1937, als die Medizin in der Bronzezeit dümpelte – das Penizillin war zwar erfunden, aber noch nicht erhältlich, die Tuberkulosekranken starben am Blutsturz, es gab wenig wirksame Mittel zur Behandlung des hohen Blutdrucks oder der Herzschwäche, und der Krebs forderte ungebremst seine Opfer –, befragte die Harvard Medical School 265 ihrer Alumni nach ihrem Nettoeinkommen. 60 Prozent der Ärzte, die seit 10 bis 30 Jahren Medizin praktizierten, antworteten. Ihr mittleres Jahreseinkommen betrug zwischen 5000 und 10 000 Dollar und war höher als jenes des Landesdurchschnitts der amerikanischen Ärzte.
Dies zeigte, dass die Zöglinge der elitärsten Medizinschule der Neuzeit wirtschaftlich erfolgreicher arbeiteten als der Durchschnitt, aber auch, dass man damals mit dem medizinischen Handwerk nicht reich werden konnte, 43 Prozent der seit zehn Jahren Praktizierenden erwirtschafteten weniger als 5000 Dollar im Jahr. Oder wie ein Befragter kommentierte: «I am satisfied with medicine as a life’s work. However, I should recommend it only to the man who has plenty of money back of him. Many men never make much in medicine.»
Diese Ärzte waren also zufrieden, sie lebten nach dem Imperativ des Paracelsus, dass der höchste Grund der Arznei Liebe ist; man kultivierte die Ethik nicht in Seminaren und Kursen, sondern lebte sie. Und da erinnere ich mich an Dr. Thomas Brittingham, den Dean der Vanderbilt University Medical School in den siebziger Jahren, der, von Haus aus wohlhabend, 365 Tage pro Jahr täglich mindestens 14 Stunden für seine Patienten arbeitete und ein Jahressalär von einem Dollar bezog.
Da haben wirs inzwischen herrlich weitergebracht. Die Tuberkulose ist eingedämmt, die Hypertonie könnte ebenfalls erfolgreich behandelt werden, viele Krebsarten werden geheilt, und den Herzen wird mit Cholesterinsenkern, Stromstössen, Kathetern und notfalls mit dem Messer geholfen.
Dies hat auch wirtschaftliche Folgen: Manche Kollegen halten neben dem Landrover noch den Maserati und sonnen sich auf der hauseigenen Terrasse in St. Moritz oder am Steuer der eigenen Yacht. Monetik ist, zumindest komplementär zur Ethik, zur obersten Maxime des Handelns geworden, und selbst mein öffentliches Spital im rot-grünen Zürich pflegt neben dem «Salus aegroti suprema lex» (das Wohlergehen des Kranken ist unsere oberste Maxime) die Ökonomie: Frankenbewegt wurde bei uns eine attraktive Station für Privatpatienten gebaut, die nach anfänglicher Tarnbezeichnung «Interdisziplinäre Behandlungsstation für Zusatzversicherte» jetzt stolz als Privatstation deklariert wird – wir stehen zu unserer Ausrichtung.
So hat der Fortschritt eine Wende – Demaskierung – von der ethischen zur monetischen Steuerung gebracht. Liberale beklagen das nicht, schliesslich sind Ärzte Menschen wie andere auch und funktionieren wie Anwälte, Wurstverkäufer oder Nachtklubbesitzer – «pecunia non olet». Und natürlich fehlen dabei auch die Sanften, Netten, Komplementären nicht und fordern ihren Anteil, die wütenden Auseinandersetzungen um Couchepins Plazet beziehungsweise Bezahlen des nicht Beweisbaren und das Trommelfeuer von
Redaktoren mit eindeutigen Interessenkonflikten werden nicht nur wegen des Patientenwohls geführt.
Andernfalls hätte die Hirslanden-Gruppe wohl kaum die Chinesenmedizin in ihr Repertoire aufgenommen.
Eine weitere Merkwürdigkeit lässt sich hier bestaunen, nämlich dass nicht vorhandene, bis zur absoluten Impotenz verdünnte Potenzen ihren reziproken Preis haben – Irrationalität darf etwas kosten und nährt.
Auch beim Arbeitsaufwand in der medizinischen Praxis lässt sich reziproke Paradoxie nachweisen:
Vergleichen Sie doch das Einkommen eines Fettabsaugers oder einer Ärztin für ästhetische Medizin (9 bis 12 Uhr und 15 bis 17 Uhr, ausser donnerstags) mit jenem eines Landarztes im Samnaun, der an 365 Tagen «on call» ist.
Das hat aber auch seine Konsequenzen: Fettabsauger und Ästhet/-innen gibt es immer mehr, Hausärzte immer weniger. Hausarztpraxen verwaisen, in Arosa findet man für den Gemeindearzt keinen Nachfolger, und in zwanzig Jahren werden die Bündner Bergtäler arztfrei sein.