Martin Lenz ist erleichtert. Am 6. November ist er nicht mehr Vorstandschef eines börsennotierten Unternehmens. Einen Tag zuvor wird die Aktie des Münchener Ampelanlagen-Herstellers Swarco Traffic zum letzten Mal in Frankfurt gehandelt. Der Österreicher war einer der Ersten, der den Antrag auf Delisting gestellt hat, nachdem der Bundesgerichtshof (BGH) den Rückzug von der Börse im November so leicht gemacht hat, wie sich das kaum ein Jurist vorstellen konnte. Bei Anlegern und Unternehmen schlug das ein wie eine Bombe. Experten rechnen mit Dutzenden «Börsen-Flüchtlingen», da gerade kleineren Firmen der Aufwand für eine Notierung oft zu hoch ist.

Für den BGH steht fest: Aktionäre hätten kein Anrecht darauf, dass ihre Aktie an einer Börse gehandelt wird. Das sei eine «schlichte Handels- und Gewinnchance», die nicht rechtlich geschützt sei, schreiben die Karlsruher Richter in ihrem Grundsatzurteil. Für viele Firmen, die die Lust auf die Börse schon lange verloren haben, ein Befreiungsschlag. Nicht einmal die Hauptversammlung muss zustimmen, ein einfacher Vorstandsbeschluss reicht für den Rückzug. Dieser müsse nur «im Interesse des Unternehmens» liegen.

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«Kein vernünftiges Verhältnis mehr»

Lenz ist der einzige Vorstand, der mit Reuters offen über das Delisting sprechen will: «Das war unsere Chance. Die Größe der Gesellschaft und der Aufwand für die Börsennotiz standen schon lange in keinem vernünftigen Verhältnis mehr.» 100.000 Euro im Jahr hätten die Publizitätspflichten die einst als Signalbau Huber AG an die Börse gegangene Firma gekostet, rechnet Lenz vor. Und seit 2010 die österreichische Industriellen-Familie Swarowski eingestiegen ist, braucht Lenz die Börse noch weniger als vorher.

Doch ein Herausdrängen der Kleinaktionäre über eine Zwangsabfindung, im Fachjargon Squeeze-out, ließ der Streubesitz von 6,5 Prozent nicht zu. Dazu hätte Swarowski 95 Prozent der Anteile haben müssen. Aber dorthin zu kommen, war schwer. Denn die Hürden sind hoch, die das Aktienrecht für börsennotierte Firmen aufgetürmt hat, um die Minderheitsaktionäre zu schützen. Überschreitet ein Großaktionär die 75-Prozent-Schwelle, muss er allen übrigen Aktionären ein Kaufangebot machen und eine Garantiedividende bieten. Das lässt sich notfalls vor Gericht und mit Gutachten überprüfen. Wie hoch das Angebot beim Squeeze-out ausfallen muss, ist ebenfalls klar gesetzlich festgelegt. Das treibt die Aktienkurse mitunter in die Höhe. Der italienische Versicherer Generali etwa gab rund 300 Millionen Euro aus, um die letzten paar Prozent seiner deutschen Tochter aufzukaufen.

BGH-Urteil ermöglicht «Hinausekeln»

Davor schrecken viele Unternehmen und deren Haupteigentümer zurück. Wie Swarco dümpeln sie deshalb an der Börse vor sich hin, obwohl sie dort kaum eine Rolle spielen. Doch viele Aktionäre wollen sich partout nicht von ihren Papieren trennen. Dazu zwingen kann man sie auch nach dem Karlsruher Urteil nicht - es ist eher ein «Hinausekeln», das damit ermöglicht wird. Die Aussicht, die Papiere nach dem Rückzug von der Börse allenfalls noch dem Großaktionär andienen zu können - zu dessen Bedingungen -, treibt viele in die Flucht. Viele Fonds müssen nach ihren Statuten sogar verkaufen, wenn sich die Papiere nicht mehr an der Börse handeln lassen.

Bei Investoren wie Jochen Knoesel schrillten deshalb am 12. November die Alarmglocken. Den Würzburger Fondsmanager ereilte die Nachricht aus Karlsruhe im USA-Urlaub. Für ihn ist es Teil des Geschäftsmodells, Aktien von Unternehmen aufzuspüren, für die er bald ein Übernahme- oder ein Abfindungsangebot erwartet. Sein Geschäft gelernt hat er beim Bilanzierungs-Professor Ekkehard Wenger, der lange als Vorstands-Schreck durch die Lande zog und immer noch von dem zweifelhaften Ruhm zehrt, auf einer Daimler -Hauptversammlung vom Podium getragen worden zu sein, weil er nicht aufhören wollte zu reden.

Am längeren Hebel

Sein früherer Assistent Knoesel ist heute Geschäftsführer der Vermögensverwaltung Knoesel & Ronge, die einen Fonds für sogenannte Abfindungswerte aufgelegt hat. Im besten Fall lässt sich damit mehr Geld verdienen als mit normalen Kurssteigerungen, wenn man notfalls auch bereit ist, dem Großaktionär das Leben mit Klagen schwer zu machen - oder einfach dadurch, dass man die Aktie nicht verkauft. 9,4 Prozent Rendite hat der «KR Fonds» von Juli 2012 bis Juni 2013 abgeworfen. Allerdings hat der deutsche Leitindex Dax in demselben Zeitraum sogar 24 Prozent zugelegt.

Auch britische und amerikanische Hedgefonds tummeln sich wegen der Schutzrechte für Minderheitsaktionäre gerne in Deutschland, um auf Übernahmen zu wetten. Wenn sich das Kaufangebot trotz großen Getöses nicht wie erhofft nach oben treiben lässt, behalten sie die Aktien und setzen darauf, dass die Abfindung höher ausfällt.

Doch nun sitzen plötzlich die Vorstände am längeren Hebel, denen aufwendige öffentliche Hauptversammlungen und Quartalsberichte schon lange ein Dorn im Auge sind. Hatten sie sich oft über Jahre ein Tauziehen mit Kleinaktionären geliefert, haben sie nun ein Druckmittel in der Hand: den Rückzug von der Börse. Das Sagen hat im Zweifel der Mehrheitseigentümer. «Die Initiative muss zwar rechtlich vom Vorstand kommen. Allerdings haben Großaktionäre einen hohen faktischen Einfluss», sagt Christian Kames, der das Geschäft mit Fusionen und Übernahmen bei der US-Investmentbank Citi in Deutschland leitet. «Sie können einen Vorstand, der ihre Interessen nicht vertritt, notfalls auch austauschen.»

Delisting-Anträge heiss begehrt

Es hat ein paar Monate gedauert, bis die ersten Firmen die neue Chance genutzt haben. Inzwischen hagelt es Delisting-Anträge bei den deutschen Börsen. Dort sind Aktien von mehr als tausend Unternehmen notiert. Doch dürfte der Kurszettel in den kommenden Monaten um ein gutes Stück kürzer werden. «Ich gehe davon aus, dass sich mindestens 100 Firmen in den nächsten zwölf Monaten ernsthaft ein Delisting überlegen», sagt Knoesel.

Noch sind die Antragsteller kleinere Unternehmen wie Schloßgartenbau AG, Elexis, Strabag und Schuler - doch das muss nicht so bleiben. «Die ersten Kandidaten für ein Delisting nach der neuen Rechtsprechung kommen eher aus dem Mittelstand. Große Unternehmen wollen oft nicht die ersten sein, die eine rechtliche Neuerung austesten», sagt Investmentbanker Kames. «Aber spätestens, wenn das Thema zur Normalität geworden ist, werden auch die Großen folgen.» Bei immer mehr Übernahmen werde darüber gesprochen.

So erklärte der US-Pharmahändler McKesson in seinen Übernahmeprospekt für den Kauf des Stuttgarter Rivalen Celesio, dass das Unternehmen bald vom Kurszettel gestrichen werden könne. Bei Air Berlin, seit langem am Tropf des Großaktionärs Etihad, scheiterten die Pläne für ein Delisting Finanzkreisen zufolge nur daran, dass sich nicht genügend neue deutsche Anteilseigner fanden, die die Fluggesellschaft braucht, um ihre Landerechte an deutschen Flughäfen nicht zu verlieren. Celesio und Air Berlin äußerten sich nicht zu ihren Plänen.

Keine Nachfragen

Das Beispiel von Swarco Traffic könnte diesen Firmen Mut machen, den gleichen Schritt zu gehen. Auf der Hauptversammlung Ende Juni habe es nicht eine Frage zum Delisting gegeben, wundert sich Lenz. «Das war bei den Aktionären überhaupt kein Thema.» Auch die Börse habe den Antrag rasch durchgewinkt. Die Deutsche Börse stört es nicht, wenn der Kurszettel kürzer wird, im Gegenteil: «Als Börse Frankfurt begrüßen wir die BGH-Entscheidung, weil Emittenten künftig die Gewissheit haben, dass sie sich auch wieder in einem rechtssicheren und geordneten Verfahren von der Börse zurückziehen können, sagt ein Sprecher. Für die Börsen ist der Aktienmarkt längst keine wesentliche Einnahmequelle mehr. Das Interesse, Firmen dort unbedingt zu halten, ist daher gering.

Die meisten Börsen verlangen eine Schonfrist von sechs Monaten, in der die Kleinaktionäre aussteigen können. Nur die Düsseldorfer Regionalbörse fordert ein Abfindungsangebot vom Mehrheitsaktionär, bevor sich ein Unternehmen von der Börse zurückzieht.

Das vom BGH verlangte «Interesse des Unternehmens» lässt sich leicht darlegen. Beispiel Strabag: «Aus Sicht des Vorstands ergeben sich aus der Börsennotierung keine signifikanten Vorteile für die Gesellschaft; insbesondere ist die Gesellschaft für ihre Finanzierung nicht mehr auf den Kapitalmarkt angewiesen», stellte der Vorstand des Kölner Baukonzerns in seinem Antrag fest. 93 Prozent seiner Aktien gehören der österreichischen Strabag SE. Nach diesen Maßstäben wäre auch für Air Berlin ein Delisting gut zu begründen. Frisches Kapital über die Börse einzusammeln - bei einem Kurs von 1,50 Euro faktisch aussichtslos.

Der Fliesenhersteller Deutsche Steinzeug wird noch deutlicher. Man suche schon lange einen strategischen Partner, doch wolle kein Käufer in eine börsennotierte Firma einsteigen, hieß es zur Begründung des Rückzugs. «Der Vorstand geht davon aus, diese Gespräche nach dem Wirksamwerden des Delistings mittelfristig mit mehr Erfolg führen zu können.» Mittlerweile sind es nicht nur Unternehmen mit kleinem Streubesitz, die sich von der Börse verabschieden wollen. Beim Software-Hersteller Magix hält der Mehrheitseigentümer nur 69 Prozent der Anteile. Nach der Ankündigung des Delisting-Antrags stürzte die Aktie von 3,80 auf 2,70 Euro.

Dabei dürfte das eigentlich nicht so sein, wenn man der Logik des BGH folgt. Die Karlsruher Richter stützten sich in ihrer Argumentation auf ein Gutachten des Deutschen Aktieninstituts (DAI) - der Lobby der börsennotierten Unternehmen. Dieses war zu dem Schluss gekommen, dass ein bevorstehender Rückzug von der Börse den Aktienkurs nicht beeinträchtige. Kein Wunder, sagt Knoesel. Denn bisher sei der Rückzug immer mit einem Abfindungsangebot verbunden gewesen, daher sei der Kurs nicht gefallen. Doch das gilt oft nur kurzfristig. Seit beispielsweise der schwäbische Pressenhersteller Schuler seinen Börsenabschied angekündigt hat, ist der Kurs um 20 Prozent in die Knie gegangen. «Natürlich löst ein Delisting Verkaufsdruck aus», sagt Knoesel, dessen Fonds sich mit Schuler-Aktien eingedeckt hatte.

(reuters/ccr)