Frankfurter Dichterviertel. Wo die Strassen berühmte Namen wie Grillparzer, Wilhelm Busch oder Gottfried Keller tragen, wohnt Beatrice Weder di Mauro mit Mann und Kind. An die Universität Mainz sind es nur ein paar Kilometer. Dort lehrt die Professorin seit 2001 am Lehrstuhl für Wirtschaftspolitik und Internationale Makroökonomik. Ein paar Kilometer nur sind es auch nach Wiesbaden. Dort, am Sitz des Statistischen Bundesamtes, tagt jedes Jahr im Herbst der «Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Lage», im Volksmund die «Fünf Weisen» genannt, eine Identität stiftende Institution, die zur Bundesrepublik gehört wie die Bundesliga und die deutsche Braukunst und deren Mitglied sie seit 2004 ist.

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Frankfurt, Mainz, Wiesbaden. Kleinräumig ist der Radius im beruflichen Alltag der Beatrice Weder di Mauro. Grossflächig ist das wissenschaftliche Spektrum, das die Volkswirtschaftlerin in diesem geografischen Mikrokosmos beackert. Als ordentliche Professorin erforscht sie internationale Makroökonomik, globale Kapitalflüsse, Finanzmärkte und Geldpolitik. Als Wirtschaftsweise fungiert sie als wirtschaftspolitische Beraterin der deutschen Politik und befasst sich mit nationalem Arbeitsmarkt, öffentlichen Finanzen, der sozialen Sicherung. Nationale Volkswirtschaft und globale Ökonomie reichen sich bei ihr die Hand. Der Blick über die Grenzen und lokale Verwurzelung vereinigen sich auch in ihrer Biografie.

Geboren in Basel, wächst Beatrice Weder di Mauro in Guatemala auf, wo ihr Vater im zentralamerikanischen Headquarter des Chemiekonzerns Ciba-Geigy arbeitet. Und immer wieder zieht es die Familie Weder in die Beschaulichkeit des St. Galler Rheintals, wo ihre Grosseltern in Lienz die Dorfbeiz «Leuen» führten.

BILANZ: Frau Weder di Mauro, Sie haben in Japan und den USA gearbeitet, sind in Lateinamerika zur Schule gegangen und leben nun in Deutschland. Fühlen Sie sich noch als Schweizerin?

Beatrice Weder di Mauro: Ja schon, weil meine Verwandtschaft dort lebt. Zudem sind wir in den Ferien von Guatemala immer nach Basel und ins St. Galler Rheintal gefahren.

Vom Drittweltland in die saturierte Schweiz. Hat Sie das geprägt?

Sicher, mich hat das Wohlstandsgefälle zwischen Industrie- und Entwicklungsländern beschäftigt. Das war ein Motiv, weshalb ich Wirtschaftswissenschaften studierte. Ich wollte die Gründe für die Unterschiede bei Wirtschaftswachstum und Einkommen verstehen.

Wirtschaftswachstum verstehen lernen: Dies ist eine Triebfeder für Beatrice Weder di Mauros wissenschaftlichen Ehrgeiz. Keine ideologisch fixierte Überzeugungstäterin ist da am Werk, sondern ein wissenschaftlich denkender Kopf: «Es geht um Zahlen und Empirie.» Und: «Ich habe», sagt sie, «eine makroökonomische Perspektive.» Und eine klare Meinung. Sie liebt es, ökonomische Vorurteile mit Argumenten zu zertrümmern. Als Globalisierungsgegner im Jahre 1999 in Seattle auf die Strasse gingen, die Debatte um Ungleichheit und Wirtschaftswachstum neu entfachten und skandierten, dass die Globalisierung die Reichen reicher, die Armen ärmer mache, fragte Beatrice Weder di Mauro kühl: «Wachstum und Ungleichheit – eine unverträgliche Beziehung?» Sie kommt zum Schluss: «Empirische Untersuchungen belegen, dass Volkswirtschaften mit einem höheren Offenheitsgrad stärker wachsen als solche, die weniger in den internationalen Handel eingebunden sind. Wirtschaftliches Wachstum führt zu einem höheren Bildungsstand, zu einer höheren Lebenserwartung und ist negativ mit der Rate der Kindersterblichkeit eines Landes korreliert. Dies bedeutet, dass vermehrtes Wachstum einen positiven Einfluss auf die Verringerung von Armut hat.» Und weiter: «Eine Volkswirtschaft, in der Landbesitz, Kapital und Humankapital sehr ungleich verteilt sind, wird in der Regel geringere Wachstumsraten erzielen als ein Land, dessen Ressourcen gleichmässiger auf seine Einwohner verteilt sind.» An die Adresse der Seattle-Aktivisten gewandt, erklärt sie: «Die Erkenntnisse der neueren Forschung zeigen, dass Globalisierungsgegner vor allem ärmeren Ländern einen Bärendienst erweisen. Mit ihrer Forderung nach Einschränkung des internationalen Handels versagen sie ihnen die Gelegenheit zu höherem Wachstum, was arme Bevölkerungsschichten direkt schädigt.» («Die Volkswirtschaft», 2002)

Während in den siebziger und achtziger Jahren zahlreiche europäische Drittweltbewegte auf der Suche nach Revolutionsromantik etwa nach Nicaragua pilgern, wählt die Ökonomin den Marsch durch die Institutionen. Sie berät die Regierungen in Nicaragua und Kirgistan, arbeitet bei der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds und forscht an der United
Nations University in Japan.

Nicaragua, Washington, Tokio. Die beruflichen Stationen der Beatrice Weder di Mauro zeichnen das Bild einer Ökonomin von Welt, die ihre Erfahrungen vor Ort in Forschungsarbeiten übersetzt. Über die «Wirkung von Entwicklungshilfe» schreibt sie: «Es lässt sich statistisch nicht feststellen, dass Länder, die mehr Entwicklungshilfe erhielten, sich schneller entwickelt hätten. Studien zeigen, dass jene Länder mit stabilen makroökonomischen Bedingungen (tiefe Inflation, keine überbewerteten Wechselkurse, fiskalische Disziplin) und guten Rahmenbedingungen für die Entwicklung des privaten Sektors (insbesondere durchsetzbare Vertrags- und Eigentumsrechte) sehr wohl Erfolge mit Entwicklungshilfe verzeichnen können. Wenn Entwicklungshilfe in Zukunft erfolgreicher sein soll, sollte sie schwerpunktmässig in reformwillige Länder fliessen.» («Basler Zeitung», Mai 2000)

Über das Leistungsbilanzdefizit der USA schreibt sie: «Sparen die Amerikaner zu wenig, oder spart der Rest der Welt zu viel? Das Leistungsbilanzdefizit der USA beträgt zurzeit über sechs Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP). Noch eindrücklicher ist die absolute Zahl von rund 660 Milliarden Dollar (2004). Auf der anderen Seite stehen jene Länder, die den Konsum der USA finanzieren, indem sie Leistungsbilanzüberschüsse generieren. Denn ein ehernes Gesetz besagt, dass sich die Salden aller Leistungsbilanzen weltweit auf null addieren müssen (auch wenn dies wegen statistischer Ungenauigkeiten in der Praxis nicht ganz stimmt). An erster Stelle steht Japan, das 2004 einen Leistungsbilanzüberschuss von etwa 170 Milliarden Dollar generiert hat. An zweiter Stelle steht der Nahe Osten mit einem Überschuss von 110 Milliarden Dollar. Und selbst Lateinamerika ist zum Kreditgeber geworden, indem Länder wie Brasilien oder Argentinien Überschüsse erzielen. Heute finanzieren Schwellenländer und Staaten des Nahen Ostens das reichste Land der Welt.» («Neue Zürcher Zeitung», Juli 2005)

Und über die schweizerische Zinsinsel schreibt sie: Dies ist ein Phänomen, das in dieser Form in keiner anderen Währung existiert. Die Erträge auf Anlagen in Schweizer Franken sind für die letzten 30 Jahre tiefer gewesen als in allen andern grossen Währungen, selbst wenn die Aufwertung des Frankens mit berücksichtigt wird. Mit anderen Worten: Drei Jahrzehnte lang hätte es sich gelohnt, sich in Schweizer Franken zu verschulden und in anderen Währungen anzulegen. In effizienten Finanzmärkten jedoch sollten derartige Ertragsunterschiede nicht bestehen bleiben. Als Erklärung taugt auch das Bankgeheimnis nicht, denn die Zinsinsel besteht selbst auf Anlagen in Franken, die nicht dem Bankgeheimnis unterliegen. Die Forschung zeigt, dass der Ertragsunterschied erklärt werden kann, wenn man diesen als Risikoprämie für seltene, aber katastrophale Ereignisse versteht. Die schweizerische Zinsinsel existiert exakt seit dem Ersten Weltkrieg, und dies zeigt, dass der Anleger den Franken – wenn auch nicht unbedingt die Schweiz – als sicheren Hafen einschätzt. (U.a. aus «Jahresgutachten der Kommission für Konjunkturfragen», 2004, mit Peter Kugler)

Die internationalen Kapitalmärkte als störungsanfälliger Kreislauf, eingebettet in globale und nationale Institutionen, diese Vorstellung spricht aus Beatrice Weder di Mauros Studien. Die Wirtschaftswissenschaftlerin untersucht dabei mittels moderner Methoden Ursache und Wirkung von Finanz- und Währungskrisen, und die Wissenschaft hat die Schrauben für das geregelte Funktionieren des ökonomisch-institutionellen Komplexes einzustellen. Insofern ist ihr wissenschaftlicher Ansatz lösungsorientiert und praktisch ideologiefrei.

Als Beatrice Weder di Mauro Ende Juni 2004 in den Sachverständigenrat der deutschen Bundesregierung gewählt wurde, bekam sie ganz andere Etiketten umgehängt. «Jung, weiblich, undogmatisch», titelte etwa der «Spiegel», «modern», die «Frankfurter Allgemeine», «ausgewogen und angepasst», urteilte die «Zeit». Und die deutsche Öffentlichkeit rätselt seitdem darüber, ob mit Weder di Mauro nun eine Keynesianerin, eine Angebotstheoretikerin oder gar eine Neoliberale in das prominenteste Beratergremium des Landes gewählt worden ist.

BILANZ: Nach Ihrer Berufung verengte sich die öffentliche Debatte auf die Frage, ob Sie nun eine Anhängerin von John Maynard Keynes seien oder doch eine Angebotstheoretikerin. Was stimmt?

Beatrice Weder di Mauro: In Deutschland tut man in vereinfachenden Darstellungen so, als existierten diese unabhängig voneinander. In der Realität ist es so, dass Angebot und Nachfrage eine Rolle spielen. Aber es geht ja immer darum, die richtige Analyse zu machen und daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Auf einer dogmatischen Ebene geht dies mit Sicherheit nicht.

Ist dies typisch deutsch?

Ich weiss nicht, warum in Deutschland die Diskussion immer wieder so polarisiert. Sicher ist nur, dass in anderen Ländern die Trennung von Angebots- und Nachfragepolitik in dieser Form nicht existiert.

Warum haben Sie den Job übernommen?

Ich habe mich mehrere Jahre hauptsächlich der Forschung gewidmet. Die Anfrage kam in einem Moment, wo ich mich wieder stärker auf die Wirtschaftspolitik konzentrieren wollte. Gesucht war ein Kopf, der auf Geld- und Währungspolitik und internationale Wirtschaftsbeziehungen spezialisiert ist. Das ist mein Gebiet.

So wird Beatrice Weder di Mauro zusammen mit ihren vier Kollegen Anfang September wieder in Klausur gehen, um das rund 700-seitige Gutachten zu Papier zu bringen. Die traditionell im Statistischen Bundesamt tagende «Professoren-Wohngemeinschaft», so die «Süddeutsche Zeitung», bestehend aus vier Männern und einer Frau, fünf eigenwilligen ökonomischen Geistern, wird sich in endlosen Diskussionen auf gemeinsame Positionen einigen müssen und «ein Regierungsprogramm» verfassen, so Beatrice Weder di Mauro. Kein Ferienlager wartet da auf Deutschlands führende Ökonomen, eher der Muff eines Internats. Die Böden im Gebäude der Statistiker sind mit schwarzem Linoleum ausgelegt, und noch im vergangenen Jahr existierte dort ein Paternoster, der ähnlich betagt gewesen sein dürfte wie der Rat selbst: 41 Jahre. Jetzt wird das Gebäude renoviert, und so werden die weisen Köpfe ihre Debatten zum Gutachten, Ausgabe 2005, in einem moderneren Gebäude in der Nachbarschaft ausfechten. In den Zeiten intensiver Beratung im Herbst herrscht striktes Sprechverbot nach aussen, und im Innern entwickelt sich jener «denkschulenübergreifende Korpsgeist», so die «Süddeutsche Zeitung», der dem Gutachten wissenschaftliche Kontur verleiht.

BILANZ: 2004 haben Sie erstmals bei einem Gutachten mitgeschrieben. Ihre Erfahrungen?

Beatrice Weder Di Mauro: Die Erstellung des Gutachtens ist eine ganz spezielle Situation. Mit einer sehr grossen Ernsthaftigkeit wird versucht, gemeinsam ein Produkt vorzulegen, das für Deutschland relevant ist. Das bedingt intensive Diskussionen über die Ausrichtung und über die Texte. Es ist ja ein Gutachten zuhanden der Regierung, das nicht mit der Regierung verhandelt wird.

Welches waren die Kernpunkte im vergangenen Jahr?

Ein wesentlicher Punkt war die soziale Sicherung. Es geht um die Frage, wie Gesundheitssystem und Pflegeversicherung reformiert werden müssen. In der Fiskalpolitik sind Vorschläge zur Reform des Finanzföderalismus und zur Reform des Steuersystems gemacht worden. Wir beschäftigten uns aber auch mit der Frage, wie es um die Wettbewerbsfähigkeit des Landes steht.

Drängend ist die Reform des Gesundheitssystems. Was ist zu tun?

Wir schlagen eine ähnliche Prämienlösung wie in der Schweiz vor. Das heisst: Abkopplung der Arbeitskosten von den Kosten der Gesundheit, hin zu einer Bürgerprämie, bei der pro Person eine durchschnittliche Pauschale bezahlt wird mit einer zusätzlichen Abfederung über das Steuersystem, die den sozialen Ausgleich berücksichtigt. Heute wird das Gesundheitssystem über einen Aufschlag auf die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung finanziert. 14 Prozent der Lohnnebenkosten sind für die gesetzliche Krankenversicherung reserviert. Da die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung laufend abnimmt, wird das Gesundheitssystem von immer weniger Menschen finanziert.

Wie soll der soziale Ausgleich berappt werden?

Eine Bürgerprämie würde zwischen 170 und 190 Euro pro Kopf betragen, je nachdem, ob die Kinder eingeschlossen sind. Will man sicherstellen, dass die Gesundheitskosten den heutigen Anteil am Einkommen nicht übersteigen, würde dieser soziale Ausgleich rund 16 Milliarden Euro kosten. Dies entspricht zwei Mehrwertsteuer-Prozentpunkten.

Also Mehrwertsteuer rauf?

Nicht so schnell. Zunächst gilt es zu prüfen, ob nicht bei den Ausgaben Kürzungen möglich sind. Die Grundidee, den Faktor Arbeit zu entlasten und die Lohnnebenkosten zu senken, ist sicher richtig. Aber meiner Meinung nach sollte auch die Ausgabenseite viel genauer unter die Lupe genommen werden. Man ist da sehr schnell in Richtung Steuererhöhung gegangen. Zudem weckt eine Steuererhöhung viele Begehrlichkeiten. Heute sieht es danach aus, als sollte die Mehrwertsteuer auch noch dafür verwendet werden, Haushaltslöcher zu stopfen.

Eine höhere Mehrwertsteuer bedeutet auch eine Steuererhöhung.

Ja, sicher. Es sollen jedoch gleichzeitig die Lohnnebenkosten gesenkt werden. Die Idee der Umfinanzierung ist die, dass Umverteilung über das Steuersystem und nicht über soziale Sicherungssysteme gemacht werden soll. Das macht Sinn, denn Umverteilung gehört in das Steuersystem. Dann kann man sich auch darüber unterhalten, wie viel Umverteilung man tatsächlich will.

Kann sich Deutschland das leisten? Die Wachstumsdynamik ist schwach, die Arbeitslosigkeit hoch.

Genau darum geht es. Die hohe Arbeitslosigkeit hat damit zu tun, dass die Lohnnebenkosten so hoch sind. Hinzu kommt, dass der Arbeitsmarkt sehr inflexibel ist. Um die Wachstumsdynamik zu verbessern, sind Reformen auf dem Arbeitsmarkt dringend. Zusätzlich müssen in den sozialen Sicherungssystemen grosse Umstellungen gemacht werden. Zur langfristigen Sicherung des Rentensystems gehört auch, dass das Pensionseintrittsalter erhöht werden muss.

Die starken Gewerkschaften wehren sich jedoch gegen jegliche Reform des Arbeitsmarktes.

Deutschland wird nicht darum herumkommen, weitere Flexibilisierungen einzuführen. Ein Beispiel sind die betrieblichen Bündnisse, wie sie jetzt vorgeschlagen sind. Das sind noch zaghafte Schritte. Auch eine Lockerung des Kündigungsschutzes muss kommen.

Wollen Sie die Tarifautonomie der Gewerkschaften abschaffen?

Die Frage ist, ob man so weit gehen muss. Den Flächentarifvertrag gleich abzuschaffen, wird wohl nicht nötig sein. Aber wir müssen zu einer dezentraleren Lohnfindung kommen. In der Schweiz etwa existieren GAV neben betrieblichen Lösungen. Dadurch ist der Arbeitsmarkt in der Schweiz wesentlich flexibler und funktioniert bei ähnlich geringen Wachstumsraten wie in Deutschland trotzdem wesentlich besser. Deutschland kann in diesem Punkt von der Schweiz lernen.

In der Tat leidet Deutschland an Reformstau und politischer Blockade. Die rot-grüne Koalition, 1998 unter Kanzler Gerhard Schröder angetreten, verlor bereits im Jahr darauf nach Landtagswahlen in Brandenburg und im Saarland ihre Mehrheit im Bundesrat, die Arbeitslosenzahlen stiegen Anfang 2005 auf über fünf Millionen, Reformprojekte von der Agenda 2010 bis Hartz IV verpuffen weitgehend. Als Ende Mai auch das bevölkerungsreichste Land, Nordrhein-Westfalen, nach Jahrzehnten sozialdemokratischer Regierung ins Lager der Union umschwenkte, sah Schröder angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Länderkammer keine Chance mehr, seine Reformpolitik weiterzuführen. Er kündigte Neuwahlen an.

Seither befindet sich das Land im Wahlkampf, und Angela Merkel, die Kanzlerkandidatin der Union, wähnt sich in Sichtweite des Kanzleramtes. Grosse Worte über notwendige Reformen sind von ihr jedoch nicht zu hören. Zu sehr fürchtet sie, vom Wähler kurz vor der Ziellinie noch abgefangen zu werden, als dass sie ein radikales Reformprogramm propagieren würde. Stattdessen serviert sie Lauwarmes: Kündigungsschutz aufheben? Ja, doch – aber nur für KMU; bei grösseren Unternehmen könnten Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Kündigungsschutz durch eine Abfindung ersetzen. Einkommenssteuer senken? Sicher schon – eine Nettoentlastung ist allerdings nicht vorgesehen. Und schliesslich will Merkel die Maastricht-Kriterien bis spätestens 2009 wieder einhalten können. Wie sie das Staatsdefizit auf höchstens drei Prozent des BIP absenken will, hat die Kandidatin der Nation nicht mitgeteilt. «Einen Konsens über die Radikalität der anstehenden Reformen gibt es nicht», urteilt der «Spiegel» über den Reformeifer der Union, und mit Angela Merkel stehe eine «Reformerin light» an der Spitze.

BILANZ: In Deutschland reden alle von Reformen. Keiner setzt sie durch.

Beatrice Weder di Mauro: Ich hoffe, dass Deutschland eine Chance für mutige Reformen hat, die wesentlich über das hinausgehen, was heute angekündigt ist. Die Erkenntnis, dass etwas passieren muss, ist weit verbreitet. Die Reformvorschläge innerhalb der beiden grossen Volksparteien gehen ja auch in eine ähnliche Richtung.

Wieso geht es denn nicht voran?

Alle Parteien identifizieren nur einen minimalen Manövrierraum im Staatshaushalt. Das ist ein Grundproblem. An Leistungs- und Ausgabenkürzungen wagt sich keine Partei wirklich ran. Da der Wille zum Sparen nicht wirklich vorhanden ist, ist da wenig zu holen.

Ist es für den Sachverständigenrat von Belang, ob ein Regierungswechsel kommt?

Für den Sachverständigenrat ist es nicht wirklich relevant, welche politischen Parteien die Regierung stellen, da wir ein unabhängiges Gremium sind. Unsere Vorschläge werden für jede Regierung dieselben sein. Allerdings ist es für unsere Arbeit mit Sicherheit kein Nachteil, wenn auf Grund von klaren politischen Mehrheitsverhältnissen offensiv Reformvorschläge umgesetzt werden können.

Bei welcher Regierung sehen Sie Ihren Gestaltungsfreiraum grösser?

Das ist schwer zu sagen. Sicher hängt vieles davon ab, ob die Blockade zwischen Bundestag und Bundesrat überwunden werden kann.

Wo sehen Sie den grösseren Reformwillen: bei der SPD oder der CDU?

Ich sehe einen zunehmenden Konsens bei allen grösseren Parteien, dass weitere einschneidende Reformschritte nötig sind. Das Entscheidende ist, dass sie nach der Wahl auch durchgesetzt werden. Welche Parteien auch immer die neue Regierung stellen werden: Ein neues Kabinett wird beweisen müssen, dass es ihm ernst ist mit Reformen in Deutschland.

Politische Blockaden in Deutschland, politische Blockaden in Europa. Der britische Premier Tony Blair liess Mitte Juni den EU-Gipfel in Brüssel platzen, indem er drastische Agrarkürzungen im EU-Haushalt forderte. Damit biss er bei den zentraleuropäischen Ländern rund um Deutschland und Frankreich auf Granit. Eine gemeinsame Vision von Europa scheint Engländern, Deutschen und Franzosen abhanden gekommen zu sein.

BILANZ: Sehen Sie einen wirtschaftspolitischen Konsens zwischen den Etatisten Zentraleuropas und dem liberalen Marktwirtschaftler Blair?

Beatrice Weder di Mauro: Es ist nicht sehr zielführend, einfach das angelsächsische Wirtschaftsmodell mit dem zentraleuropäischen Modell zu kontrastieren oder Englands Wirtschaft mit der Frankreichs, Italiens oder Deutschlands zu vergleichen. Das hat einen nationalistischen Beigeschmack. Entscheidend ist das wirtschaftliche System in den verschiedenen Ländern. Da steht ein stärker markwirtschaftliches System einem andern gegenüber, in dem der Staat sehr viel umfangreichere Aufgaben übernimmt und aktive Industrie- oder Arbeitsmarktpolitik betreibt. Dieser Gegensatz ist die relevante Dimension in dieser Frage.

Was folgt daraus?

Richtig ist, dass sich England vor zwanzig Jahren in einer Dauerdepression befunden hat und seither eine sehr gute wirtschaftliche Entwicklung vorweisen kann. Das hat mit den Marktkräften zu tun, die auf der Insel entfesselt worden sind. Daraus speist sich auch das Selbstbewusstsein von Tony Blair.

Also gilt es, das angelsächsische Modell zu kopieren?

Kopieren nicht unbedingt. Aber auch in Ländern, die sich als soziale Marktwirtschaften verstehen, wird die individuelle Verantwortung zunehmen müssen. In Deutschland passiert derzeit vieles, vieles zugegebenermassen unter Zwang. Etwa die Privatisierungen, die auch deshalb durchgeführt werden, um das Haushaltsdefizit nicht noch grösser werden zu lassen. Auf dem Arbeitsmarkt sind die Systemunterschiede zu England aber virulenter. Wenn Blair beim letzten EU-Treffen die gemeinsame Agrarpolitik reformieren wollte, hat er damit Recht: Diese Reform muss kommen.

Zahlreiche EU-Mitglieder wehren sich ja gegen jede Kürzung der Agrarsubventionen aus dem EU-Topf. Können diese Widerstände gebrochen werden?

Nicht morgen oder übermorgen. Aber in der Tendenz wird der Agrarteil am EU-Budget weiter abnehmen.

Was macht Sie so sicher, dass sich die EU-Länder wieder zusammenraufen werden?

Es gibt für Europa keine wirkliche Alternative. Sicher ist es ein Problem, dass gerade die EU-Kernländer so langsam wachsen. Überdies hinken insbesondere Kernländer wie Frankreich und Italien in den Strukturreformen hinterher. Die EU hat eine Intensivierung des Wettbewerbs gebracht, innerhalb der EU, aber auch von aussen her durch die Globalisierung. Und in dieser Intensivierung des Wettbewerbs werden die alten Strukturen im Arbeitsmarkt und der Sicherung der Sozialsysteme immer problematischer. In Deutschland kommt der Sonderfaktor der Wiedervereinigung dazu, der nicht unterschätzt werden darf, wenn man die Wachstumsdynamik Deutschlands beurteilen will. Die Wiedervereinigung hat bislang mehr als eine Billion Euro gekostet. Das muss eine Volkswirtschaft erst einmal bewältigen können.

Hinzu kommen aber die Transferzahlungen innerhalb der EU in die neuen Beitrittsländer.

Nein, das kann man beim besten Willen nicht vergleichen. Das Budget der EU umfasst lediglich ein Prozent des summierten Bruttoinlandprodukts sämtlicher EU-Mitgliedsländer. Insofern stellen die Transferzahlungen an die strukturschwachen EU-Regionen kein wirkliches finanzielles Problem dar. Das wird gewaltig überschätzt. Zum Vergleich: Jeder einzelne Staat verteilt innerhalb seiner Grenzen 30 bis 50 Prozent seines BIP um. Deutschland beispielsweise hat eine Staatsquote von rund 47 Prozent.

Wirtschaftsschwäche und politische Labilität prägen derzeit die alten Mitgliedsländer. Ist da die massive geografische Ausdehnung der EU zu verkraften?

Die neuen EU-Länder bringen viel Dynamik. Sie sind deutlich ärmer als die alten Mitgliedsstaaten und machen nun einen Aufholprozess durch. Die stärkere wirtschaftliche Integration führt zu mehr Wettbewerb, und das ist für die alten EU-Länder letztlich positiv. Das zeigt auch der zunehmende Steuerwettbewerb, und der Druck auf Reformen der Unternehmensbesteuerung nimmt dadurch zweifellos zu.

Auch in der Schweiz läuft eine Reformdebatte. Spiegelbild davon ist die zunehmende Polarisierung im politischen Diskurs. Haben neoliberale Kreise nach der letzten Bundesratswahl auf Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz gesetzt und einen starken Deregulierungsschub erhofft, scheint die Schweiz nun politisch ähnlich blockiert wie Deutschland. Mehr noch: Die SVP driftet nach rechts, in der FDP haben unter dem neuen Präsidenten Fulvio Pelli die Linksfreisinnigen Oberwasser.

BILANZ: Leidet die Schweiz an einem ähnlichen Reformstau wie Deutschland?

Beatrice Weder di Mauro: Die Schweiz hat viele Probleme nicht, mit denen Deutschland kämpft. Was etwa den Arbeitsmarkt anbelangt, ist die Schweiz in einer viel besseren Situation. Dafür sind andere Probleme ungelöst. Beispielsweise im Binnengütermarkt.

Was ist zu tun?

Die Frage ist: Kann die Schweiz die Wettbewerbsintensivierung, die in Europa stattgefunden hat, autonom nachvollziehen? Es ist klar, dass die Schweiz in diesen Gebieten im Verhältnis zu den EU-Ländern einen relativen Nachteil und Nachholbedarf hat.

Eine schwierige Übungsanlage für ein Land, das nicht der EU beitreten will.

Ein Weg wäre, EU-Regulierungen zu übernehmen. Innerhalb des EU-Marktes hat dies eine gewaltige Integration bewirkt. Auch in Europa sind viele Reformen möglich geworden, die aus dem eigenen nationalen Kontext heraus nicht zu schaffen gewesen wären. Zum Beispiel wäre die Reform der öffentlich-rechtlichen Banken in Deutschland ohne EU-Wettbewerbsbehörde nicht zu Stande gekommen. Eine supranationale Wettbewerbsbehörde wie jene der EU hat den Vorteil, dass sie weniger auf die nationalen politischen Prozesse achten muss.

Angesichts der horrenden Defizite in Staat und Kommunen dürfte mehr Wettbewerb allein nicht genügen.

Das ist richtig. Es besteht in Deutschland ein beträchtlicher Konsolidierungsbedarf. Das Problem ist, dass die Konsolidierung kurzfristig für die Konjunktur nicht förderlich ist, dass sie jedoch andererseits für die langfristigen Wachstumschancen absolut erforderlich ist. Was politisch durchsetzbar ist, steht noch auf einem anderen Blatt.

Das Politische ist ökonomisch. Wenn die Schweiz im Herbst über die erweiterte Personenfreizügigkeit abzustimmen hat, ist dies keine politische, sondern eine ökonomische Wahl. Die Folgen des Abstimmungsresultats sind allemal ökonomisch.

BILANZ: Was steht bei der Abstimmung über die erweiterte Freizügigkeit für die Schweiz auf dem Spiel?

Beatrice Weder di Mauro: Auf dem Spiel steht der ganze bilaterale Weg. Gleichzeitig zeigt die Migrationsforschung, dass bei einem Ja nicht mit einer massiven Einwanderung aus den neuen EU-Ländern in die Schweiz gerechnet werden muss.

Werden Sie selbst auch den Stimmzettel ausfüllen?

Selbstverständlich. Und ich bin auch überzeugt, dass der immer wieder rational handelnde Schweizer Souverän zustimmen wird.