Während fast fünf Jahrzehnten, bis zu Beginn der Neunzigerjahre, war die Schweiz eine Insel der Glückseligen: Von Jahr zu Jahr nahm der Wohlstand zu, für zwei Generationen war Vollbeschäftigung - bei steigenden Reallöhnen - eine Selbstverständlichkeit, die Arbeitslosigkeit schien überwunden. Wir hatten es offensichtlich besser gemacht als die Nachbarn. Und dann dies: Ab 1991 nahm die Arbeitslosigkeit sprunghaft zu und erreichte Ende 1997 mit über fünf Prozent einen historischen Höchststand. Mehr als 200 000 Menschen waren bei den Arbeitsämtern als stellenlos registriert. Der Wachstumsmotor war ins Stottern geraten, die Reallöhne stagnierten. Vorbei war es mit dem «Sonderfall Schweiz».

War es wirklich vorbei? Zugegeben, für die Schweiz war eine Arbeitslosenquote von fünf Prozent ein Schock. Strukturelle Verwerfungen, insbesondere der beschleunigte Umbau von der produktions- zur technologiegesteuerten Dienstleistungsgesellschaft, forderten massenhaft Opfer. Kam hinzu, dass sich die Schweiz 1992 mit dem EWR-Nein den Zugang zum grossen europäischen Markt willentlich erschwerte. Kam weiter hinzu, dass die Schweiz im gleichen Zeitraum von ihrer nicht immer rühmlichen Vergangenheit eingeholt wurde. Das Ergebnis war eine Mischung aus erschwerten Rahmenbedingungen, zyklisch nachlassender Konjunktur und einer pessimistischen Grundstimmung, die weite Teile der Bevölkerung erfasste. Und dies führte dazu, dass die Signale vom Arbeitsmarkt über Gebühr dramatisiert wurden.

Im Vergleich zu den anderen Industrieländern, insbesondere den europäischen, war nämlich selbst eine Arbeitslosenquote von über fünf Prozent alles andere als dramatisch: Deutschland, Italien und Frankreich wiesen (und weisen zum Teil bis heute) zweistellige Arbeitslosenquoten aus, in Spanien sind mehr als 20 Prozent erwerbslos. Und auch das Job-Wunderland USA hatte niemals eine tiefere Arbeitslosenquote als die Schweiz.

Selbst mitten in der tiefsten Krise seit den Dreissigerjahren war also die Schweiz eine Insel der zumindest relativ Glückseligen. Und darin besteht das eigentliche «Jobwunder Schweiz», das der Titel dieses Dossiers verheisst. Die Schweiz hatte in der Nachkriegszeit zunächst mit ihrem intakten Produktionsapparat vom Wiederaufbau Europas profitiert und partizipierte anschliessend an einem der dauerhaftesten Aufschwünge der europäischen Geschichte. Konjunkturdellen, wie sie Mitte der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre auftraten, steckte die Schweiz locker weg - was schon darum leichter fiel, weil sie mit ihrem hohen Ausländeranteil über einen äusserst flexiblen Arbeitsmarkt verfügte: Abgebaute Stellen schlugen sich nicht in Arbeitslosigkeit nieder, sondern in einem Rückgang des Ausländeranteils.

In den Achtzigerjahren erlebte die Schweiz einen wahren Beschäftigungsboom (siehe «Niveauverschiebung»), der vor allem von der Branche der Finanzdienstleistungen getrieben war, sich aber für fast alle anderen Branchen segensreich auswirkte. Die Zahl der Erwerbstätigen schnellte von 3,2 Millionen auf gegen 3,9 Millionen in die Höhe - um fast 22 Prozent also. Davon profitiert haben in erster Linie die Frauen und die ausländischen Erwerbstätigen. Die Zahl der erwerbstätigen Frauen stieg in diesem Jahrzehnt von 1,1 auf 1,5 Millionen, also um gut 30 Prozent, was ihren Anteil am Arbeitsmarkt von 36 auf 39 Prozent erhöhte. Die Zahl der erwerbstätigen Männer nahm ebenfalls zu, wenn auch nur um 15 Prozent, sodass sich ihr Anteil von 64 auf 61 Prozent verminderte.

Zu Beginn der Neunzigerjahre war die Schweiz also ein vollbeschäftigtes Land mit einer überdurchschnittlich hohen Erwerbsquote, mit einem steigenden Frauenanteil, das einen jahrelangen, anhaltenden Boom hinter sich hatte. Mit Ausnahme der Bauwirtschaft, der Landwirtschaft sowie der Textil- und Bekleidungsindustrie hatten alle Branchen vom Beschäftigungsboom profitiert (siehe «Wachstum in fast allen Branchen»). Mit anderen Worten: Der erste Teil des «Jobwunders Schweiz» fand in den Achtzigerjahren statt und hob unser Land auf ein im Vergleich zu allen Nachbarn beneidenswertes Niveau an.

Der zweite Teil des «Jobwunders Schweiz» ist weniger offensichtlich, aber nicht minder erstaunlich: Zwar stieg die Arbeitslosigkeit vorübergehend bis auf 5,2 Prozent an (1997). Seither aber vermindert sie sich kontinuierlich und hat vor kurzem die Dreiprozentgrenze nach unten durchstossen. Am stärksten vom Anstieg betroffen waren die Frauen (maximale Arbeitslosenquote: 5,7 Prozent) und die Ausländer (10,7 Prozent). Für die Schweizer Männer stieg die Arbeitslosenquote kaum je über drei Prozent.

Das «Jobwunder» besteht nun darin, dass sich dadurch weder am Niveau noch an der personellen Struktur der Erwerbstätigen Nennenswertes geändert hätte (siehe «Niveauverschiebung» auf dieser Seite, Ausschnitt). Derzeit sind in der Schweiz knapp über 3,9 Millionen Menschen erwerbstätig, ungefähr gleich viele wie zu Beginn der Neunzigerjahre nach einem beispiellosen Aufschwung. Der Anteil der Männer hat weiterhin geringfügig abgenommen, die Frauen haben weiter zugelegt; der Ausländeranteil ist praktisch unverändert geblieben. Statistisch und aus der Vogelperspektive gesehen, ist also in der Neunziger-Krise am Arbeitsmarkt fast gar nichts geschehen. Wir befinden uns nach wie vor in Reichweite der Vollbeschäftigung.

Was sich freilich dramatisch verändert hat, ist die Struktur des Arbeitsmarktes. Bewegte sich in den Achtzigerjahren die Beschäftigung noch in fast allen Branchen synchron mit der Konjunktur - alle Branchen nahmen zu -, so wird das Bild in den Neunzigerjahren deutlich differenzierter (siehe «Wachstum in fast allen Branchen» auf dieser Seite, rechter Teil). Insgesamt konnte die Wirtschaft zwar das Beschäftigungsniveau halten. Bewerkstelligt wurde dies freilich, indem ganz wenige Branchen massiv zulegten (Gesundheitswesen, übrige Dienstleistungen, Energie, Gas, Wasser, Umwelt sowie etwas weniger ausgeprägt der Finanzsektor), während andere Branchen nicht minder massiv einbrachen (Steine, Erden, Bergbau, Textil und Bekleidung, übriges verarbeitendes Gewerbe, Kunststoff, Kautschuk, Leder und das Baugewerbe).

Während die deutlich expandierenden Branchen insgesamt mehr als 50 Prozent aller Erwerbstätigen beschäftigen, bringen es die massiv Not leidenden nur auf knapp elf Prozent - und unter diesen wird die Bauwirtschaft (7,7 Prozent Erwerbstätigenanteil) in nächster Zukunft stark von milliardenschweren Infrastrukturprojekten der öffentlichen Hand wie der Neat profitieren.

Matchentscheidend für die künftige Beschäftigungslage sind einerseits die grossen Branchen dazwischen (Metall, Maschinen, Elektrotechnik, der Handel und das Gastgewerbe, die zusammen rund einen Drittel der Erwerbstätigen beschäftigen), andererseits die etwas diffuse Sammelbranche «übrige Dienstleistungen», die ihren Anteil zwischen 1980 und 1998 von 14,7 auf 23,7 Prozent zu steigern vermochte. Unter dieser Rubrik sind in den offiziellen Statistiken unter anderem die «Dienstleistungen für Unternehmen» untergebracht. Und das heisst: Unternehmensberatungen aller Art, von Werbung und Public Relations über strategische Beratung bis zu Informatikdiensten und IT-Beratung - also just jene Wirtschaftszweige, die am stärksten mit den technologischen Umwälzungen zu tun haben, die die ganze Wirtschaftsstruktur verändern.

Wie wichtig diese Wirtschaftszweige für die Beschäftigung sind, zeigen nicht nur die gesamtwirtschaftlichen Statistiken. Auch unsere Umfrage (siehe Top Ten. Vollständige Auswertung in der neusten BILANZ-Ausgabe) hat ergeben, dass Unternehmen aus diesen Branchen in der jüngsten Vergangenheit am meisten neue Stellen geschaffen und am meisten offene Stellen anzubieten haben. Auch eine Art Jobwunder.
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