«Was die Weltwirtschaft angeht, so ist sie verflochten.»
Kurt Tucholsky

Soll die Schweiz im internationalen Wettbewerb bestehen, (…) braucht sie Wachstum, und zwar mehr Wachstum als in den letzten zehn Jahren. Um die Wachstumskräfte freizusetzen, sind marktwirtschaftliche Reformen (…) unabdingbar.» Was der Wirtschaftschef der «Neuen Zürcher Zeitung», Gerhard Schwarz, da geschrieben hat, wird bei den meisten kaum auf
Widerspruch stossen. Dennoch: Die Aussage ist kompletter Unsinn. Die Schweiz braucht kein Wachstum, um im internationalen Wettbewerb bestehen zu können, und sie muss sich schon gar nicht darum sorgen, ob sie in diesem wohl bestehen kann.

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Unfug ist die obige Aussage, obwohl sie weit verbreitet ist. Die Globalisierung – und dabei vor allem der freie Welthandel – wird oft als wichtigster Grund genannt, weshalb die Schweiz gefährdet sei, weshalb sie höheres Wachstum und stärkere Strukturen brauche. Das klingt zwar plausibel. Trotzdem beruht dieses Denken auf einer Reihe von Missverständnissen über den Freihandel.

Dabei scheint es, als hätten die Marktrevolutionäre mit ihren erbitterten Widersachern, linken Kritikern von Freihandel oder Globalisierung, einen stillen Pakt geschlossen, indem sie deren grundlegendes Vorurteil teilen. Denn wie jene behaupten auch die Marktrevolutionäre, die Globalisierung sei eine Kraft, die wie eine Peitsche auf die Länder niedersause und diesen diktiere, was sie politisch und wirtschaftlich zu tun hätten, ansonsten drohe der Untergang. Der Unterschied besteht nur in der Wertung: Für linke Kritiker ist das ein Grund, die Globalisierung aufhalten zu wollen, für Marktrevolutionäre ist sie die willkommene historische Kraft, die durchsetzt, wovon sie träumen.

Dass die Vorstellung von der naturgesetzlichen, bedrohlichen Globalisierung so gut verfängt, geht allerdings nicht nur auf Demagogie zurück. Wichtiger sind zwei andere Gründe. Erstens liegt es an der allgemeinen Schwierigkeit, zwischen den Erfordernissen einer Volkswirtschaft insgesamt und jenen eines Unternehmens unterscheiden zu können. Zweitens daran, dass die Globalisierung einem Land und seinen Einwohnern insgesamt zwar nützt, dass aber dennoch einige unter Druck geraten können. Diese beiden Gründe gilt es nun genauer zu beleuchten.

Wäre ein Land wie ein Unternehmen, würden Aussagen wie die von Gerhard Schwarz Sinn machen: Ein Unternehmen wird tatsächlich von Konkurrenz bedroht. Sind seine Produkte oder Dienstleistungen zu teuer, etwa weil es zu wenig produktiv ist, zu hohe Löhne zahlt, zu viele Leute beschäftigt oder zu viel unproduktives Kapital einsetzt, geht es unter, und die Beschäftigten werden arbeitslos.

Nun scheint es auf den ersten Blick nur logisch zu sein, diese Aussagen auch auf ein ganzes Land zu übertragen: Hat das Land höhere Löhne, Steuern oder Sozialabgaben als ein anderes Land, mit dem es in Konkurrenz steht, dann ist es, so könnte man glauben, auf den Weltmärkten zu teuer: Seine Güter werden nicht mehr gekauft, was zu Arbeitslosigkeit und Armut führt. Es springt einem förmlich in die Augen, warum Marktrevolutionäre wenig Interesse daran haben, an einem solchen Bild zu rütteln: Ihre Forderungen werden durch ein solches Bedrohungsszenario zur Ultima Ratio, zum letzten Schluss der Weisheit und zum einzig gangbaren Weg.

Doch das obige Szenario könnte falscher nicht sein. Das beginnt schon damit, dass es nicht der Zweck einer gesamten Volkswirtschaft ist, wie Unternehmen möglichst viel zu verkaufen und Gewinn zu machen. Im Gegenteil geht es darum, dass es den Bewohnern möglichst gut geht, dass sie also möglichst viel Güter und Dienstleistungen erhalten: als Frucht ihrer eigenen Arbeit und aus anderen Ländern. Gutes Leben, verlässliche Infrastruktur – so heisst der anzustrebende «Gewinn» aus der Sicht einer Volkswirtschaft. Die Verkäufe ans Ausland sind (anders als bei einem Unternehmen, dessen ganzer Zweck im Verkauf von Gütern besteht) nur das notwendige Übel. Sie sind notwendig, um dafür Produkte und Dienstleistungen aus dem Ausland zu erhalten, die den Wohlstand im Inland mehren.

Beim Aussenhandel geht es letztlich nur um einen Tausch. Dieser Tausch ist für keine Volkswirtschaft eine Bedrohung. Tiefere Preise des Auslands sind zudem keine Bedrohung, sondern ein wirtschaftlicher Segen, weil sie bedeuten, dass sich die Inländer für ihr Geld mehr leisten können. Beim freien internationalen Tausch können überdies alle Länder gewinnen.

Das gilt selbst dann, wenn ein Land in der Herstellung jedes seiner Erzeugnisse produktiver und damit kostengünstiger ist als andere Länder. Auch in diesem Fall profitieren sowohl das stärkere wie auch das schwächere Land vom Handel, das heisst, beide werden durch ihn wohlhabender. Diese Erkenntnis ist uralt, sie wurde vom britischen Ökonomen David Ricardo Anfang des 19. Jahrhunderts als «Theorie der komparativen Vorteile» erstmals genau beschrieben, und sie ist seither von Ökonomen in vielfacher Hinsicht verfeinert und ergänzt worden. Die Grundaussage jedoch hat sich nicht verändert.

Die wichtigsten, auch in der Realität vielfach bewiesenen Folgerungen aus den Erkenntnissen von David Ricardo sind die folgenden:

– Freier Handel führt dazu (und nur so zeigen sich auch seine Vorteile), dass sich Länder auf jene Produktionsbereiche konzentrieren, die sie im Vergleich zu anderen am besten beherrschen. Und zwar im Verhältnis zu anderen inländischen Bereichen, nicht zu anderen Ländern.

– Anders als der Vergleich eines Landes mit einem Unternehmen suggeriert, besteht für ein Land durch Freihandel nie die Gefahr, insgesamt ärmer zu werden. Dass ein anderes Land einige Produkte (verglichen mit inländischen Preisen) günstiger herstellen kann, ist nicht, wie die Vorstellung von konkurrierenden Ländern glauben macht, eine Gefahr, sondern gerade der Vorteil des Handels.

– Freihandel macht ein Land reicher. Dabei wirkt er genau gleich wie technologischer Fortschritt: Für eigenen Aufwand erhält man mehr Güter oder Dienstleistungen. Hier zeigt sich, wie absurd die Aussage ist, die Schweiz brauche Wachstum, um im «internationalen Wettbewerb» bestehen zu können. Es ist gerade umgekehrt: Der Freihandel führt an sich schon zu mehr Wachstum.

– Nur die Verhinderung von Freihandel macht ein Land ärmer, und zwar im Ausmass der entgangenen Handelsvorteile. Da der Anteil der Schweizer Wirtschaft, der vom Aussenhandel lebt, besonders gross ist, sind die Kosten von dessen Behinderung hierzulande entsprechend hoch.

– Die Konzentration auf einige Produktionsbereiche führt zu grösserer Abhängigkeit vom Austausch mit anderen Ländern.

Nun mag man einwenden, dass dies wohl hübsche ökonomische Logik sei, die Realität aber zumindest teilweise anders aussehe. Komparative Vorteile – oder nennen wir sie Kernkompetenzen – eines Landes beruhen in den meisten modernen Gesellschaften ohnehin nicht mehr auf unverschiebbaren natürlichen Gegebenheiten. Für die rohstoffarme Schweiz gilt das in extremem Mass. Wenn aber die Kernkompetenzen aus den Fähigkeiten der Beschäftigten bestehen, können sich diese rasch verschieben, indem ein anderes Land diese Leute abwirbt. Noch mehr gilt das für das Produktionskapital. Wenn dieses ursächlich für besondere Produktivitätsvorteile verantwortlich ist, könnte auch dieses leicht von steuergünstigeren Ländern weggelockt werden.

Genau darum dreht sich die so genannte Standortdebatte: um den internationalen Wettbewerb um produktive Faktoren wie Arbeit und Kapital. Länder werden hier nicht mehr als konkurrierende «Verkäufer» auf den Absatzmärkten ihrer Güter betrachtet, sondern als um Ressourcen konkurrierende «Arbeitgeber», die ihre Standorte absichern.

So könnten beispielsweise die Schweizer Banken die Schweiz auch verlassen. Staaten müssten diesen Unternehmen daher einiges bieten. Das führte dazu, dass die Länder angesichts der Globalisierung ihre Freiheit verlören, ihre Steuern und Löhne frei festzusetzen. Denn letztlich seien sie einer Art impliziter Erpressung der internationalen Unternehmen ausgesetzt, die sonst jederzeit das Land verlassen könnten.

Auch diese Argumente sind weitgehend Unsinn: Weder sind mit der deutlichen Zunahme des Welthandels in den letzten zwanzig Jahren die Steuereinnahmen in den meisten reichen Ländern zurückgegangen, noch gilt das für deren relativ hohen Staatsanteil. Im Gegenteil, Steuern und Staatsanteil sind im Durchschnitt sogar angestiegen. Das gilt selbst für die Besteuerung der Unternehmen. Dabei hätte diese doch am stärksten abnehmen müssen, wenn die These von der impliziten Erpressung durch die Unternehmen richtig wäre. Zugenommen haben in den reichen Ländern zudem die Sozialausgaben (abgenommen haben sie bloss in Belgien, den Niederlanden und Neuseeland). Diese hätten durch die behauptete Standortkonkurrenz ebenfalls unter Druck kommen müssen. Eine besonders verblüffende Beobachtung, zumindest aus Sicht der Standortwettbewerbs-These, hat der Ökonom Dani Rodrick gemacht, nämlich dass Länder, die dem internationalen Handel besonders stark ausgesetzt sind – insbesondere so genannte kleine, offene Volkswirtschaften –, oft einen höheren Anteil des Staates an der Gesamtwirtschaft haben als andere Länder.

Dreh- und Angelpunkt der Standortwettbewerbs-These sind zwei Annahmen. Einmal jene von den äusserst flüchtigen Produktionsfaktoren: Arbeit und vor allem Kapital weichen danach immer an jene Standorte aus, die ihnen die günstigsten Produktionsbedingungen bieten. Die zweite Annahme geht davon aus, dass als günstige Produktionsbedingungen jene gelten, wo die Steuern besonders tief sind und kaum Regulierungen anzutreffen sind. Beide Annahmen sind falsch.

«Wenig Steuern» und «wenig Regulierungen» machen noch lange keinen attraktiven Standort aus. Wer so argumentiert, ist bereits in die ideologische Falle getappt, die im Staat nichts anderes als einen Störfaktor sieht. Steuern und Regulierungen sind schliesslich nur eine Seite der Medaille. Mit beidem kann der Staat dafür sorgen, dass alle wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Abläufe besser funktionieren, dass es den Menschen in einer Gesellschaft insgesamt besser geht. Indem der Staat etwa für die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs sorgt, für die öffentliche Sicherheit, für ein Rechtssystem, ein gutes Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen, für zuverlässige öffentliche Güter und Dienstleistungen und indem er bei den vielfältigen weiteren Marktversagen eingreift, macht er einen Standort sowohl für Konsumenten wie auch für Produzenten aller Art attraktiver. Wenn man etwas Wertvolles dafür erhält, zahlt man gerne, das gilt auch für Regulierungen und Steuern.

Entscheidend bleibt also nicht allein der Anteil von Staat oder Steuern, sondern auch die Qualität der staatlichen Aktivitäten. Die Schweiz braucht hier keinen Vergleich zu scheuen: Nicht nur verfügt sie über verhältnismässig tiefe Steuern, sondern schneidet insbesondere auch bei den oben aufgezählten Faktoren ausgezeichnet ab.

Die Produktionsfaktoren sind bei weitem nicht so mobil, wie immer wieder befürchtet wird. Obwohl allein schon in Europa ein starkes Lohngefälle zwischen den Ländern besteht, findet die befürchtete Völkerwanderung nicht statt. Menschen orientieren sich nicht bloss an Einkommensmöglichkeiten; Sprache, Kultur, Freunde und Familie, das Zuhause sind so wichtig, dass die meisten Menschen ihre Heimat entweder nur in grosser Not verlassen oder dann höchstens vorübergehend.

Mobiler als Arbeitskräfte ist das Kapital. Doch hat auch hier der Mythos, dieses schwirre auf der gierigen Jagd nach schnellem Profit ungebunden und wild über die Erdoberfläche, wenig mit der Realität zu tun. Dieses Bild entstammt einem Missverständnis darüber, was Kapital im ökonomischen Sinn ist: Kapital ist ein anderer Begriff für Produktionsmittel. Dazu gehören nicht nur Maschinen und andere technische Geräte, welche die Erstellung von Gütern und Dienstleistungen effizienter machen, sondern vor allem auch Fähigkeitskapital. Dieses hat in der modernen Wirtschaft nicht nur die grösste Bedeutung für die Effizienz der Produktion, es ist zudem relativ stark an Personen und – wie auch die neue ökonomische Geografie lehrt – insbesondere ebenfalls an den Standort gebunden. Wie wirkungslos Kapital unabhängig vom Standort ist, zeigt auch die Erfahrung der Entwicklungshilfe. Wie man dort schmerzhaft erfahren musste, führt allein die Finanzierung oder die Lieferung von Kapitalgütern nicht aus der Armut und zu wirtschaftlichem Fortschritt.

Dennoch: Wer kennt sie nicht, die Geschichten von den Unternehmen, die ihre Produktion ins Ausland verlegen und dort statt im Heimatland Jobs schaffen?

Der Aufbau von Unternehmenskapazitäten und Arbeitsplätzen im Ausland gereicht auch der schweizerischen Volkwirtschaft insgesamt nicht zum Nachteil. Weder müssen deshalb hierzulande die Einkommen schwinden noch die hiesige Beschäftigung. Dieser Optimismus beruht sowohl auf den obigen theoretischen Überlegungen wie auch auf der tatsächlichen Entwicklung.

Unternehmen, schweizerische und ausländische, werden jeweils an jenen Standorten produzieren, wo die jeweiligen komparativen Vorteile liegen. Ein schweizerisches Unternehmen kann seine verschiedenen Bereiche zum Beispiel danach aufteilen: So könnte es Leitung, Administration, Entwicklung und Forschung in der Schweiz belassen, einfache Produktionsprozesse nach Asien verlegen, wo diese besonders günstig zu haben sind, und Verkaufsorganisationen wiederum da aufbauen, wo die wichtigsten Absatzmärkte sind. Dadurch sinken die Produktionskosten der Unternehmen und, wenn der Wettbewerb genügend spielt, die Preise der Endprodukte. In diesem Fall können Unternehmen wiederum ihren Absatz steigern, was direkt zu mehr Beschäftigung in ihren heimischen Bereichen führen kann oder indirekt über grössere Nachfrage bei Schweizer Dienstleistern. Ausserdem fliessen die Gewinne der Unternehmen, zum Beispiel über Dividenden oder höhere Aktienkurse oder über Einkommen der heimischen Beschäftigten, ins Heimatland zurück (der Anteil dieser Einkommen am BIP liegt in der Schweiz bei 20 Prozent). In jedem Fall steigen also durch die Auslagerungen die Realeinkommen im Ursprungsland. Diese führen ebenfalls zu einer Erhöhung der Beschäftigung. Im fremden Land, in das die Jobs ausgelagert worden sind, steigen die Einkommen zudem ebenfalls. Die dortigen Menschen und Unternehmen werden aus der Schweiz das besorgen und bezahlen können, was die hiesige Wirtschaft besonders gut kann, was sich ebenfalls positiv auf die Beschäftigung auswirkt.

Tatsächlich funktionieren diese theoretischen Überlegungen nicht nur auf dem Papier, sondern auch in der Praxis. Produktionsauslagerungen führen insgesamt und mittelfristig nicht zu einem Abbau von Stellen im Inland, sondern im Gegenteil zu zusätzlichen Jobs. Die Ökonomen sprechen hier von einem «Komplementaritätseffekt».

Angst vor Globalisierung: falsch, vernünftig oder beides?

Schön – die Globalisierung nützt einem Land also insgesamt. Doch was nützt das dem Bauern, dessen Produkte durch ausländische verdrängt werden? Was dem Hilfsarbeiter, dessen Arbeit ein Einwanderer aus Osteuropa zu tieferem Lohn anbietet? Und was einem Textilfabrikanten und seiner Belegschaft, deren Produkte mit jenen aus Fernost nicht konkurrieren können? Alle Genannten haben gute Gründe, sich vor der Globalisierung zu fürchten.

Zur erfreulichen Botschaft, dass alle Länder vom Handel profitieren können, gesellt sich eine weniger erfreuliche für die Beschäftigten in den vergleichsweise schwächeren Branchen. Diese Branchen werden schrumpfen. Die dort Angestellten werden eine neue Beschäftigung in einem anderen Beruf suchen müssen. Und selbst wenn sie diese in den stärkeren Bereichen der Wirtschaft finden, gehen ihnen Jahre an Erfahrung, Ausbildung und ein oft mit dem Job verknüpftes soziales Umfeld verloren. Dazu kommt die Sorge, ob sie in anderen Bereichen wieder unterkommen. Und dies alles wegen Kräften, die ausserhalb von einem selbst liegen, unabhängig davon, ob man nun seinen Job gut gemacht hat oder nicht.

Zu der frohen Botschaft der Ökonomen mit den insgesamt positiven Wirkungen von Globalisierung und Freihandel finden sich sozusagen im Kleingedruckten zwei Ergänzungen: Erstens braucht jeder Strukturwandel Zeit. Es sind nicht dieselben Jobs, die neu entstehen, und sie entstehen nicht sofort. Die Branchen und Unternehmen einer Volkswirtschaft können nicht von heute auf morgen von einem Produktionsschwerpunkt zum nächsten wechseln, ebenso wenig wie ein Bauer von heute auf morgen

Anlageberater werden kann. Zweitens können Einzelne auch langfristig Verlierer bleiben. Nicht jeder wird wieder eine Stellung oder ein Einkommen haben, das dem Niveau von früher entspricht. Einige werden sogar endgültig stranden.

Angst vor der Globalisierung zu haben, ist also aus Sicht derjenigen, die in bedrohten Branchen arbeiten, wenn sie auch noch so gut arbeiten, nachvollziehbar. Und wer kann bei offenen Weltmärkten mit Sicherheit annehmen, nicht bedroht zu sein? Niemand. Da dies breite Teile der Bevölkerung instinktiv realisieren, bleiben sie gegenüber Freihandel und Globalisierung zumindest skeptisch eingestellt. Die Tatsache, dass nicht nur die Bauern oder Textilfabrikanten, sondern ausnahmslos jeder plötzlich zum Opfer werden kann, spielt für diese Zurückhaltung wahrscheinlich die grössere Rolle als Unkenntnis über die erwähnten ökonomischen Gesetze oder Solidarität mit den bereits heute Betroffenen.

Komparative Vorteile und Nachteile bleiben nur bestehen, solange sich nichts ändert. Sobald sich die Produktions- und Branchenstruktur in einem für den Welthandel bedeutsamen Land verändert, etwa dank Innovationen, oder wenn neue Länder beim Freihandel ebenfalls mitmachen, kann sich das ganze Gefüge in allen Ländern verändern. Der komparative Vorteil des einen Landes kann zu dem eines anderen werden. Je mobiler Kapital und Arbeit sind, desto mehr werden solche Veränderungen stattfinden, weil dann die gesamte Produktion verschoben werden kann. Wie schon gezeigt, wird diese Mobilität allerdings gemeinhin überschätzt. Dieser potenziell immer mögliche Wechsel, diese Unmöglichkeit, im Voraus zu wissen, was in Zukunft an welchem Ort der besondere Vorteil sein wird und welche Ausbildung, welcher Beruf oder welches Investitionsziel sich also langfristig lohnt, macht dennoch alle zu potenziellen Opfern der Globalisierung.

Diese Lektion wird verstanden. Immer intensiver kursieren die Gerüchte und Angstgeschichten von fernen Ländern, die uns die Jobs wegnehmen. Selbst die Arbeit der Finanzanalysten könnte in Drittweltländern geleistet werden. Wenn schon diese hoch qualifizierten Berufe gefährdet sind, wer kann dann in seinem Job noch sicher sein?, so die bange Frage.

Das «Gefahrenpotenzial» ist, wie bereits ausgeführt, insgesamt viel geringer, als die zuweilen panischen Artikel der Wirtschaftsblätter vermuten lassen. Dennoch gleicht die Wirkung der Globalisierung und des Freihandels in gewisser Weise einer schweren Krankheit, die potenziell jeden treffen kann: Selbst wenn sie verhältnismässig wenige wirklich trifft, löst sie dennoch umso grössere Ängste bei allen aus, je schlimmer ihre Folgen für den Einzelnen sein können. Als die Angst vor der Rinderseuche grassierte, ging der Fleischkonsum viel stärker zurück, als das objektiv durch die Risiken zu rechtfertigen war – die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung war verschwindend gering. Dennoch haben die Leute aus Angst auf das sonst gewohnte Menü verzichtet. Die Angst, durch die Globalisierung in Job und Einkommen persönlich bedroht zu werden, reicht aus, um sich dieser insgesamt segensreichen Entwicklung nach Möglichkeit entgegenzustemmen.

Die Globalisierung hat also zwei gegensätzliche Gesichter: Während sie einerseits Jobs eher schafft als vernichtet, bedroht sie gleichzeitig potenziell jede Position, jedes Unternehmen, jeden Arbeitsplatz und jedes Einkommen. Da zudem das Kapital leichter verschoben werden kann als Arbeitskräfte (wenn es auch nicht vollkommen mobil ist), stehen Löhne unter stärkerem Druck als Kapitalgewinne. Diese Problematik der offenen Märkte ist nicht neu, in unzähligen Werken wurde in den letzten Jahrhunderten schon darüber geschrieben. Zwei Beispiele aus vollkommen verschiedenen Zeiten zeugen davon.

Das erste stammt von Karl Marx und Friedrich Engels im «Kommunistischen Manifest» aus der Frühzeit des modernen Kapitalismus, aus dem Jahr 1848: «Der Weltmarkt hat dem Handel, der Schifffahrt, den Landkommunikationen eine unermessliche Entwicklung gegeben. (…) Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnen die Bourgeoisie-Epoche vor allen anderen aus.»

Das zweite stammt vom Harvard-Ökonomen Dani Rodrick aus dem Jahr 1997: «Wenn die in diesem Buch vorgetragenen Argumente zutreffen, so gibt es zwei Gefahren, die in der Gleichgültigkeit gegenüber den sozialen Folgen der Globalisierung liegen. Die erste, deutlich sichtbare Gefahr ist ein politischer Rückschlag für den freien Handel. (...) Der Protektionismus hat bei all seinen Fehlern den Vorteil des Konkreten (…). Doch (…) gibt es eine zweite und noch grössere Gefahr: dass die Globalisierung zur sozialen Desintegration beiträgt, wenn Nationen in Bezug auf wirtschaftlichen Status, Mobilität, Region und soziale Normen gespalten werden. Auch ohne protektionistischen Rückschlag wäre ein Sieg der Globalisierung um den Preis sozialer Desintegration ein Pyrrhussieg.»

Wie lässt sich nun mit diesem Widerspruch von Wohlstand und Unsicherheit leben?

Der Versuch, das Rad der Globalisierung zurückzudrehen, wäre ein absurdes Unterfangen. Man versuche nur einmal, sich eine Schweiz vorzustellen, die nur auf sich selbst gestellt wäre. Dann wären wir wirklich ein sehr armes Land. Und der pragmatische Versuch, den Strukturwandel durch den Schutz der bedrohten Branchen aufzuhalten, führt selten zu den gewünschten Ergebnissen. Die Jobs und die damit erzielbaren Einkommen lassen sich so nicht sichern. Der Freihandel beschleunigt schliesslich nur einen Prozess, der auch ohne ihn stattfände, nämlich den technologischen Fortschritt.

Selbst für die schrumpfende Schweizer Industrie gilt, dass die Auslagerung von Unternehmensteilen die inländische Produktion unterstützt und nicht konkurrenziert. Der Jobabbau in diesem Sektor findet daher nicht wegen des Aussenhandels statt, sondern wegen des technologischen Fortschritts, dank dem für immer mehr Produkte immer weniger Arbeitnehmer benötigt werden. Diesem Prozess verdanken wir es letztlich, dass wir heute weniger lange und weniger hart arbeiten müssen als unsere Vorfahren und uns dennoch mehr leisten können als sie.

Dass Gesetze zum Schutz von Produzenten diesen auf die Dauer eher schaden als nützen, bestätigen auch die Erfahrungen in der Schweiz. Das Forschungsbüro Plaut Economics hat in einer Studie detailliert gezeigt, wie einst geschützte Bereiche wie die Briefpost, der Buchhandel, der Flugverkehr, der Käsemarkt, das Retail-Banking, der Schienenfahrzeugbau oder die Uhrenindustrie mit fortlaufendem Strukturwandel in grössere Probleme geraten sind, während Bereiche wie etwa die Energie- oder die Medizinaltechnik, die sich dem Wettbewerb stets stärker ausgesetzt sahen und sich rechtzeitig an neue Erfordernisse anzupassen vermochten, keine Brüche in ihrer Entwicklung erleiden mussten.

Doch Vorsicht: Die Aussage, dass Regeln zum Schutz vor Konkurrenz meistens sowohl den Konsumenten als auch auf die Dauer den Geschützten selber schaden, bedeutet umgekehrt nicht, dass jede Regulierung oder jeder staatliche Eingriff in die Wirtschaft schädlich sei.

Bleibt das üble Problem, dass sich schlecht damit leben lässt, durch offene Märkte potenziell in Job und Einkommen bedroht zu sein. In Zeiten der Globalisierung stellt sich dieses mehr als je zuvor. Es kann daher keine besonders gescheite Strategie sein, den Wunsch nach mehr Schutz an sich gering zu schätzen und den nach Abwehrmassnahmen rufenden Beschäftigten und Unternehmern vorzuwerfen, sie seien zu wenig flexibel und in einer «Vollkaskomentalität» gefangen.

Die Schweizer sind nicht weniger risikofreudig geworden: Es werden umgekehrt und aus guten Gründen mehr Risiken eingegangen. Das liegt zum Löwenanteil an der viel grösseren Bedeutung, die Welthandel und Globalisierung heute auch für die Schweizer Wirtschaft haben, und andererseits an den Reformen, welche die hiesige Wirtschaft den internationalen Märkten noch zusätzlich stärker aussetzen. Die Unsicherheit und damit die Abwehrmechanismen werden erst recht verstärkt, wenn Professoren, Politiker und Journalisten auf diese Sorgen mit weiteren Drohungen reagieren: etwa mit dem Abbau von direktdemokratischen Rechten und sozialen Absicherungen, die noch als «soziale Hängematten» für Sozialschmarotzer beschimpft werden. Als besonderer Widersinn entpuppt sich auch hier die Behauptung, die Globalisierung zwinge geradezu zum Verzicht auf jegliche soziale Sicherung. Deutlicher könnte man das, was man mit solchen Drohungen verhindern will, kaum fördern: entschlossene Opposition gegen jede wirtschaftliche Öffnung.

In einer offenen, demokratischen Gesellschaft gibt es immer mehrere Möglichkeiten, gegen Entwicklungen zu opponieren. Das macht sie gerade zur offenen Gesellschaft. Ein besonderer Zweck der schweizerischen politischen und demokratischen Institutionen liegt darin, möglichst alle Interessen am wirtschaftlichen Fortschritt zu beteiligen. Marktrevolutionäre sehen darin vor allem Nachteile: eine zögerliche Kompromiss- und Umverteilungskultur. Doch das Land ist damit bisher sehr gut gefahren. Obwohl Mehrheiten gegen Marktöffnungen erwartet werden könnten, wenn man berücksichtigt, dass sich jeder Einzelne potenziell einer Bedrohung ausgesetzt sehen könnte, ist das Land im internationalen Vergleich ausgesprochen offen, wirtschaftlich liberal, und es ist mit Unterstützung der Bevölkerung daran, noch offener zu werden.

Es liegt auf der Hand, dass einerseits die politische Mitsprache und andererseits das soziale Netz für die wirtschaftliche Offenheit verantwortlich sind. Darin liegt wohl auch die Erklärung des scheinbaren Widerspruchs, dass ausgerechnet in jenen Ländern, die besonders stark mit dem Welthandel verbunden sind, der Staatsanteil und die Sozialausgaben tendenziell höher liegen als in anderen. Das Risiko einer stärkeren Verbindung mit den Weltmärkten erfordert die Gewissheit der Menschen, nicht völlig fallen gelassen zu werden. Diese Sicht widerspricht wiederum vollkommen jener der Marktrevolutionäre, die in Sozialausgaben nur Kosten sehen. Wie die Entwicklung der Schweiz, ihre wirtschaftliche Position und ihre Attraktivität auch für ausländische Unternehmen zeigen, übersteigt der Nutzen dieses Schutzes die Kosten deutlich. Das wiederum heisst allerdings nicht, dass jede Massnahme der sozialen Sicherung hierzulande auch wirtschaftlich sinnvoll ist. Doch es zeigt sich, dass die soziale Sicherung und selbst Umverteilungsmassnahmen die Effizienz des Landes erhöhen, weil sie den Strukturwandel unterstützen.

Gekürzte Fassung des Kapitels «Globalisierung» aus dem Buch «Was heisst hier liberal?» von Markus Diem Meier. In der nächsten BILANZ: «Der Staat, Räuber oder Wohltäter?»

Markus Diem Meier

Der Autor (Jahrgang 1963) hat an der Universität Zürich Volkswirtschaftslehre und Geschichte studiert und schreibt als freischaffender Wirtschaftsjournalist für grosse Schweizer Publikationen wie BILANZ, «Weltwoche», «Facts» oder «Tages-Anzeiger». Zudem ist er als Dozent für Volkswirtschaftslehre an Fachhochschulen in Bern und Zürich tätig.

Markus Diem Meier: Was heisst hier liberal?
Warum die Untergangspropheten falsch liegen und die Schweiz zu beneiden bleibt Verlag Rüegger, 191 Seiten, Fr. 39.–, erhältlich ab sofort im Buchhandel.