Als der britische Ethnologe Nigel Barley vom «NZZ-Folio» zu einer Erforschung der «Gnomen von Zürich» eingeladen wurde, fiel ihm Folgendes auf: «Die heutigen Armen verfügen zwar alle über Waschmaschine und Zentralheizung, haben aber trotzdem noch eine ganze Reihe von Herzenswünschen offen, die von Sozialarbeitern zu Bedürfnissen erklärt werden.»

Wie wird das Existenzminimum in der Schweiz definiert? «Eine Einzelperson erhält 960 Franken, das ist weiss Gott wenig», sagen hiesige Verantwortliche gern. Gemäss der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) entsprechen diese 960 Franken «dem Konsumverhalten der einkommensschwächsten zehn Prozent der Haushalte».

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Sind 960 Franken «wenig» oder «viel»? Zur Illustration dieser Frage sei der Betrag, mit dem die Sozialhilfeempfänger auskommen müssen, mit einem Durchschnitts-Einpersonenhaushalt verglichen, der 6000 Franken pro Monat zur Verfügung hat. Die-ser Durchschnitts-Einpersonenhaushalt braucht gemäss den offiziellen Erhebungen des Bundesamts für Statistik pro Monat 312 Franken für Nahrungsmittel und Getränke, 79 Franken für Alkoholika und Tabak, 162 Franken für Kleider und Schuhe, 130 Franken für die Nachrichtenübermittlung (Telefon und Internet). Damit sind 683 Franken weg. Bis hierher könnte eine Person, wenn sie «arm» ist, ein bisschen sparen, aber wirklich nur ein bisschen.

Bei den Restposten beginnen, wie der Ethnologe Nigel Barley sagen würde, die «Herzenswünsche»: Was fehlt dem Menschen zum Glück? Für Unterhaltung, Erholung, Kultur braucht ein Durchschnitts-Einpersonenhaushalt 385 Franken im Monat, für Restaurants und Hotels 496 Franken, für den Verkehr (Auto!) 498 Franken, für laufende Haushaltsführung (inklusive Putzfrau) 156 Franken, für andere Waren und Dienstleistungen (Coiffeur) 116 Franken.

Hier sollen die Sozialhilfeempfänger nicht mehr mithalten. Eine Einzelperson erhält, wie gesagt, 960 Franken. Lebt sie wie der Durchschnitt, gehen für Essen, Alkohol, Tabak, Schuhe, Kleider, Telefon 683 Franken weg. Hinzu kommt die Radio- und TV-Gebühr (Fr. 37.50), das Monatsabo für Tram und Bus, die Kehrichtsackgebühr. Dann bleiben 180 Franken für Restaurants, Kino, Velo, Fussballmatch, Coiffeur, Computergames.

Automatisch finanziert wird Sozialhilfeempfängern: die Miete, sofern die Wohnung günstig ist; der Zahnarzt, sofern die Behandlung zweckmässig ist; die volle Krankenkassenprämie (inklusive Selbstbehalte, Franchisen); eine Brille bei Bedarf; die Hausrats- und Haftpflichtversicherung; den Mindestbeitrag an die AHV; Zügelkosten; gewisse Anschaffungen, sofern nötig (TV-Gerät, Bett, Kasten usw.). Voll gerechnet, erhält eine Einzelperson nicht 960 Franken, sondern im Durchschnitt 2800 Franken pro Monat, wie eine interne Erhebung des Sozialdienstes der Stadt Bern ergeben hat. Diese 2800 Franken sind steuerfrei und liegen damit gleichauf mit den tiefsten Löhnen für 100-Prozent-Jobs (3000 Franken netto minus Steuern).

Als der deutsche Autor Henryk M. Broder kürzlich Zürich besuchte, notierte er: «Was in der Schweiz als Existenzminimum gesehen wird, wäre bei uns schon ein ordentliches Einkommen.»