Jean-Claude Juncker wirkte müde, abgekämpft, blass. Der Luxemburger, Chef der Euro-Gruppe, trat am Vorabend des vorläufig letzten europäischen Krisengipfels in der Aula der Zürcher Universität auf. Ein lange voraus geplanter Vortrag über «Europa – wie weiter?». Über ein neues Rettungsprogramm für Griechenland. Wieder einmal warb er um Verständnis. Man solle sich einmal vorstellen, was passieren würde, «wenn die Deutschen in einem Jahr 350 Milliarden Euro einsparen müssten». Das wäre, auf die Grösse der Volkswirtschaft umgerechnet, der Betrag, mit dem die Griechen konfrontiert seien.

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Fürwahr, die griechische Entschuldung hat ein drastisches Ausmass. Die Botschaft ist klar: Die Deutschen sollten Verständnis aufbringen – und zahlen. Doch können sie das überhaupt? Hat Europas Zahlmeister überhaupt so viel Feuerkraft? Oder erleben wir gerade, dass sich eine Nation übernimmt, die noch nie das richtige Gefühl für ihre Grösse und Fähigkeit aufbrachte? Ist es so unvorstellbar, dass die Deutschen schon bald für 350 Milliarden Euro Krisenkosten geradestehen müssen?

Es muss also nüchtern gerechnet werden. Die neue deutsche Frage: Wie viel kann das Land aufbringen, wenn weitere hoch verschuldete Krisenstaaten Hilfsgelder brauchen? «Olivenstaaten», wie sie abschätzig genannt werden, darunter auch Italien mit einer Staatsschuld in Höhe von 1757 Milliarden Euro und einem frischen Kapitalbedarf von 368 Milliarden bis Ende 2012. Oder gar die Grande Nation, die ebenfalls ganz hoch Schulden aufgetürmt hat. Längst geht es nicht mehr nur um die Griechen, das gibt auch der sonst so europabegeisterte Juncker offen zu. «Wenn wir über Griechenland reden, dann reden wir de facto über Italien», sagt Juncker, «Italien ist nun im Epizentrum.»

Aus der Trickkiste. In der Nacht vom 26. auf den 27. Oktober haben die Euro-Regierungschefs ihren Bedarf neu bestimmt. Rund eine Billion Euro soll es sein, die mit Methoden des modernen Financial Engineering aufgebracht werden soll. Ein Grundbetrag in Höhe von 440 Milliarden, der via Special Purpose Vehicles und Versicherungspolicen aufgepumpt wird. Der Griff in die Trickkiste der Finanzakrobaten war notwendig, weil das staatliche Haushaltswesen der Deutschen keine Eventualverbindlichkeiten kennt. In Berlin werden nur Zahlungen und Garantien erfasst, nicht Risiken.

Tausend Milliarden also. Wie viel davon müssten die Deutschen schultern, wenn die Gelder benötigt würden? Gewiss, Deutschland steht nicht ganz allein da. Doch im Klub der weiteren als stabil geltenden Länder – Luxemburg, Niederlande, Österreich und Finnland – sind keine Schwergewichte mehr. Italien, Spanien, Belgien und Frankreich werden zwar politisch korrekt noch zu den Unterstützer-Nationen des Rettungsfonds ESFS gezählt. Aber sie könnten selbst schon bald am Tropf hängen. Als Schlüssel für die Lastenverteilung gilt immer noch die Formel für die Kapitalzeichnung bei der Europäischen Zentralbank. Die Gewichte dort: Deutschland trägt 18,93 Prozent, Junckers Luxemburg 0,17. Und wenn eine grosse Nation wie Italien ausfällt (12,49 Prozent), erhöht sich die Last der Deutschen dramatisch.

Berlin-Mitte, im Oktober. Die kolossalen Regierungsneubauten verleihen das Gefühl von Macht und Grösse. Obwohl nur einen Stadtkilometer entfernt, in den Ausgesteuerten-Ghettos von Neukölln oder in Wedding, der Besucher von ökonomischer Tristesse erschlagen wird. Hier steht immer einer parat, der zahlt – der Staat. Mit diesem Grundgefühl wurde Berlin das, was es heute ist: politisch der Domizilgeber des Machtapparates, ökonomisch eine Null. Jährlich 5 Milliarden Euro Zuschüsse aus der Bundeskasse, 1,2 Milliarden von der Europäischen Union, 60 Milliarden Schulden, jedes Jahr 2,4 Milliarden Zinsdienst.

Anfangs zeigte sich Berlin ungerührt. Vom ersten Griechen-Hilfspaket vom Mai 2010 trägt Deutschland 22,4 Milliarden Euro. 13,5 Milliarden sind davon bereits ausgezahlt. Anfang Oktober erlaubte das deutsche Parlament, den deutschen Haftungsanteil für den ESFS auf 211 Milliarden Franken auszudehnen – nahezu die Hälfte des erhöhten ESFS-Volumens von 440 Milliarden. 22 Tage später ermächtigten die Abgeordneten die Bundesregierung, das Rettungsvolumen zu «hebeln». Damit vervielfacht sich das Risiko der Deutschen. Im Vergleich weit mehr also, als die Griechen derzeit verkraften müssen.

Überfordertes Parlament. Immerhin, die Zahlungsbereitschaft der Deutschen scheint ungebrochen. Zweimal erreichte Bundeskanzlerin Angela Merkel für ihre Last-Minute-Entscheide eine komfortable Mehrheit im Deutschen Bundestag. Aber wissen die Abgeordneten eigentlich, was sie tun? Zweifel sind angebracht. Nach der ersten Abstimmungssitzung am 4. Oktober befragten TV-Reporter des Norddeutschen Rundfunks NDR 25 Parlamentarier über die Höhe des soeben, nach stundenlanger Debatte, beschlossenen Haftungsanteils Deutschlands. «Wie hoch ist denn der deutsche Anteil an den Kreditbürgschaften?», wollten sie wissen. Einige Stimmen, die sie einfingen:

  • «Na ja, wir haben im Moment, äh, ich möchte dazu lieber nichts sagen.»
  • «Kann ich jetzt momentan nicht genau sagen.»
  • «Das habe ich jetzt nicht auf dem Schirm.»
  • «Nee, kann ich Ihnen jetzt im Detail nicht sagen.»
  • «250? 240? Okay?»

Mit so viel Stoff für einen abendlichen Lacher vor dem Fernseher hatten die Reporter gar nicht gerechnet. «40 bis 50 Prozent der Befragten lagen falsch oder hatten gar keine Ahnung», erklärte die NDR-Redaktorin. «Noch trostloser», sagte sie, «waren die Antworten auf Fragen nach dem Zweck des ESFS.»

Nur wenige Politiker haben die Kraft, sich mit Rede und Stimme gegen die Entscheide aufzulehnen. Der Christdemokrat Werner Marnette ist einer von ihnen. Zwölf Jahre lang war er Chef eines Chemiekonzerns, dann Landeswirtschaftsminister in Schleswig-Holstein. Er trat aus Protest gegen die Vertuschung der aufgetürmten Risiken bei der HSH Nordbank zurück und erklärt heute an die Adresse Merkels: «Die deutsche Bundesregierung hat sich durch eine völlige Fehleinschätzung der tatsächlichen Finanz- und Verschuldungslage in Europa, aber auch durch mangelnde fachliche Kompetenz in eine sehr schwierige Entscheidungslage bringen lassen.»

Fürwahr eine brisante Lage. Die politische Klasse übt stramme Regierungsloyalität, selbst weite Teile der Opposition, während sich bei den Wählern längst Unmut breitmacht. Der Autor Hans-Olaf Henkel, ehemaliger IBM-Manager und Industrieverbands-Chef, füllt mit seinen Euro-kritischen Lesungen inzwischen Sporthallen. «Das Rütteln am Euro ist zum Tabu geworden», sagt er. Bürger und Politiker haben sich noch nie so weit voneinander entfernt, eine explosive Mischung.

Explosiv ist auch die Lösung, die nun von den Regierungschefs in Brüssel zusammengebraut wurde. Bis zum Jahr 2020 soll die griechische Verschuldung auf 120 Prozent des BIP gebracht werden, mit Hilfe eines «freiwilligen» Schuldenschnitts der Banken. Der brächte etwa 100 Milliarden, aber ein grosser Wurf ist das nicht. Es hilft nur unter Schönwetterbedingungen. Die Prüfer der Troika von IWF, EU und der EZB gehen davon aus, dass Griechenland bei einem drastischen Schrumpfen der Wirtschaft bis 2020 den Bedarf an Finanzen auf 450 Milliarden Euro fast verdoppelt.

Ein weiteres Hoffnungsmodell des Brüsseler Programms setzt auf eine Teilversicherung, die den zusammengebrochenen Anleihenmarkt der «Olivenstaaten» wiederbeleben soll. Das klappt aber nur, wenn die Investoren im grossen Stil die teilversicherten Anleihen kaufen, die nur zu 20 oder 25 Prozent gegen einen Zahlungsausfall versichert sind. Warum sollten sie?

Längst überfällig ist auch die Brüsseler Forderung an die Banken, bis Juli 2012 ein Minimum von neun Prozent Kernkapitalquote bereitzuhalten. Das ist weniger, als die Basel-III-Regeln verlangen, deren Inkrafttreten von den deutschen Finanzpolitikern mit grosser Verve hinausgezögert wurde. Zum Vergleich: Im Schnitt halten Schweizer Banken schon heute reines Eigenkapital von 24 Prozent der risikogewichteten Aktiven.

Die deutschen Banken hingegen haben ihre Krisenprobleme noch nicht verdaut. Rund 5 Milliarden neues Kapital müssen die grössten Geldhäuser aufbringen, allein 3 Milliarden die verstaatlichte Commerzbank und 1,2 Milliarden die Deutsche Bank. Das war eigentlich auch ohne Gipfelbeschlüsse klar: Diese Banken müssen in der kommenden Bilanzierungsrunde ihre Griechenland-Engagements ohnehin wertberichtigen.

Schlecht kapitalisiert. Frankfurt am Main. An der Taunusanlage strahlen die Bankentürme der Deutschen Bank in die Nacht hinaus. Auch sie verkörpern Macht und Grösse. Ihr öffentliches Image und ihre bilanzielle Realität sind zwei Welten: Das einzige deutsche Geldhaus mit nennenswerter internationaler Bedeutung ist schlecht kapitalisiert. Es steuert eine gewaltige Bilanzsumme von 2282 Milliarden Euro mit nur 51,8 Milliarden Eigenkapital. Die Vermögenswerte in der schlechten Level-3-Risikokategorie – illiquide Assets, deren Marktwert derzeit nicht ermittelt werden kann – sind gegenüber dem Vorjahr sogar noch gestiegen und werden mit 49,5 Milliarden in den Büchern kalkuliert: nahezu das Volumen des gesamten Eigenkapitals. Ausserhalb der Bank weiss niemand, was sich hinter diesem Posten versteckt. Und niemand kann erkennen, ob diese Werte nicht geschönt bilanziert sind.

Zum Vergleich: Die UBS hat ihre Werte in der Level-3-Kategorie auf rund 20 Milliarden Euro heruntergefahren. Die zehn grössten US-Banken halten in dieser Kategorie durchschnittlich 25 Milliarden Euro. In deutschen Medien ist dies allerdings kein Thema. Die Deutschen glauben an ihre Deutsche Bank.

Weitere Milliardenrisiken sind inzwischen aus dem Bankensystem ausgebucht und in den Bilanzen von staatlich garantierten Auffanggesellschaften deponiert, in sogenannten Bad Banks. So hält die Resterampe der Düsseldorfer Landesbank WestLB allein 9,3 Milliarden Euro Anleihen aus den PIIGS-Staaten Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien. Dennoch hat die WestLB immer noch Problempapiere in ihren Büchern, gesamthaft rund 3,4 Milliarden Staats- und Bankenanleihen aus PIIGS-Staaten.

Schlummernde Risiken. Die Bad Bank der verstaatlichten Hypo Real Estate hielt im Sommer 7,2 Milliarden an Griechenlandanleihen. Laut einer Expertenstudie auf der Basis des vertraulichen Abwicklungsplanes hat sie rund 50 Milliarden Ausfallrisiken in den Büchern. Weitere Milliardenrisiken schlummern in der Bad Bank der Sächsischen Landesbank und belasten die Haushalte des Freistaates Sachsen. Das Risikomanagement der Bad Banks ist einfach: Allfällige Verluste sind vom Staat auszugleichen.

Gewiss, der deutsche Werkplatz hat sich passabel gehalten, doch der Finanzplatz ist eine schwere Last. Als scheidender Bundesbank-Chef hat der designierte UBS-Verwaltungsrat Axel Weber Deutschlands Kosten aus der Bankenkrise auf 500 Milliarden Euro beziffert. Wie viel auch immer das Land noch aus dem Crash seiner Banken zu verdauen hat, weiss niemand genau. Klar ist aber, dass die Schäden in absoluten Zahlen längst das Volumen übersteigen, das die amerikanische Regierung für ihre Bankenrettung aufbringen musste.

Fast jeden Tag nimmt das Land eine Milliarde neue Kredite auf. Die Staatsverschuldung beträgt heute mehr als zwei Billionen Euro. Der Mittelstand erodiert, die dünn gewordene Schicht der Einkommens-Steuerzahler lebt an der Belastungsgrenze. Ihr Reallohn ist seit zehn Jahren real gesunken. Sie muss immer noch einen «Soli-Beitrag» für die Wiedervereinigungskosten berappen. Ihr Renteneintrittsalter ist bereits sukzessive auf 67 Jahre erhöht worden. Eigentlich ist bei der Gruppe der Leistungsträger der Gesellschaft nichts mehr zu holen. Aber wie soll Deutschland die kommende Runde bezahlen – wenn nicht mit neuen Schulden?

«Die Fäulnis muss aus dem System beseitigt werden», riet während der Grossen Depression der Bankier und Finanzminister Andrew Mellon dem amerikanischen Präsidenten Herbert Hoover. Alles müsse entschuldet werden, sagte Mellon: «Die hohen Lebenskosten kommen runter, das Luxusleben kommt runter. Die Leute werden härter arbeiten, ein moralischeres Leben führen. Die Werte werden berichtigt.»

Mellons Rezept lebt wieder auf. David Rhodes und Daniel Stelter, zwei Seniorpartner des Beratungskonzerns Boston Consulting Group (BCG), haben mit einer Studie diese radikale Lösung berechnet. Demnach betragen alle Schulden von Staat, Privaten und Unternehmen (mit Ausnahme der Banken) in Deutschland rund 200 Prozent des BIP. Alles, was über 180 Prozent des BIP liegt, müsste nach ihrer Kalkulation entschuldet werden, um eine nachhaltige Staatsfinanzierung zu erreichen. Die Deutschen müssten demnach 523 Milliarden abbauen.

Das ist weit mehr als die griechische Spardimension, von der Juncker mahnend in Zürich sprach. Pro Kopf der belastbaren deutschen Steuerzahler, die mindestens über ein Jahreseinkommen von 37 000 Euro verfügen, wären dies mehr als 58 000 Euro.

Aber wie soll diese Summe aufgebracht werden? Rhodes und Stelter sehen die Lösung in einer einmaligen Vermögensabgabe. Dabei müsste der deutsche Staat nicht weniger als elf Prozent der Privatvermögen konfiszieren.

Ein unmöglicher Plan? Keineswegs. Deutschland hat Erfahrung darin, die Bürger schlagartig zur Kasse zu bitten. Der Gründungs-Bundeskanzler Konrad Adenauer setzte 1952 auf eine Vermögensabgabe und auf eine staatliche Zwangshypothek, die allen Hausbesitzern ins Grundbuch eingetragen wurde. Auch die BCG-Autoren präferieren eine neue Immobiliensteuer.

Wie auch immer sich die Deutschen aus der eigenen Verschuldung befreien werden, die Zahlen zeigen: Sie werden Europa nicht retten können. Sie haben mit sich selbst genug zu tun.