Wer behauptet, Wein sei Geschmacksache, hat nur halb recht. Genuss kann auch ein strukturiertes Erleben sein, eine Methodik, ein Werkzeug zur Erkenntnis. Das bewies ein Nachmittag im Restaurant Saltz des renommierten «Dolder Grand», der Kulinarik und Sensorik in ein anspruchsvolles Wechselspiel brachte.
Sechs Gänge. Jeweils vier Weine pro Gang – zwei aus der Schweiz, zwei aus Italien. Blind serviert. Bewertet. Diskutiert. Und erst am Ende aufgedeckt. Eine geschmackliche Detektivarbeit, von zwei Experten der Szene kuratiert: Roberto Scatena von Landolt Weine, früher selbst Sommelier und heute Weinberater mit sicherem Gespür für sensorisches Storytelling, sowie Yacin Mechri, Teilhaber der Vinothek Brancaia und leidenschaftlicher Netzwerker und Kenner der internationalen Weinszene.
Das Setting war klar: kein Show-Tasting, sondern ein strukturiertes Pairing mit echtem Erkenntniswert.
Für das kulinarische Fundament sorgte die Küche des «Saltz», die unter der Leitung von F&B-Supervisor Max Koldenhof nicht nur durch Präzision, sondern mit einem exquisiten Sechsgangmenü auch durch charmante Dramaturgie überzeugte.
Blindverkostung: Der ehrliche Spiegel der Sinne
Blindverkostungen haben in der Weinszene einen besonderen Stellenwert. Sie gelten als ehrlichster Test für Qualität, Stilistik und Terroirverständnis. Ohne sichtbare Flasche, Etikett oder Herkunftsangabe zählt einzig, was im Glas liegt. Diese Art der Verkostung schützt vor Vorurteilen – etwa gegenüber bekannten Namen, hochpreisigen Etiketten oder traditionellen Herkunftsgebieten. Sie fordert die Verkostenden heraus, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Farbe, Geruch, Geschmack, Struktur und Länge eines Weins. Gerade im Rahmen eines Food-Pairings wie im «Dolder Grand» zeigte sich die Bedeutung dieser Methode eindrücklich. Überraschungen waren an der Tagesordnung – nicht selten schnitten unbekanntere oder unterschätzte Weine besser ab als namhafte Vertreter. Blindverkostungen bieten eine wichtige Chance zur Standortbestimmung für Produzenten und Handel gleichermassen: Sie fördern echte Objektivität und helfen, sensorische Fähigkeiten weiter zu schärfen. Ein ehrlicherer Zugang zu Wein ist kaum möglich.
Das Endergebnis: Italien siegt mit 192 zu 168 Punkten.
Am Ende des Tages stand ein klares Ergebnis: Italien gewann vier der sechs Gänge, die Schweiz konnte zwei für sich entscheiden – darunter ein gemeinsamer Sieger bei einem Gang. Bemerkenswert: Sechs der sieben Siegerweine kamen von Landolt Weine, was sowohl für die Selektion als auch für das Fingerspitzengefühl von Roberto Scatena spricht. Der eindrücklichste Moment? Beim zweiten Hauptgang mit dem Black-Angus-Rindsfilet «Ojo de Agua» überzeugte blind der Chamaray Cornalin 2018 – ein Schweizer Wein, der Struktur, Reife und Eleganz meisterhaft vereint und für Hochgenuss im Gaumen sorgte.
Die anfangs lockere Genussrunde wurde zum konzentrierten Nachmittag mit Notizblock, Kugelschreiber und geschärften Sinnen. Die Verkostenden – von Weinfachleuten über Sommeliers bis zu Genusspublizisten – analysierten Glas für Glas. Geschwenkt, gerochen, probiert, wieder gerochen. Eindrücke wurden leise notiert, diskutiert, verworfen.
Die Spannung stieg jeweils kurz vor dem Aufdecken: Wessen Favorit war welcher Wein? Wer lag richtig? Wer hatte sich getäuscht? Schon beim ersten Gang, der Zucchettiblüte, begannen die vertieften Gespräche. Je nach Teil des Spargels harmonierten verschiedene Weine besser – ein Stück leicht karamellisierter Walnuss auf der Gabel veränderte erneut die Wahrnehmung: eine knifflige Entscheidung.
Ein zentrales Learning des Nachmittags war, wie stark einzelne Zutaten oder Zubereitungsarten die Wirkung eines Weins verändern können. Nicht nur Hauptprodukte wie Fisch oder Fleisch spielen eine Rolle – oft sind es die feinen, scheinbar nebensächlichen Komponenten, die das Pairing entscheiden. Eine Prise Salz, die Bitternote eines Kräutchens, die Säure einer Beilage oder die Cremigkeit einer Sauce können den Charakter eines Weins komplett neu wirken lassen. So war etwa beim Gang mit Zucchettiblüte und grünem Spargel zu beobachten, wie sich die Pairing-Favoriten je nach Gabelbiss verschoben: Während der Spargel die knackige Säure eines Sauvignon blanc bevorzugte, harmonierte das nussige Bouquet des Buchweizens überraschend gut mit dem Chasselas. Ebenso forderte der Gang mit Bachsaibling und Senfgurke die Weine enorm: Süsse, salzige und leicht scharfe Komponenten verlangten vom Wein eine Balance aus Frische, Körper und Aromatik.
Die Erkenntnis: Food-Pairing funktioniert nicht statisch. Jeder Teller erzählt viele kleine Geschichten – und der passende Wein muss sie begleiten können, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Ein feines, dynamisches Zusammenspiel, das viel Fingerspitzengefühl verlangt. Am Ende siegt Italien mit 192 zu 168 Punkten. Was dieser Nachmittag eindrucksvoll zeigte: Kulinarische Kompetenz ist strukturierbares Wissen, kein Bauchgefühl. Die Schweiz verfügt über Weinqualität, die mehr Sichtbarkeit verdient. Italien begeistert mit Vielfalt. Doch letztlich zählt nicht das Herkunftsland, sondern die Konstellation.
Ein kulinarisches Signal für die Branche
Dieser Event war mehr als ein Tasting: Es war ein Instrument für Positionierung, Weiterbildung, Differenzierung. Pairing als Strategie, Genuss als Entscheidungshilfe, Blindverkostung als Prüfung der Objektivität. Das «Saltz», das «Dolder Grand» und sein Team bewiesen, wie Gastgeberkultur und kulinarische Intelligenz miteinander verschmelzen können. Wer das selbst erleben möchte, dem sei ein Besuch empfohlen – sei es zum Lunch im «Saltz», abends im «The Restaurant» oder neu im «Oriental Hideaway» (Pop-up-Erlebnis vom 18. Mai bis 9. August), wo Küchenchef Firas El-Borji Aromen aus dem Nahen Osten in Szene setzt. Dieser Nachmittag war mehr als ein gastronomisches Ereignis. Er war ein Beweis dafür, dass Differenzierung im Glas beginnt. Dass Genuss Erkenntnis sein kann. Und dass, wer Geschmack hinterfragt, an Klarheit gewinnt – und manchmal auch einen neuen Lieblingswein entdeckt.
Dieser Artikel ist im Millionär, dem Magazin der Handelszeitung, erschienen (Juni 2025).