Ein Pavillon an der ETH in Zürich. Fred Kindle spricht vor rund achtzig Alumni der Hochschule. Er spricht von «speziellen Gefühlen», die ihn bewegen, wenn er durch die Hallen seiner Alma Mater wandelt, er spricht von den «Erfahrungen eines mehrjährigen Transformationsprozesses», die er als Chef des Maschinenbaukonzerns Sulzer gemacht hat. Er spricht ohne Manuskript, fast druckreif, geleitet nur von ein paar Folien, die er an die Wand projiziert. Es ist ein Heimspiel für Fred Kindle: ein vertrautes Gelände. Ein Thema, das er sich selber ausgesucht hat. Ein ihm wohlgesonnenes Publikum, das aus Respekt vor der Leistung eines der Ihren nur höfliche Fragen stellt. Alles sicher, alles stabil, alles unter Kontrolle. Solche Situationen liebt Fred Kindle.

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Schliesslich lautet seine Überzeugung: «Ein Manager ist dazu angestellt, Sicherheit zu erzeugen.» Dazu wird er in nächster Zeit bei ABB reichlich Gelegenheit haben. Jürgen Dormann, bis Ende Jahr noch auf dem ABB-Chefposten, hat den Milliardenkonzern in einer dramatischen Rettungsaktion vor dem Bankrott bewahrt. Kindle als sein Nachfolger soll dem Technologieunternehmen wieder Stabilität und Sicherheit verleihen. Ausgerechnet Kindle, der bisher als Chef der deutlich kleineren und nur teilweise erfolgreichen Sulzer unter dem Radarschirm der meisten Branchenbeobachter hindurchgeschlüpft ist. Ausgerechnet Kindle, mit dessen Nominierung für den ABB-Chefposten daher kaum einer gerechnet hat. Ausgerechnet Kindle, für den die Jobofferte selbst überraschend kam. Kann er das?

Den nötigen Biss hat der erst 45-Jährige. «Fred Kindle ist der Typ, der nicht den einfachsten Weg geht», sagt Heinz Nipp, der zusammen mit Kindle aufgewachsen ist. Kindle liebt seine Heimat Liechtenstein; sie hat ihn bis heute geprägt. «In Liechtenstein kann man mit relativ wenig Konkurrenz relativ schnell Karriere machen», sagt er. Für ihn keine ausreichende Herausforderung. Stattdessen liess er sich an der ETH zum Maschinenbauingenieur ausbilden, «weil das nicht das einfachste Studium ist». Danach landete der 1,95 Meter grosse Ex-Volleyballer beim Liechtensteiner Baukonzern Hilti, den er nach zwei Jahren wieder verliess, «weil die Welt grösser ist als das Ländle». Er zog nach Chicago und machte an der renommierten Kellog’s Business School einen MBA. Das Kräftemessen mit der amerikanischen Nachwuchselite hat ihm, wie er sagt, «die Augen geöffnet». Jetzt wollte er ganz hoch hinaus, bewarb sich bei McKinsey, wurde im New Yorker, später im Zürcher Büro angestellt und erwarb dabei jene Fähigkeit, die bis heute als seine herausragendste gilt: «Fred Kindle analysiert schnell und rational», sagt Beat Sigrist, ehemaliger McKinsey-Kollege und heute CEO beim Maschinenbaukonzern Schweiter. «Er kann ein komplexes Problem blitzschnell herunterbrechen und auf das Wesentliche reduzieren», sagt Eduard Rikli, ehemaliger Weggefährte und heute CEO von Mikron.

Drei Schweden und ein Deutscher – die bisherigen Chefs von ABB
Percy Barnevik, 1988–1996


Der Visionär: Baute ABB durch Dutzende Akquisitionen zum Weltkonzern auf. Weil er diese nicht integrierte, war seine ABB-Matrix am Ende kaum mehr steuerbar.


Heute lebt er zurückgezogen auf einer Insel vor Stock-holm, sitzt aber noch im Board von General Motors.


Göran Lindahl, 1997–2000


Der Irrläufer: Verkaufte die Kerngeschäfte und wollte ABB im New-Economy-Hype zu einem Wissenskonzern machen. Führte ABB mit ständigen Restrukturierun-gen in die Krise.


Heute ist er Chairman von Sony Europe und sitzt im VR von Ikea und AngloAmerican.


Jörgen Centerman, 2000–2002


Der ausgebremste Turbo: Hätte ABB mit energischen Massnahmen stabilisieren sollen, scheiterte an
mangelndem Support im VR.


Heute lebt er auf einer Insel vor Karlskrona (Schweden), wirbt dort für regionale Investments und sitzt im VR kleinerer Start-ups.


Jürgen Dormann, 2002–2004


Der Retter: Übernahm als VR-Präsident in der bittersten Krisenzeit auch den CEO-Job, weil sonst keiner da war, und bewahrte ABB mit harten Massnahmen vor dem Bankrott.


Heute ist er VR bei Allianz, IBM, Adecco, Aventis und bleibt VR-Präsident bei ABB.

So geschehen bei Sulzer, jenem Unternehmen, bei dem Kindle die letzten zehn Jahre tätig war. Zwar «hätte er bei McKinsey das Zeug zur Partnerschaft auf alle Fälle gehabt», sagt Thomas Knecht, damals wie heute Schweizer Chef der Unternehmensberatung. Doch Kindles Wunsch nach Führungsverantwortung war grösser als der nach einer langen Consultingkarriere. So heuerte er 1992 beim Winterthurer Maschinenbaukonzern an, den er zuvor beraten hatte. Sieben Jahre später, als er Leiter der industriellen Aktivitäten der damals zweigeteilten Sulzer wurde (der andere Teil, die Medizinaltechnik, gehört heute zum US-Konzern Zimmer), nahm die Öffentlichkeit zum ersten Mal Notiz von Fred Kindle. Die Asienkrise liess damals die Umsätze einbrechen. «McKindle», wie er intern genannt wurde, analysierte die Lage nüchtern und stellte fest, dass sein neuer Bereich zu gross war. Vom Verwaltungsrat holte er sich grünes Licht für sein Projekt «Performance»: Abbau von 2000 Stellen, Verkauf des Teilbereiches Hydro mit noch einmal 1700 Mitarbeitern – die NZZ schrieb von einem «Donnerschlag».

Dieser blieb ohne grosse Nebengeräusche. Denn trotz kühler McKinsey-Methodik hat Kindle den menschlichen Faktor im Auge behalten. Selbst die Arbeitnehmervertreter sind des Lobes voll darüber, wie er den Abbau durchzog. «Wir hatten nie den Eindruck, dass man uns über den Tisch ziehen wollte», erinnert sich Suzanne Steiner, Präsidentin der Arbeitnehmervereinigung Sulzer. Nicht nur, weil Geld für einen Sozialplan da war, sondern auch, weil Kindle die Gegenseite zwei Monate im Voraus in die Gespräche einbezog und immer offen und ehrlich kommunizierte.

Kindle scheut mit seiner pragmatischen Art auch nicht davor zurück, heilige Kühe zu schlachten. Das bewies er 2001, als er als neu gewählter CEO den von seinem Vorgänger Ueli Roost angedachten Radikalumbau Sulzers durchzog: Mehr als die Hälfte der industriellen Aktivitäten mit zwei Dritteln der Arbeitnehmer verkaufte er, darunter auch das traditionelle Kerngeschäft Textilmaschinen. Entsprechend wandelte Kindle auch die Unternehmenskultur vom familienähnlichen Ingenieursbetrieb zur renditeorientierten Beteiligungsgesellschaft. Das hat ihm am Standort Winterthur, wo Sulzer seit 1914 verwurzelt ist, herbe Kritik eingebracht. Der Liechtensteiner sass sie aus. «Fred Kindle denkt nicht nur an das Morgen, sondern zwei bis vier Jahre in die Zukunft», sagt Urs Fankhauser, Leiter Sulzer Chemtech. «Er hat die nötige Distanz zum Tagesgeschäft.»

Dass er mit derart drastischen Schritten auch – entgegen seiner Überzeugung – Unsicherheit schürte, nahm er in Kauf. «In manchen Situationen muss man in einem Unternehmen ein Drama veranstalten, um in den Leuten Emotionen zu wecken, die sie zu Kraftakten befähigen», sagt er. «Aber diese Kraft muss man kanalisieren. Und danach bald wieder für Stabilität sorgen.» Stabilität und Sicherheit.

Das Drama und den Kraftakt hat ABB in den letzten 18 Monaten bereits hinter sich gebracht. Was der schwedisch-schweizerische Konzern jetzt braucht, ist kein Sanierer, sondern ein Aufbauer. Ist Kindle der falsche Mann? «Es wäre grundlegend falsch, mich als Sanierer zu bezeichnen», widerspricht Kindle. «Restrukturieren muss jeder Manager können. Wachstum generieren ist das Spannendere.» Bei Sulzer Chemtech hat Kindle gezeigt, dass er beides kann: Als er 1992 dort anfing, war der Konzernbereich, der mit Ausrüstung für Chemiewerke und Raffinerien 100 Millionen Umsatz erzielte, in einer schweren Krise. «Wann steht auf diesem Hausdach ein ABB-Logo?», fragten ihn die Untergebenen, so gross war die Angst vor einer Übernahme durch den damals blühenden Zürcher Konkurrenten. Kindle schloss Betriebsstätten, strich Stellen und richtete die Sparte neu aus. Nach zwei Jahren waren die Ergebnisse wieder positiv, danach verdoppelte sich innert fünf Jahren der Umsatz allein durch internes Wachstum.

Zur Person
Fred Kindle


Fred Kindle, geboren 1959, studierte 1979 bis 1984 Maschinenbau an der ETH.


Die nächsten zwei Jahre arbeitete er im Marketing bei Hilti, bevor er 1986 einen zweijährigen MBA-Kurs in Chicago absolvierte. 1988 bis 1992 arbeitete er bei McKinsey in Zürich und New York. 1992 bis 1999 leitete er Sulzer Chemtech, ab 1999 Sulzer Industries. Von März 2001 bis diesen Juni war er CEO von Sulzer. Ab September arbeitet er sich bei ABB ein, ab Januar 2005 amtet er als CEO.

Dank Kindle. Er hört sich die Meinung der andern an, hat aber einen klaren Führungsanspruch. Und wenn er anderer Meinung ist, sagt er das deutlich. Nicht alle können mit Kindles direkter Art umgehen. «Wenn man ihn nicht kennt, kann dies auch mal brüskierend wirken», sagt Urs Fankhauser. «Er hat in der Sozialkompetenz noch lernen müssen. Das ist ihm inzwischen weitgehend gelungen», sagt ein ehemaliger Vorgesetzter.

Kindle ist so nüchtern und direkt, weil er Ungewissheit erst gar nicht aufkommen lassen will. Dabei war emotionale Instabilität lange Zeit das grosse Problem bei ABB, als unter Lindahl, Centerman und Dormann eine Restrukturierung die nächste jagte. «Menschen können mit allem leben, nur nicht mit Unsicherheit», sagt Kindle. Das gilt auch für ihn selbst. Geschäftlich will er prognostizierbare, verlässliche Zahlen, so wie sie die vier Sparten bei Sulzer liefern konnten. Der Bereich Hexis (Brennstoffzellen) hingegen, ein Venture mit ungewissem Ausgang, war ihm immer suspekt. «Überraschungen liebt Kindle überhaupt nicht», sagt Bruno Walser, langjähriges Konzernleitungsmitglied bei Sulzer und heute pensioniert. Seine Entscheide denkt Kindle vorher genau durch, spielt alle Szenarien durch, sichert sich nach allen Seiten ab. Und er vermeidet Wagnisse. «Zwischen zwei Varianten hat er sicher immer die risikoärmere gewählt», sagt ein ehemaliger Stabsmitarbeiter.

Den Punkt kann man zumindest bezüglich seiner Jobwahl nicht gelten lassen, denn bei ABB sitzt Kindle heute auf dem heisseren Stuhl als bei Sulzer. Doch er erklärt, warum Kindles Erfolg beim Winterthurer Maschinenbaukonzern nur ein halber war: Zwar hat er als CEO das Unternehmen gesundgeschrumpft und die Bilanz saniert. Doch der zweite Schritt, das Unternehmen anschliessend wieder auf die versprochenen drei Milliarden Umsatz wachsen zu lassen, ist ihm – anders als bei Chemtech – nicht gelungen. Organisch nicht, weil die Marktbedingungen schlecht waren. Extern nicht, weil Kindle der Mut für eine Übernahme fehlte. Nicht weniger als 90 Unternehmen prüfte er letztes Jahr, lediglich bei zwei kleineren konnte er sich zu einem Kauf durchringen, und das, obwohl Sulzer weit über eine halbe Milliarde Franken lockermachen könnte für eine Akquisition.

Kindles Pflichtenheft
Die Liste der Pendenzen ist lang – was der neue CEO anpacken muss.
  • Neuen Finanzchef finden.
  • Asbestklagen in den USA endgültig regeln.
  • Sparte Öl/Gas/Petrochemie abstossen.
  • Gebäudetechnik in Deutschland abstossen.
  • Ebit-Marge von 3,5 auf 8 Prozent erhöhen.
  • Schuldenberg von 7,9 auf 4 Milliarden US-Dollar reduzieren.
  • Kreditrating von Junk auf Investementgrade erhöhen.
  • Aktienkurs vorwärtsbringen.

«Ich fühle mich nicht schlecht dabei», sagt Kindle. «Man kann schnell eine medienwirksame Dramatik erreichen, ohne dass es dem Unternehmen letztlich etwas bringt.» Eine defensive Grundhaltung, mit der ein Investor gut schlafen kann und die Kindle mit Swisscom-Chef Jens Alder teilt, die ihm aber auch die gleichen Probleme einbringt. «Jemand, der alles bis ins letzte Detail analysieren will, verpasst vielleicht auch einmal eine Gelegenheit», sagt ein ehemaliger Sulzer-Verwaltungsrat.

Kindles Liebe zum Detail zeigt sich auch in der Sitzungskultur, die er bei Sulzer eingeführt hat. Jeden Monat war eine ganze Woche für Meetings reserviert: Montags kamen die ihm direkt unterstellten Stabsleute, anschliessend die Divisionschef mit deren Stäben, am Ende der Woche die Konzernleitung. Ein sehr konzentrierter Informationsaustausch, zahlenorientiert, in eher kühler Atmosphäre abgehalten. «Kindle ist kein Detailfetischist, aber er will genau wissen, was abgeht in seinem Konzern», sagt Walser. So kann ihm keiner seiner Spartenleiter einen Bären aufbinden. «Kindle weiss alles und meistens besser», stöhnt ein ehemaliger Kadermann. Und er habe deshalb, bezeugen Weggefährten, einen ausgesprochenen Sinn für das Machbare.

Management by Walking around ist nicht seine Sache. «Es hätte nicht geschadet, wenn er auch mal zu den einzelnen Tochtergesellschaften gegangen wäre», sagt ein ehemaliger Sulzer-VR. Stattdessen betreibt der Liechtensteiner Management by Objectives: Die Ziele macht er gemeinsam mit den Mitarbeitern aus («ich will nicht als Sonnenkönig Befehle ausgeben», sagt er selber), die Umsetzung delegiert er weitgehend, verbindet damit aber auch eine Bringschuld: «Der Sieg ist ihm zu melden», sagt ein ehemaliger Kadermann. Wenn aber der Sieg auf sich warten lässt, ist Kindle genau so hart und emotionslos wie bei seinen sonstigen Entscheiden. «Wer die Ziele nicht erreicht, muss über die Klinge springen, und zwar schnell», sagt der Ex-Kadermann. Die Sulzer-Konzernleitung sah in der Ära Kindle jedes Jahr markant anders aus.

Seine eigene Karriere hat Kindle zielgerichtet geplant. Als «gewieften Taktiker in eigener Sache» beschreibt ihn sein ehemaliger Personalchef. «Fred wusste schon immer, was er wollte. Er war weniger verspielt, nahm alles viel ernster als wir», erinnert sich Jugendfreund Heinz Nipp, heute in der Konzernleitung der LGT Bank. Auch als sich der Erfolg einstellte, hob Kindle nicht ab. «Er ist menschlich sehr solide, steht mit beiden Beinen auf dem Boden, ist ein Pragmatiker, kein Highflyer», sagt Peter Spuhler, Nationalrat, Unternehmer und ein langjähriger Freund. Das Wort «solide» fällt oft, wenn die Rede von Fred Kindle ist.

Seine Sachlichkeit wird auch im persönlichen Gespräch deutlich: Wenn er redet, holt er weit aus, ohne je den Faden zu verlieren, ist dabei durchaus freundlich und bemüht sich, ab und zu ein Lächeln einzustreuen. Aber ein Charismatiker à la Percy Barnevik ist er nicht. Auch wenn ABB lange Zeit vermutlich eher zu viel als zu wenig Charisma an der Konzernspitze hatte und darob manch einer die Realität aus den Augen verlor: Dass Kindle seine Untergebenen zwar überzeugen, aber nicht begeistern kann, kreiden ihm einige Weggefährten an.

«Eigentlich», sagt ein ehemaliger McKinsey-Kollege, «ist Kindle ein langweiliger Mensch.» Ist er das? Zu diesem Urteil kommen viele, die Kindle nur von seiner geschäftlichen Seite her kennen, und das sind die meisten. Denn Kindle trennt das Berufliche strikt vom Privaten. Im Freundeskreis ist der geschiedene Vater zweier Kinder ganz anders: «Man kann mit ihm Feste feiern, dass es kracht», sagt der befreundete CEO eines Schweizer Maschinenbaukonzerns. Etwa bei der Liechtensteiner Fasnacht, die Kindle jedes Jahr nutzt, um alte Schulfreunde wiederzusehen. Einmal gewann er dabei sogar einen Preis für die beste Verkleidung: Zu seiner Hilti-Zeit war er mit zwei Freunden als «Ghostbuster» maskiert unterwegs; am Kostüm hatte er in wochenlanger Kleinarbeit herumgebastelt, damit es der Filmvorlage möglichst ähnlich war. «Fred macht keine halbe Sachen, auch privat nicht», sagt Daniel Kieber, ein Schulfreund und heute Anwalt in Liechtenstein.

Das gilt auch für Kindles grosse Leidenschaft, den Wein, wo er sich im Lauf der Zeit ein grosses Fachwissen erworben hat. «Wäre er nicht in die Wirtschaft gegangen, wäre er Master of Wine geworden», sagt Headhunter Sandro Gianella, der den Liechtensteiner seit Jahren gut kennt. Seine Freunde lädt Kindle regelmässig zur Weindegustation; er serviert dann edle Tropfen plus sein Fachwissen, Lebenspartnerin Mireille die Häppchen. Pech nur, dass ihm vor drei Jahren der Weinkeller ausgeräumt wurde – ausgerechnet als er gerade umzog und die Kartons auf dem Sulzer-Areal zwischenlagerte. Gelegentlich hat Kindle noch Zeit für Ausfahrten mit seiner Harley-Davidson (Fahrstil: sehr defensiv) und den Besuch des Casinotheaters Winterthur: Als Lorenz Keiser dort in seinem Stück «Konkurs» ausgerechnet Sulzer und ABB durch den Kakao zog, konnte auch Kindle herzlich lachen. «Er ist ein sehr ausbalancierter Mensch», sagt Kleiber. Stabil eben.

In der strikten Trennung von Privatem und Geschäftlichem gleicht Kindle seinem Vorgänger Dormann, der die Kandidatensuche persönlich leitete. Auch sonst sind sie ähnlich: Beiden ist die schnelle Auffassungsgabe und das vernetzte Denken gemein, beide scheuen vor unpopulären Massnahmen nicht zurück, beide kommunizieren offen, wirken aber durch ihre nüchterne Direktheit bisweilen unnahbar. Und beide hatten sie ähnliche Probleme zu lösen: massiver Stellenabbau, Reduktion der Geschäftsfelder, Sammelklagen in den USA, unbefriedigende Margen. «Vermutlich werden sie gut miteinander harmonieren», sagt einer, der beide kennt.

Die Arbeitsteilung ist dabei klar: Dormann hat bereits angekündigt, ein «aktiver VR-Präsident» zu bleiben, wenn er am 1. Januar 2005 den CEO-Posten abgibt (Kindle arbeitet sich bereits ab 1. September bei ABB ein; danach wird er wie sein Vorgänger ein Jahresgehalt in der Grössenordnung von drei Millionen Franken erhalten). Die Strategieentwicklung wird weiter in den Aufgabenbereich des Deutschen fallen, ebenso wie die Pflege der Investoren, denn Kindle ist bei den angelsächsischen Anlegern ein unbeschriebenes Blatt. Der neue CEO – er hat inzwischen auch einen rotweissen Pass, womit zum ersten Mal in der ABB-Geschichte ein Schweizer an der Spitze steht – muss sich also auf das Tagesgeschäft beschränken. Dabei riskiert er, mit den Spartenleitern Peter Smits (Elektrotechnik) und Dhinesh Paliwal (Automation) zu kollidieren. Diese hatten unter Dormann grosse Freiheiten; mangels Fachwissen konnte und wollte ihnen der Quereinsteiger aus der Pharmaindustrie nicht dreinreden. Kindle hat das Wissen und wird es einbringen: «Die Spartenleiter werden vermutlich etwas an Freiheit verlieren», sagt er, «aber auch an Unterstützung gewinnen.» Fraglich, ob sich die beiden das gefallen lassen. Paliwal liess im persönlichen Gespräch mit der BILANZ letzten Herbst durchblicken, dass er sich einen neuen Job sucht, falls ihm der neue Chef zu stark dreinredet.

Schon jetzt muss Kindle Ersatz suchen für Finanzchef Peter Voser, der viel zur Sanierung (und zur neuen Glaubwürdigkeit) von ABB beigetragen hat und der inzwischen zu seinem früheren Arbeitgeber Shell zurückgekehrt ist (siehe Artikel zum Thema «Machtnetz Peter Voser: Austieg ins Establishment»). Das ist nur die drängendste einer Reihe von Aufgaben, die der neue CEO bei ABB lösen muss (siehe Artikel zum Thema «Kindles Pflichtenheft»). Es sind freilich kaum Aufgaben, mit denen man sich grossen Ruhm holen kann. Die harten Schnitte hat Dormann durchgezogen, der dafür als Retter von ABB in die Wirtschaftsannalen eingehen wird. Kindle muss nun die mühevolle Kleinarbeit machen, den Turnaround vollenden und wieder internes Wachstum generieren. Erst mittelfristig kann ABB wieder extern wachsen, durch Übernahmen oder Partnerschaften. Dormann hat entsprechende Absichten bereits angekündigt und in der «Financial Times» sogar konkrete Ziele genannt: Teile der französischen Anlagenbauer Alstom beziehungsweise Areva, derzeit selber in Bedrängnis, hat er im Visier. Macht er seine Pläne wahr, fände ABB zu seinen Wurzeln zurück: An Alstom hat der damalige Konzernchef Göran Lindahl 1999 das einstige Kerngeschäft Kraftwerksbau verkauft.

Doch das Thema Akquisitionen hat noch Zeit. Bis ABB wieder zum Weltkonzern früherer Tage werden kann, muss das Unternehmen seine Hausaufgaben machen. «Die nächsten 18 Monate ist Stabilisierung angesagt», sagt Kindle. Da ist es wieder, sein Lieblingsthema.