Das bringt Marketing? Seit Jahrzehnten versuchen Chief Marketing Officers (CMOs), diese Frage mit harten Fakten zu beantworten. Der Druck, messbare Umsätze und nachhaltiges Geschäftswachstum zu erzielen, ist riesig. Die Kundschaft verlangt personalisierte und aussergewöhnliche Erlebnisse ohne Medienbrüche. Über die gesamte Customer-Journey hinweg müssen CMOs den Wertbeitrag ihrer Aktivitäten nachweisen – am liebsten in Echtzeit. Hier kommen selbstständig agierende Systeme mit künstlicher Intelligenz (KI), kurz KI-Agenten oder Agentic AI, ins Spiel: Sie ermöglichen den CMOs datengesteuerte Initiativen sowie autonomes Kampagnenmanagement und innovative Strategien. Sie verwandeln Marketingaktivitäten in umsatzorientierte, verantwortungsbewusste Offensiven mit einer speziellen Dynamik. Das positioniert den CMO als Innovationstreiber, erwartet aber auch Einsatz.
Roger Lay, Experte für kundenorientierte Transformation, Mette Maj Arnung, Branding- und Marketing-Spezialistin und Peter Sandor, Technologie-Experte Sales, Marketing & Service, PwC Switzerland, Zürich
Zurück zu den Wurzeln
Im Gegensatz zur sperrigen und teuren Robotic Process Automation (RPA) senkt Agentic AI die Einstiegshürden drastisch und revolutioniert das Marketinguniversum. KI-Agenten verwandeln das Erstellen von Inhalten in einen sekundenschnellen Prozess, der zahllose Alternativen für Tonalität, Format und kreative Umsetzung aufzeigt. Sie koordinieren die Kampagnen von A bis Z. So können sich die Marketingteams auf Kernaufgaben konzentrieren: auf strategische Positionierung, Markenbotschaften, Kampagnenziele. Marketingverantwortliche finden endlich wieder Zeit für den Aufbau starker Communitys, Beziehungspflege und die Konzeption aussagekräftiger Narrative. Dazu bringt Agentic AI CMOs und ihre Teams auf ein völlig neues Aktionslevel. Nicht nur in Bezug auf Tools, sondern auch hinsichtlich ihrer Rollen, Abläufe und Denkweisen. Auf diesen Sprung muss sich die Marketingwelt vorbereiten. Denn eine technologische Revolution wie diese fordert nicht nur neue Technologien, sondern neuartige Prozesse und Fertigkeiten. Mit Agentic AI verändert sich die Funktion der CMOs gleich mehrfach: vom Ausführen zum Steuern, vom Silo- zum Systemdenken, vom Umsetzen zum Überblicken.
Es geht um Systemverantwortung
Die Kernfunktion des CMO verschiebt sich von der Kampagnenverantwortung zur Systemarchitektur. In Zukunft konzipieren und überwachen CMOs KI-gesteuerte Marketingsysteme, die auf der Grundlage von Leistungsindikatoren Kampagnen in Echtzeit starten, optimieren und beenden. Dabei setzen die CMOs klare Ziele und operative Leitplanken, sorgen für eine konsistente Markenstimme und das Einhalten von Vorschriften. Ein Beispiel: Anstatt über Wochen die Einführung eines Seasonals zu koordinieren, steuert der CMO eine KI-Plattform, die fortwährend Mikrokampagnen durchführt und Botschaften und Kanäle testet. Stellt die Plattform fest, dass Influencer-Videos bei einer bestimmten Zielgruppe besser abschneiden als statische Anzeigen, verteilt er das Budget und die kreativen Ressourcen sofort und eigenständig um.
CMOs stehen neu vor der Aufgabe, hybride Teams aus menschlichen Talenten und digitalen KI-Agenten zu führen. Dazu brauchen sie sowohl technische Kenntnisse als auch menschliche Eigenschaften wie Anpassungsfähigkeit, Urteilsvermögen, Kreativität, Empathie und kritisches Denken. Vor allem müssen sie sicherstellen, dass KI-Agenten ethische und strategische Grenzen wahren. Deshalb sollten die CMOs zum einen neue Rollen ins Team holen, etwa Prompt-Engineers oder KI-Strateginnen. Zum anderen müssen sie ihre aktuellen Teammitglieder umschulen, damit diese mit den intelligenten Systemen effektiv und reibungsfrei interagieren.
CMOs sind sowohl für die Leistung ihrer Mitarbeitenden als auch für die Ergebnisse der KI-Agenten verantwortlich. Bei der Einführung eines neuen Produkts zum Beispiel treten KI-Agenten mit Influencerinnen und Influencern in Kontakt und übernehmen die Kampagnenanalyse, während sich die Marketingmitarbeitenden kreativ betätigen oder Geschäftspartnerschaften festigen. Bisher zogen CMOs Daten aus der Vergangenheit zurate. In Zukunft nutzen sie KI-Systeme, die auf der Grundlage von Trendanalysen, Simulationen und Prognosemodellen in eigener Regie Massnahmen vorschlagen. Das erlaubt vorausschauende, szenarienbasierte und umsatzgerichtete Entscheidungen. KI-Agenten liefern wertschöpfungsübergreifende Erkenntnisse, von der Produktentwicklung über Umsatzprognosen bis hin zur Finanzplanung. Die Aufgabe des CMO besteht darin, diese Entscheidungen zu validieren und dafür zu sorgen, dass sie mit den Unternehmenszielen übereinstimmen. Beispielsweise simuliert ein KI-Agent mehrere Markteintrittsstrategien, empfiehlt ein Preismodell auf Basis von Echtzeitinformationen der Konkurrenz und sagt voraus, welche Zielgruppen am ehesten wechselbereit sind. Der CMO und sein Team wählen jenes Szenario aus, das am besten zur Vision des Unternehmens passt, und kontrolliert ethische sowie markensensible Aspekte.
Mit der zunehmenden Verbreitung von KI-generierten Inhalten entwickeln sich CMOs zu Supervisoren der Markenethik. Sie geben ihren KI-Agenten klare ethische Rahmenbedingungen und Markenschutzvorschriften vor. Sie setzen Überwachungstools ein, die markenfremde oder sensible Inhalte in Echtzeit kennzeichnen. Die Tools werden von Eskalationsprotokollen und vorab genehmigten Reaktionsrichtlinien flankiert. KI-Agenten lassen sich darauf trainieren, eine gewisse Tonalität einzuhalten und Voreingenommenheit zu erkennen. Das Marketingteam als menschliche Aufsicht stellt Verantwortlichkeit und strategische Ausrichtung sicher. Damit bewahren CMOs das Vertrauen in ihre Marken, sichern das Image ab und reagieren bei Bedarf sofort.
CMOs müssen eine umfassende Struktur zur Messung und Berichterstattung über die Leistung ihrer KI-Systeme aufbauen. Einzig KI-Agenten im Marketing einzuführen, greift zu kurz. Darüber hinaus sind realistische Leistungsindikatoren erforderlich, die das Wertschöpfungsdelta der KI-Systeme abbilden. Solche Kennzahlen messen nicht nur Impressions oder Engagement, sondern Nutzenkriterien wie die Geschwindigkeit autonomer Kampagnen, die dynamische Personalisierungsrate, die Reduktion des manuellen Aufwands oder die Genauigkeit beim Erkennen neuer Kundensegmente. Weitere Indikatoren bewerten, wie effektiv KI-Agenten Multi-Channel-Erlebnisse orchestrieren und so eine nahtlose Customer-Journey von der digitalen Werbung bis zur Beratung nach dem Kauf gewährleisten. Damit CMOs die Leistung, Ethikkompatibilität und Markenkongruenz von KI-Agenten überwachen und sicherstellen können, brauchen sie transparente, automatisierte Echtzeit-Reportingsysteme.
Kurz und bündig
KI-Agenten stossen im Marketing einen anspruchsvollen Wandel an. Dieser ist keine einmalige Transformation, sondern verlangt von den CMOs, dass sie kontinuierliches Lernen, Organisationsentwicklung und adaptive Strategien in ihren Abteilungen verankern. CMOs hüten nicht mehr nur die Marke oder boosten den Umsatz, sondern schaffen eine anpassungsfähige, KI-integrierte Kultur. Diese etabliert Upskilling, Experimentierfreudigkeit und ethische Disziplin im Geschäftsmodell. Zukunftsbewusste CMOs schaffen Systeme und Umgebungen, die zunehmend von KI-Agenten gesteuert werden, Markenkonsistenz und einen messbaren Mehrwert bringen. Die eigentliche Herausforderung liegt wohl weniger in der Einführung neuer Tools als im Überwinden struktureller Trägheit, kultureller Widerstände und operativer Komplexität. CMOs müssen die Lücke zwischen dem schliessen, was KI kann, und dem, was ihr Unternehmen zu verantworten bereit ist. CMOs, denen dieser Brückenschlag gelingt, gestalten die Zukunft des Marketings mit. Andernfalls werden sie von genau jener Intelligenz überholt, die sie nicht nutzen.

