Der Platz auf Boeings Firmengelände in Renton, US-Westküste, ist knapp. Jeden Tag rollt mindestens ein neues Flugzeug vom Typ 737 Max aus der Montagehalle, doch Boeing darf nicht ausliefern.

Nach zwei Abstürzen dieses Flugzeugtyps, nachdem 346 Menschen gestorben waren, verhängten die Sicherheitsbehörden im März ein Flugverbot. Inzwischen sind gut 300 Flugzeuge im Wert von mehreren Milliarden Euro auf Halde produziert. Dazu kommen 387 ausgelieferte Modelle, die nicht mehr eingesetzt werden dürfen.

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«Das anfangs schlimmste Szenario, nämlich eine Wiederaufnahme des Flugbetriebs erst am Jahresende, hat sich zum günstigsten Szenario entwickelt», sagt ein Branchenkenner.

Anfangs erahnte niemand die Dimension des Debakels. Jetzt steckt Amerikas Flugzeugriese in der wohl grössten Krise seiner 103-jährigen Geschichte. Es geht um mehr als die Flugsoftware MCAS mit ihren verhängnisvollen «Nase-runter»-Manövern, die zu den Abstürzen beigetragen haben. Es geht um das Schicksal einer Ikone.

Inzwischen summieren sich die Kosten aus dem Flugverbot auf gut neun Milliarden Dollar. Zudem drohen immense Strafschadenersatzzahlungen. Boeing-Chef Dennis Muilenburg wurde bei Anhörungen im US-Kongress zwar zum Rücktritt aufgefordert, will aber weitermachen. Die Justiz durchleuchtet, ob es bei der Zulassung des 737-Max-Modells durch die US-Behörde FAA zu Gefälligkeiten auf Kosten des Risikos kam. Boeings Rettung könnte im Militärgeschäft liegen. Der US-Konzern hofft, dass zum Beispiel Deutschland bestellt: Kampfjets und Transporthubschrauber. In der zivilen Luftfahrt hat der Konzern jedenfalls einige Arbeit vor sich, um Kunden und Reisende zu überzeugen.

1. Ärger mit den Airlines

Southwest Airlines, Ryanair, TUI Travel: einige der 80 Fluggesellschaften, die die Boeing 737 Max bestellt und teils schon erhalten haben. Da die Maschinen nicht fliegen dürfen, haben sie Ärger und zusätzliche Kosten. Der TUI-Konzern rechnet für das soeben abgelaufene Geschäftsjahr mit 300 Millionen Euro Gesamtkosten.
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Die Manager grübelten, wann das Modell wieder fliegen darf, heisst es in der Branche. Denn dann könnten plötzlich 1000 Flugzeuge einsatzfähig sein. Flieger, die Zulassungen brauchen, ausgepackt und ausgeliefert werden müssen. Weder Boeing noch die Airlines könnten das schnell leisten. Der Chef der Leasinggesellschaft ALC, John Plueger, rechnet mit bis zu zwei Jahren.

Qatar Boeing 777-200

Auch mit dem Langstreckenmodell Boeing 777X gibt es Verzögerungen und andere Probleme.

Quelle: ZVG

2. Drohender Zollstreit

Boeing droht ausser dem 737-Max-Debakel auch ein Problem im Subventionsstreit für Flugzeuge zwischen Europa und den USA. Nach gut 15-jährigen Verhandlungen vor der Welthandelsorganisation (WTO) werden demnächst die Entscheidungen über Ausgleichszölle für nicht zulässige Subventionen getroffen.

Im Oktober autorisierte die WTO die USA, auf EU-Produkte im Wert von jährlich 7,5 Milliarden Dollar Zölle zu erheben. Obwohl Amerika auf Airbus-Importe 100 Prozent Zoll hätte aufschlagen können, vermied Washington die Eskalation und beliess es bei zehn Prozent.

Im Frühjahr 2020 steht nun die WTO-Entscheidung zugunsten der EU an. Die EU hat bei der WTO einen Antrag auf Gegenmassnahmen von jährlich bis zu zwölf Milliarden Dollar gestellt. Ob dieses Volumen bewilligt wird, ist offen. Im jüngsten Airbus-Zwischenbericht heisst es: «Die Einführung gleichwertiger oder höherer Zölle auf Flugzeugimporte nach Europa ist wahrscheinlich.»

Für Boeing ist das keine schöne Aussicht. Der Konzern weiss derzeit nicht, wann die 737-Max-Maschinen wieder fliegen dürfen. Erst dann dürften neue Modelle an Europa-Kunden wie Ryanair ausgeliefert werden – für die dann wohl ein Strafzoll fällig wäre. Airbus will daher eine Verhandlungslösung.

3. Ein Konkurrent, der profitiert

Der erste Erfolg ist dem neuen Airbus-Chef Guillaume Faury bereits sicher. Im Dauerwettbewerb mit Boeing werden die Europäer in diesem Jahr wieder weltgrösster Flugzeugproduzent sein. Sieben Jahre ist es her, seit Airbus zuletzt bei der Produktion in Führung lag. Im Zuge des 737-Max-Debakels mussten die Amerikaner aber ihre Produktion drosseln.

Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird Airbus in diesem Jahr auch mehr Aufträge für neue Flugzeuge bekommen als der Rivale. Bislang liegen sie jedenfalls haushoch vorne. Das Dilemma der Europäer ist nur, dass sie derzeit nicht mehr liefern können, selbst wenn sie wollten. Die Werke in Europa, den USA und China sind auf Jahre ausgelastet. Ende 2018 lagen Aufträge für fast 7600 Flugzeuge im Wert von rund 412 Milliarden Euro vor.

Vor allem langfristig dürfte Airbus von Boeings Problemen profitieren. Der US-Konzern ist mit sich selbst beschäftigt. Es hakt an vielen Stellen, meist sind es Qualitätsmängel. Neben dem 737-Max-Debakel müssen derzeit weltweit auch Tausende Modelle des Vorgängertyps 737NG auf den Prüfstand, weil Risse an einem Bauteil an der Flügelbefestigung gefunden wurden. Verzögerungen und Probleme gibt es zudem beim neuen Langstreckenmodell 777X.

Nach Ansicht von Experten hat Boeing daher nicht die Kapazitäten, um das Milliardenprojekt für ein neues, mittelgrosses Langstreckenmodell (NMA) zu starten. So kann Airbus auch in diesem Segment seine Marktstellung ausbauen.

Dieser Text erschien zuerst bei der «Welt» unter dem Titel «Das sind Boeings grösste Probleme».