Vor vierzig Jahren, vor der Globalisierung, war die Welt der Unternehmer und Unternehmerinnen noch «in Ordnung». Die Ziele fast aller Firmen waren einfach gestrickt und brauchten nicht lange erklärt zu werden: Stabilität, Gewinn und Wachstum. Das Image eines Unternehmens spiegelte sich im jährlichen Wachstum, selbst wenn man mal ein Jahr keinen Gewinn ausschütten konnte. Hauptsache, man steigerte den Umsatz. «Mehr verkaufen» war die Devise, kaum besser visualisiert als im 1982 erschienenen Kurzbuch «The One Minute Manager» von Ken Blanchard und dem mittlerweile verstorbenen Spencer Johnson. Mithilfe von drei goldenen Regeln würde jeder Manager, so die amerikanischen Autoren, dauerhaft erfolgreich sein, wäre Wachstum garantiert.

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Mittlerweile ist alles ein bisschen durcheinander geraten, und die globale Pandemie hat kräftig mitgespielt. Die gesellschaftliche Unternehmensverantwortung (CSR) kontrolliert nicht mehr nur das eigene operative und administrative Vorgehen und begleitet so die individuellen Ziele des Unternehmens. Neu muss CSR auch den freiwilligen Beitrag zu einer nachhaltigen Entwicklung über die gesetzlichen Forderungen hinaus aktivieren. Und neben Verwaltungsrat und Behörden spielen seit ein paar Jahren auch die Mitarbeitenden eine immer stärkere Rolle – und jetzt plötzlich sogar die externe Gesellschaft mit Menschen, die mit dem Unternehmen direkt an sich nichts zu tun haben. Und diese «Aktivisten» bringen jetzt die neuen Fragen auf den Tisch: Warum müsst ihr so viel Geld verdienen, warum müsst ihr profitabel arbeiten? Und auch: Warum müsst ihr eigentlich noch wachsen?

«Die einfache Antwort ist Ja»

So deutlich beantwortet Rainer Müller diese Fragen. Er arbeitete in leitenden Marketing- und Kommunikationsfunktionen für Sony, Coca-Cola und die letzten zehn Jahre für Nestlé in Dubai. «Allerdings verstehen moderne Unternehmen heute Wachstum umfassender. Erfolgreiches unternehmerisches Handeln schafft Werte nicht nur für Investoren und Investorinnen, sondern für alle Anspruchsgruppen, welche für die unternehmerische Tätigkeit von Bedeutung sind.» Dazu gehört auch die Öffentlichkeit, die sich grob gesagt seit der Bankenkrise 2008 stark verändert hat, alle Dinge infrage stellt und die klassischen Werte anzweifelt.

Wachstum kann auch bedeuten, die Firma qualitativ zu entwickeln.

 

Auch Reto Stutz, der seit 1995 ununterbrochen in der Schweizer Finanzindustrie arbeitet und derzeit im Bereich Vermögensverwaltung tätig ist, befasste sich mit Postwachstum und damit, ob es überhaupt praktikabel sei: «Diese Fragen müssen im Gesamtzusammenhang mit unserem Wirtschaftssystem gesehen werden. Wachstum und Profitabilität erlauben einer Firma nun mal, besser gegen Marktfluktuationen gewappnet zu sein, in Forschung und Entwicklung investieren und auch den laufend neuen regulatorischen Anforderungen Rechnung tragen zu können.» Stutz ist überzeugt, dass rentable Firmen mehr an die Gemeinschaft zurückgeben, heutzutage auch an Drittparteien wie Bedürftige oder gemeinnützige Organisationen.

Nicht monetäres Wachstum

Sowohl Reto Stutz als auch Rainer Müller verstehen aber, dass der Begriff Wachstum auch anders formuliert werden könnte, nämlich als Entwicklung oder Entfaltung. Müller formuliert das so: «Fortschrittliche Unternehmen haben für alle Anspruchsgruppen neue Wertschöpfungsziele definiert. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter beispielsweise erwarten ein korrektes Gehalt, interessante Weiterbildungsmöglichkeiten und eine sinnstiftende, respektvolle und inklusive Unternehmenskultur. Und Zulieferer und Partner erwarten eine faire und möglichst zukunftssichernde Zusammenarbeit. Der Staat letzten Endes möchte mit Unternehmen zusammenarbeiten, die selbstverständlich die Gesetze einhalten und ihre Steuern bezahlen».

Es geht vielmehr um die Frage, wie Wachstum zu definieren ist. «Wachstum – oder eben Entwicklung – kann beispielsweise auch bedeuten, den ökologischen Fussabdruck eines Unternehmens zu reduzieren. Aber danach landet man doch wieder bei den monetären Aspekten und den prioritären Bedürfnissen aller involvierten Kreise», so fasst es Reto Stutz zusammen.

Postwachstum tönt also theoretisch gut. Aber der Kapitalismus neoliberaler Prägung, sprich: das US-amerikanische Wirtschaftssystem, fordert nun mal vom Staat und von der Öffentlichkeit, dass die Wirtschaft möglichst freiheitlich und autonom arbeiten kann und ihre eigenen Ziele verfolgen darf. Letztlich nach dem Gusto der investierenden Aktionärinnen und Aktionäre. Dass Drittpersonen oder sogar fremde Staaten in die Geschäftsabläufe «hineinreden», ist neu. Es geht immer weniger um Saläre und Gewinnausschüttung als um eine nachhaltige Werteordnung im Betrieb, die zuallererst die Mitarbeitenden schützt.

Zudem müssen sich Firmen auch Gedanken zu Klimaschutz, Altersvorsorge und Immigration sowie zu allen anderen gesellschaftlichen Herausforderungen machen. Unternehmen werden gefordert, ihre klassische Freiheit, das tun zu wollen, was sie für richtig halten, an ein von der Öffentlichkeit als «richtig» eingeschätztes Vorgehen anzupassen. Postwachstum würde dann bedeuten, dass Unternehmen zwar weiterhin wachsen dürfen, aber dass es sich dabei prioritär um eine qualitative Entwicklung handelt und nicht um eine quantitative Steigerung.

Einfluss der Generation Z

Mit Blick auf die in den Firmen bald federführenden Vertreterinnen und Vertreter der Generation Z (Gen Z) zieht Stutz diesen Vergleich: «Hier sollte es sich um ein Nebeneinander anstelle eines Übereinanders handeln.» Die Kontakte mit der Gen Z waren für Rainer Müller sowohl privat als auch bei der Arbeit sehr bereichernd. «Was mich an dieser Generation beeindruckt, ist ihre Frage nach dem Sinn und eine gewisse Werteverschiebung weg vom privaten Eigentum, hin zur geteilten Nutzung. Sie möchte bewusster Teil einer Welt sein, zu der jeder und jede im eigenen Umfeld Sorge trägt. Genau deshalb sucht sie Arbeitgeber mit einem klar definierten, nachhaltigen und gelebten Unternehmenszweck und mit zeitgemässen Wertvorstellungen wie Respekt, Integrität, Diversität und Inklusion.»