie mit offenen Armen empfangen und durch die sie im Gegenzug ihre eigene Wirtschaft angekurbelt hat –, ist Telearbeit ideal. Für Frauen in Indien und Menschen mit Behinderungen überall auf der Welt, die aus sozialen oder gesundheitlichen Gründen nicht ohne Weiteres ausser Haus arbeiten können, ist Homeoffice ideal. Und für Berufseinsteiger, die Onboarding, Feedback und Mentoring benötigen, ist die Arbeit im Büro ideal.
Aber nicht nur der Ort ist relevant, sondern auch die Zeit: Die Mitarbeitenden von Chick-fil-A, einer Fastfoodkette in den USA, schätzen es zum Beispiel, länger pro Tag, aber weniger häufig zu arbeiten, während Eltern von kleinen Kindern in der Schweiz kürzere Tage und regelmässige Arbeitszeiten bevorzugen. Es gibt keine Einheitslösung. Präzisionsgerechtigkeit optimiert die Arbeitsumstände im spezifischen Kontext für die direkt betroffenen Menschen.
Wie Menschen beurteilt werden
Systemneutralität ist weitgehend ein Mythos. Als die Daten eines globalen Finanzdienstleisters mit Hauptsitz in den USA zeigten, dass einige seiner Mitarbeitenden, insbesondere nicht weisse Frauen, schlechtere Mitarbeiterbewertungen erhielten als ihre männlichen oder weissen Kollegen – hauptsächlich, weil sie in ihren Selbsteinschätzungen bescheidener waren –, stellte das Unternehmen die Weitergabe der Selbstbewertungen an die Manager ein. Der Unterschied in Mitarbeiterbewertungen verschwand für neue Mitarbeitende. Präzisionsfairness bedeutet, Daten detailliert zu analysieren, um eine klare Diagnose des Problems zu erstellen und dann entsprechende Massnahmen zu ergreifen.
Wie Menschen lernen
Mehr als 300 Studien aus europäischen Ländern, den Vereinigten Staaten und ein paar asiatischen und lateinamerikanischen Ländern belegen, dass Unternehmen bei gleicher Qualifikation eher Personen einstellen, die ihren bisherigen Mitarbeitenden ähnlich sind und der vorherrschenden Norm entsprechen: Frauen für Pflegeberufe, Männer als Ingenieure, Einheimische, wenn immer möglich, und Ausländer im Notfall. Um Talente objektiver zu bewerten, nahmen Managerinnen und Manager einer globalen Telekommunikationsfirma mit Hauptsitz in Europa an einem kurzen Trainingsprogramm teil – und zwar genau zu einem Zeitpunkt, als sie dieses am dringendsten brauchten: kurz bevor sie entscheiden mussten, welche Kandidatinnen und Kandidaten sie zu einem Interview einzuladen. Nach dieser Intervention stellte das Unternehmen mehr Leute an, die bisher übersehen worden waren, insbesondere solche aus anderen Ländern.
Information sollte also genau dann vermittelt werden, wenn Entscheidungsträgerinnen und -träger etwas damit anfangen können. Trainingsprogramme sind häufig nicht effektiv, weil sie zu einem Zeitpunkt stattfinden, an dem sie in den allgemeinen Unternehmensrhythmus passen – und nicht in den situativen Kontext. Wer Präzisionsfairness betreiben will, muss auf die Bedürfnisse der Mitarbeitenden achten.
Praktische Umsetzung
Präzisionsgerechtigkeit optimiert zusammengefasst die zu erreichende Zielgruppe, die Arbeitsumstände im spezifischen Kontext und den Zeitpunkt von spezifischen Fairnesshandlungen. Um fairer zu werden, brauchen wir eine Werkzeugkiste mit Instrumenten, die es uns erlauben, in spezifischen Situationen fairer zu handeln. In der Kiste sollten Mengen von detaillierten Daten sein, Algorithmen wie der Equal Voice Factor, welche die Daten brauchbar verarbeiten (und nicht selbst von Vorurteilen behaftet sind), evidenzbasierte Prozesse und verhaltensrelevante Kommunikationsstrategien.
Ungerechtigkeiten am Arbeitsplatz sind oft in bestehenden Strukturen, Prozessen und Umgebungen verwurzelt. Anstatt sich ausschliesslich auf traditionelle Initiativen für Vielfalt, Gleichberechtigung und Inklusion (DEI) zu verlassen, können datengestützte Lösungen helfen, mehr Fairness direkt in dieses Gefüge einzubauen, was zu gleichen Chancen, Zugang zu Leistungen und zur Beseitigung von Barrieren für Höchstleistungen führt.