Fast die Hälfte aller Beschäftigten in der Schweiz nahm im vergangenen Jahr an mindestens einer beruflich orientierten Weiterbildung teil. Das ist sicherlich ein guter Wert und zeigt, welche Bedeutung Unternehmen der aktuellen fachlichen Kompetenz ihrer Mitarbeitenden beimessen. Und im Zeitalter des Fachkräftemangels ist Weiterbildung des bestehenden Personals oft die Lösung, um Engpässe zu vermeiden. Weiterbildung hat sich zudem als Instrument des Employer Branding etabliert; wie der Schweizerische Verband für Weiterbildung (SVEB) festhält. Unternehmen steigern damit ihre Attraktivität. Entsprechend gilt als besonders innovativ, wer seinen Mitarbeitenden nicht nur im engeren Sinn berufliche Weiterbildung anbietet, sondern für sie auch die Möglichkeit schafft, sozusagen über den Tellerrand hinaus Neues kennenzulernen.

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Der Autor

Ronald Schenkel, freier Journalist mit Schwerpunkt Weiterbildung und ständiger Mitarbeiter des Thinktanks «Transit» des Schweizerischen Verbands für Weiterbildung, Zürich.

 

Am Anfang eines neuen Lernens

Vermutlich aber stehen wir erst am Anfang einer eigentlichen Neubeurteilung dessen, was berufliche Weiterbildung beziehungsweise Weiterbildung in Unternehmen bedeutet. Viele Unternehmen sehen sich heute dazu gezwungen, ihre Strukturen in Richtung agiler Organisation zu verändern. Sie tun dies nicht ohne Not. Einige Schweizer Unternehmen stehen schon lange in einem globalen Konkurrenzkampf. Die Digitalisierung hat dies nun auch für Branchen zu einer Realität gemacht, die früher in einer Nische mit lokalen Märkten agieren konnten. Nicht zuletzt für die Weiterbildungsbranche selbst ist dies zu einer neuen Wirklichkeit geworden, wie verschiedene Branchenvertreterinnen einräumen.

Eine agile Organisation ist gleichzeitig eine lernende Organisation. Mitarbeitende tragen nicht allein in der täglichen Aufgabenerfüllung mehr Verantwortung. Sie sind auch viel stärker in die Entwicklung von Produkten, Kundenbeziehungen und anderen Innovationsbereichen des Unternehmens eingebunden.

50 Prozent von allen Beschäftigten in der Schweiz nahmen grob geschätzt 2023 in irgendeiner Form an der Weiterbildung teil.

 

Mehr und mehr lernen

Der Weiterbildungsbedarf in einer agilen Unternehmung dürfte bei weitem übersteigen, was man Mitarbeitenden in traditionellen Betrieben zugestand. Es ist keine neue Erkenntnis, dass das Weiterbildungswesen des letzten Jahrtausends längst ausgedient hat. Damals wurden Seminare eher im Sinne einer Auszeit besucht, ohne wirklich an einen Transfer des Gelernten in die Arbeitsrealität zu denken. Doch auch die Vorstellung, Weiterbildung sei etwas von der eigentlichen Arbeitszeit Abgekoppeltes, ja von der Arbeit im engeren Sinn Separiertes, ist wahrscheinlich überholt. Die neue Realität tendiert eher zu Weiterbildungen in kleineren Einheiten direkt am Arbeitsplatz und als eigentlichem Bestandteil der Tätig-keit – Lernen und Arbeiten im engeren Sinn greifen immer mehr ineinander. Künstliche Intelligenz wird mehr und mehr zum Lernbegleiter; Chatbots übernehmen Funktionen bei der Bewältigung von Lernstoffen – und ersetzen unter Umständen Trainerinnen und Trainer. So gesehen wird auch das selbstgesteuerte Lernen zur vielleicht dominierenden Form der Weiterbildung.

 

Scheitern am Text

Selbstgesteuertes Lernen hat viele Vorteile – vorab für die Unternehmen. Es ist die deutlich kostengünstigere Form der Weiterbildung als der Besuch von Kursen oder das Engagement von betriebsexternen Trainerinnen und Trainern. Zudem können Mitarbeitende zeit- und ortsungebunden lernen.

Mit seinem Thinktank «Transit» (www.thinktank-transit.ch) beleuchtet der SVEB Themen zur Zukunft der Weiterbildung. Dazu gehören auch der Einfluss von KI und von selbstgesteuertem Lernen auf die Weiterbildung. «Transit» verweist dabei auf Probleme, die nicht vom Enthusiasmus von KI-Jüngern ausgeblendet werden dürfen.

Dazu gehört auch die Kompetenz, überhaupt lernen zu können. Lerncoach Katrin Piazza beispielsweise begegnen immer wieder gestandene Berufsleute, die am Selbstlernen scheitern. Nicht selten ist es etwas vermeintlich Banales wie etwa die Lesekompetenz, die fehlt. «Die Leute möchten einen Fachtext wie einen Roman lesen. Sie investieren zwar viel Zeit darin, nehmen jedoch das Wesentliche nicht mit.» Oder aber sie schaffen es nicht, ihre Lerneinheiten in der bereits durchgetakteten Arbeitswoche unterzubringen oder sie tatsächlich zur geplanten Zeit durchzuführen. Manche sitzen am Ende der vorgesehenen Zeit vor einem Berg unerledigter Lerneinheiten.

Das ist nicht allein frustrierend für die Lernenden, es setzt sie auch zusätzlich unter Druck. An wen können sie sich in einer solchen Situation wenden? Die wenigsten werden ihr Unvermögen, das sie selbst oft nicht verstehen, so ohne weiteres gegenüber ihren Vorgesetzten oder dem HR einräumen – umso weniger, wenn in einem Unternehmen mit agiler Organisationsform jene brillieren, die mit Innovation am leichtesten umgehen können. Doch da Lernkompetenz zu einer grundlegenden Voraussetzung der Arbeitsleistung wird, muss auch sie gefördert werden.

Zu glauben, dass nachkommende Generationen dies in ihrem Schulrucksack mitbringen, wäre naiv. Die Schule fördert Lernkompetenz kaum. Früher oder später werden Unternehmen merken, dass die Weiterbildung ihrer Mitarbeitenden noch einen Schritt weitergehen muss – eben in Richtung Stärkung der Lernkompetenz. Eigentlich ist das etwas Grundsätzliches, vielleicht eine Grundkompetenz, die man ganz einfach noch nicht in ihrer umfassenden Bedeutung erkannt hat. Aber die Zeit scheint nun reif dafür zu sein.