Es ist das grösste Trendthema, flösst aber auch massiv Angst ein: Artificial Intelligence (AI) dringt immer stärker in die Arbeitswelt ein. Zum BILANZ-Jubiläum wagt ein Experte einen Blick in die Zukunft: AI-Firmengründer Chris Boos. Seine Botschaft: Fürchtet euch nicht!

BILANZ wird 40 Jahre alt. Wenn Sie weitere 40 Jahre nach vorn schauen: Haben die Maschinen dann die Menschen ersetzt?

Chris Boos: Die Maschinen ersetzen die Menschen nur bei Tätigkeiten, welche diese selbst nicht mehr machen wollen. Das ist ein grosser Fortschritt. Artificial Intelligence gilt als «Next Big Thing».

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Doch die Angst ist gross, dass die Maschinen den Menschen bald überlegen sein werden.

Das sehe ich überhaupt nicht. Wir sind weit davon entfernt, das menschliche Bewusstsein zu entschlüsseln. Dass Maschinen ein eigenständiges Bewusstsein entwickeln und dann dem Menschen überlegen sind, bleibt ein Horrorszenario, das weit von der Realität entfernt ist. Ich bin seit einigen Jahren in dem Geschäft, wir sind eine kleine Szene, jeder kennt jeden. Und niemand hält es für möglich, eine Maschine zu entwickeln, die dem Menschen überlegen ist. Künstliche Intelligenz wird nie mehr können als der Mensch, der sie erschafft. Maschinen können einen Rembrandt malen, aber keinen Kubismus erfinden. Der Mensch hat Kreativität und Innovationskraft. Das macht ihn auch in 40 Jahren noch jeder Maschine überlegen. 

Was kann künstliche Intelligenz denn genau? 

Sie kann jede Arbeit, die heute von einem Menschen erledigt wird, übernehmen, und das in den meisten Fällen effizienter. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass Maschinen auf Augenhöhe mit uns funktionieren. Das ist schon eine grosse Umstellung. 

Aber macht sie uns nicht alle arbeitslos?

Das glaube ich überhaupt nicht. Bisher sind sehr viele Menschen mit Tätigkeiten beschäftigt, die auch von Maschinen erledigt werden können. Wenn die Maschinen diese Arbeit übernehmen, ist das Fortschritt: Wir empfinden es ja auch als positiv, dass heute keine Kohlearbeiter mehr Kohlestaub einatmen müssen. Je mehr wir uns der maschinentauglichen Tätigkeiten entledigen, umso mehr können wir uns um die wahren Probleme kümmern: Erderwärmung, Ressourcenknappheit, Verhinderung von Kriegen. Heute arbeiten daran viel zu wenige Menschen.

Sie leiten den grössten Anbieter für künstliche Intelligenz in Europa. Was leisten Sie konkret?

Wir können mit unserem System die Effizienz bestehender Systeme verbessern. Ein Beispiel: Wie kann eine Telekomfirma die Leistungsfähigkeit ihrer Netze steigern, ohne die Strassen aufzureissen? Wir nehmen die Erfahrungen der Kunden und bringen sie mit unserem System zusammen. Ein anderes Beispiel: Bisher nutzt ein Hersteller seine Fabrik nur zur Herstellung von Kühlschränken. Mit unserer Hilfe könnte er sie auch für die Autoproduktion nutzen.

ABB-Chef Ulrich Spiesshofer gewährte Ihnen beim WEF als Stargast einen 45-minütigen Auftritt bei seinem Empfang.

Seit dem zweiten Halbjahr 2017 ist das Interesse an AI-Anwendungen massiv gestiegen. Für Industriekunden ist es ein grosses Thema, dass ihre Roboter besser ausgelastet und vielfältiger eingesetzt werden. Wir freuen uns sehr, da mit ABB eng zusammenzuarbeiten. Auch die UBS ist ein grosser Kunde. Wir steuern hier bereits den IT-Infrastrukturbetrieb. Jetzt wollen wir unser System auf andere Bereiche übertragen, etwa den Investmentprozess. 

Ihr System nennt sich Hiro, das steht für «Human Intelligence Robotically Optimized»: Was hat man sich darunter vorzustellen? 

Das System arbeitet wie ein sehr schlauer Trainee. Er kommt unbefangen in eine Firma oder eine Branche und kennt sich vielleicht noch nicht mit der Materie aus. Aber wenn man ihm etwas beibringt, arbeitet er unermüdlich, emotionsfrei und fehlerlos. Die Unternehmen geben ihre Erfahrung an unsere Maschine weiter, aber das Wissen bleibt komplett bei ihnen. 

Lässt sich das nicht besser vermarkten?

Langfristig wollen wir Unternehmen dazu bringen, dass sie Wissen austauschen oder einander verkaufen, weil es ineffizient ist, das Rad überall selbst neu zu erfinden. Wir wollen Wissen zu einem handelbaren Gut machen. Da sind wir aber noch nicht.

Wie viele Kunden haben Sie?

Wir haben Dutzende grosser Kunden aus den verschiedensten Industrien. Viele von ihnen verwenden unsere Anwendungen allerdings mit ihren Kunden, sodass insgesamt eine deutlich grössere Zahl von Firmen von unseren Anwendungen profitiert. 

Sie haben Ihren Sitz im kaum als Technologie-Metropole bekannten Frankfurt. Ist es nicht ein Nachteil, nicht im Silicon Valley zu leben? 

Ich habe im Valley gelebt, aber die Lebensqualität in Europa ist viel höher. In einer Flugstunde sind Sie in einem anderen Kulturraum, ich kann die Kinder an eine öffentliche Schule schicken und muss nicht in abgeschotteten Vierteln wohnen. Wir haben eine Niederlassung im Valley in Redwood City, aber die Entwicklung betreiben wir in Frankfurt am Main. 

Bringt das auch Vorteile?

Im Silicon Valley geben sich die Entwickler schnell mit einem Prototyp zufrieden. Unsere deutsche Ingenieursmentalität ist nicht nur gründlicher, sondern will die Sachen auch wirklich zu Ende bauen und die Anwendung demonstrieren. Das ist ein Vorteil.

Wer sind Ihre Konkurrenten?

Weltweit beschäftigen sich etwa 40 Firmen mit künstlicher Intelligenz, davon stehen allerdings 30 unter Regierungseinfluss und sind vor allem im Forschungsbereich tätig. Etwa zehn arbeiten wie wir in der praktischen Anwendung. Vier davon sind im Silicon Valley, vier in China, eine in Russland – und wir hier in Frankfurt.

Ist der AI-Hype überzogen?

Der Hype ist da, und ich finde ihn anstrengend. Aber seit Mitte letzten Jahres hat sich bei vielen Firmen wirklich die Erkenntnis durchgesetzt: Wir müssen das anwenden, und zwar jetzt.

Pioneer aus Frankfurt

Der 45-jährige Chris Boos, fast blind und Albino, studierte Computerwissenschaften in Darmstadt und an der ETH und gründete 1995 in Frankfurt die Firma Arago - laut eigenen Angaben der grösste europäische Anbieter für Artificial-Intelligence-Lösungen. Arago beschäftigt 130 Mitarbeiter in Deutschland, England, Indien und den USA. Der Investor KKR hält mit einem zweistelligen MIllioneninvestment einen Minderheitsanteil.

Dirk Schütz
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