Das erste Frachtschiff aus Amsterdam traf im Dezember 1942 in der Hansestadt Bremen ein. An Bord befanden sich 220 Armsessel, 105 Betten, 363 Tische, 598 Stühle, 126 Schränke, 35 Sofas, 307 Kisten mit Glasgeschirr, 110 Spiegel, 158 Lampen, 32 Uhren, ein Grammofon und zwei Kinderwagen. Es handelte sich um die Habseligkeiten der niederländischen Juden, die im Sommer zuvor in Konzentrationslager deportiert worden waren. Es war der Beginn der «M-Aktion» des NS-Regimes; das Bremer Unternehmen sollte fortan eine Schlüsselrolle bei der systematischen Ausplünderung der Juden in den besetzten Nachbarstaaten spielen. Der Dampfer war von der Speditionsfirma Kühne + Nagel gechartert worden.

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Über diese dunkle Geschichte hat der Logistikgigant bis anhin geschwiegen. Er ist heute ein Weltkonzern mit Holdingzentrale in Schindellegi bei Feusisberg SZ, 1000 Niederlassungen in mehr als 100 Ländern und 63'000 Mitarbeitern. Kühne + Nagel ist damit die Nummer drei auf dem Weltmarkt und an der Börse 16 Milliarden Franken wert. Doch nun, just zum 125-Jahr-Jubiläum, tauchen historische Dokumente über die Verstrickung von Kühne + Nagel im Hitlerstaat auf, die eine schreckliche Seite der Unternehmensgeschichte ausleuchten.

Zur Jubiläumsfeier am 1. Juli sollten die schönen Seiten der Geschichte erzählt werden, so stellten es sich die Marketingleute von Kühne + Nagel vor. Im Januar wurden in der Hansestadt Bremen, dem Gründungsort, zwei Info-Container auf die grosse Reise geschickt. Einer nach Toronto über New York nach Santiago de Chile und retour, der zweite rund um das Horn von Afrika via Tokio nach Shanghai, Hongkong, Dubai und zurück. Ein Werbefilm über die Firmengeschichte erzählt von den bescheidenen Anfängen, dem frühen Tod des Mitgründers Friedrich Nagel 1907 und behauptet, dass die Kühne-Familie die Firma vollständig übernommen habe. Das ist wohl eine verkürzte Darstellung, der Film endet mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges 1914.

In dritter Generation

Für das Zentrum der Feierlichkeiten wählte man geschichtsbewusst den Gründungsort in Deutschland, nicht den heutigen Sitz in der Schweiz. Heute thront Klaus-Michael Kühne (78) in dritter Generation als Ehrenpräsident des Verwaltungsrates über dem Konzern. 1966 folgte er seinem Vater Alfred auf den CEO-Posten. Bereits 1959 kam die Kühne + Nagel AG in die Schweiz. Alfred Kühne gründete damals – mit dem führenden Steuerrechtler Leo Fromer als Verwaltungsrat – die Schweizer Gesellschaft. Dann wurde an der Zürcher Löwenstrasse ein Büro eröffnet, 1996 kam der Umzug nach Pfäffikon und 1992 jener nach Schindellegi in die heutige Zentrale.

Klaus-Michael Kühne ist deutscher Staatsbürger. Er hält nach wie vor grosse Stücke auf seine hanseatische Heimat. In Hamburg hilft er dem Sportverein HSV, er rettete dort die Reederei Hapag-Lloyd und erklärte Investoren, warum er eine Beteiligung der ebenfalls interessierten dänischen Reederei Maersk ablehnte. «Wir wollen uns möglichst reinrassig deutsch halten», sagte Kühne.

Die Verwicklung in das Geschehen im NS-Staat war bislang bei Kühne + Nagel kein Thema. Es wurde keine unabhängige Historikerkommission zur Aufklärung dieser Geschichte berufen, so wie viele andere deutsche Konzerne dies mit Blick auf ihre gesellschaftspolitische Verantwortung getan haben. Anfragen von Historikern mit der Bitte um Einsicht in die Firmenarchive wurden abgelehnt. Im Bombenkrieg seien die Firmenzentrale in Bremen und die wichtige Hamburger Niederlassung abgebrannt und das Schriftgut vernichtet worden.

Raubmaschine

Doch seit nunmehr rund zehn Jahren forscht eine junge Historikergeneration über die kriminellen Raubzüge des NS-Regimes in den militärisch besetzten Gebieten und die systematische Ausplünderung der Juden. Auf diese «Raubmaschine» machte zunächst der NS-Forscher Götz Aly in seinem Buch «Hitlers Volksstaat» aufmerksam, ihm folgten jüngere Historiker mit Arbeiten darüber, wie dieser Diebeszug von den Institutionen des NS-Staates vorbereitet wurde und wie die Wirtschaft davon profitierte. Sie mündeten in jüngster Zeit in zahlreichen Publikationen.

Und schliesslich machte im März ein Dokumentarfilm des Bayerischen Rundfunks einige dieser Erkenntnisse über die Rolle von Kühne + Nagel in der NS-Zeit publik.

Das Unternehmen reagierte etwas indigniert mit einer Erklärung unter dem Titel «Bekenntnis zu seiner Geschichte». Darin gesteht es ein: «Wie andere Unternehmen, die bereits vor 1945 bestanden, war Kühne + Nagel in die Kriegswirtschaft eingebunden und musste in dunklen und schwierigen Zeiten seine Existenz behaupten. Schon im Ersten, aber erst recht im Zweiten Weltkrieg war dies eine grosse Herausforderung.»

Das Unternehmen sei zwischen 1939 und 1945 über die deutschen Grenzen hinaus in den besetzten Gebieten tätig gewesen und habe vor allem Versorgungslieferungen für die Armee durchgeführt. «Ebenfalls war man im Auftrag der Reichsregierung mit den Transporten von beschlagnahmten Gütern politisch und rassisch Verfolgter befasst. Hierbei handelte es sich grösstenteils um Möbel», wurde erklärt. Man wolle neue Erkenntnisse im Firmenarchiv zur «firmeninternen Dokumentation» erfassen. Und die Entschuldigungsformel lautet so: «Kühne + Nagel ist sich der schändlichen Vorkommnisse während der Zeit des Dritten Reiches bewusst und bedauert sehr, dass es seine Tätigkeit zum Teil im Auftrag des Nazi-Regimes ausgeübt hat. Zu berücksichtigen sind die seinerzeitigen Verhältnisse in der Diktatur sowie die Tatsache, dass Kühne + Nagel die Kriegswirren unter Aufbietung aller seiner Kräfte überstanden und die Existenz des Unternehmens gesichert hat.»

Kollaboration

Die NS-Forscher sagen es etwas klarer. Frank Bajohr vom Münchner Zentrum für Holocauststudien sieht in den Geschäften von Kühne + Nagel «eine relative Nähe zum Massenmord». Das Unternehmen habe sich «eifrig in den Dienst der Gestapo gestellt», sagt der junge Historiker Johannes Beermann. Bei der Verschickung des zusammengeraubten Mobiliars der deportierten Juden habe die verantwortliche NS-Dienststelle Westen eng mit der Spedition Kühne + Nagel zusammengearbeitet, die die Organisation zahlreicher Transporte aus den besetzten Westgebieten ins Reich übernommen habe.

«Dabei gelang es dem Fuhrunternehmen, sich so erfolgreich gegen potenzielle Mitbewerber durchzusetzen, dass Kühne + Nagel im Verlauf der ‹M-Aktion› quasi das Monopol auf diese lukrativen Staatsaufträge erhielt.» Es geht um die Verantwortung der zweiten Generation in der Firma, um Alfred und Werner Kühne, die Söhne des Gründers.

«M-Aktion» stand für Möbel-Aktion. Die Operation wurde seit Januar 1942 vom NS-Chefideologen Alfred Rosenberg vorbereitet, der sich zuvor schon beim Raub an Kunstschätzen aus jüdischem Besitz einen Namen gemacht hatte. Die Möbel und Einrichtungsgegenstände der jüdischen Familien in den besetzten Gebieten wurden zunächst akribisch erfasst und dann sofort nach deren Deportation aus den Wohnungen geräumt. Augenzeugen berichteten, wie Frachter von Kühne + Nagel das Raubgut in Amsterdam aufnahmen. Die Möbel wurden dann nach Deutschland gebracht, dort versteigert oder an angebliche «deutsche Bombenopfer» verteilt. Im Volksmund wurde das Raubgut als «Hollandmöbel» bezeichnet, im amtlichen Schriftverkehr nannte man es «Judengut aus Holland».

Im Auftrag des Reichsfinanzministeriums

1942 reiste ein Geschäftsführer von Kühne + Nagel nach Biarritz, um dort ein Sammellager voller Raubgut fachmännisch zu besichtigen. Und im Auftrag des Reichsfinanzministeriums holte Kühne + Nagel auch Umzugsgut deutscher Juden aus den Häfen in Genua und Triest ab, das dort bei Kriegsbeginn hängen geblieben war. Gesamthaft hatte die NS-Dienststelle bis August 1944 in den Niederlanden, Belgien, Frankreich und Luxemburg mehr als eine Million Kubikmeter Möbel abtransportieren lassen. Es waren die Einrichtungen von aus rund 65'500 Wohnungen deportierten und ermordeten jüdischen Familien. Allein in Paris sollen es 40'000 Wohnungen gewesen sein. Dafür war eine grosse logistische Kapazität notwendig: 500 Frachtkähne und 674 Züge mit 26'984 Güterwaggons.

Kühne + Nagel und einige weitere Speditionen kamen zum Zuge, weil staatliche und militärische Logistik im unmittelbaren Kriegseinsatz benötigt wurde. Kühne + Nagel erhielt den Auftrag direkt vom Reichsfinanzministerium über das Berliner Firmenbüro. In den deutschen Häfen kam das Geschäft mit der Überseefracht zwar nach Kriegsbeginn zum Erliegen. Aber das Raubgutgeschäft florierte und verschaffte den Kühnes einen prächtigen Verdienst. Alfred Kühne erzielte 1942 einen Spitzenverdienst von 270'000 Reichsmark. Heute wäre er damit Einkommensmillionär.

Im Management verlief die Karriere für seinen Kollegen Adolf Maass weniger reibungslos. Der Jurist war 1910 als Teilhaber und Manager der Hamburger Niederlassung bei Kühne + Nagel eingestiegen. Im April 1933, kurz nach Hitlers Machtergreifung, wurde er von Alfred und Werner Kühne aus dem Unternehmen herausgedrängt. Maass war Jude. Er war zeitweise mit 45 Prozent der grösste Teilhaber des Unternehmens. Seinen Anteil musste er zunächst reduzieren, dann unterschrieb er einen Knebelvertrag, der seinen Ausstieg besiegelte – ohne Abfindungszahlung. Neun Tage nach Maass’ Ausstieg wurde Werner Kühne in die NSDAP aufgenommen.

Der herausgedrängte Adolf Maass war Doktor der Rechte, er war ein gebildeter, belesener Mann. Seine Bibliothek im Herrenzimmer seines Hauses an der Hamburger Blumenstrasse wurde unter den Freunden bewundert. Seine Ehefrau Käthe entstammte einer jüdischen Industriellenfamilie, die damals die grösste Wäschefabrik Europas betrieb. Maass musste im September bei der «Devisenstelle» des Hamburger Oberfinanzpräsidenten, einer «Sicherungsanordnung» folgend, seine gesamten Vermögen exakt deklarieren.

Enteignung

Diese Anordnung war Teil eines repressiven Programms von Hitlers Fiskalbehörden gegen die jüdischen Bürger, das bereits wenige Jahre nach der Machtergreifung einsetzte. Damit wurde zunächst die Finanzlage der Juden erfasst und danach zur systematischen finanziellen Unterdrückung genutzt: erst registriert, dann besteuert und schliesslich konfisziert. Teil des Programms waren Abgaben auf das Fluchtgut, das wegziehende Juden mitnehmen wollten, die bis zu 100 Prozent des Wertes vom Umzugsgut erreichten. Maass, dem Manager von Kühne + Nagel, wurden eine Reichsfluchtsteuer und eine Judenvermögensabgabe auferlegt, die fast ein Drittel seines gesamten Vermögens betrug.

Am 9. August 1945 erhielt ein Sohn von Adolf Maass, dem die Familie eine rechtzeitige Flucht ermöglicht hatte, eine Notiz vom deutschen Rückwanderungsbüro: «Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Ihre Eltern von hier im vorigen Jahr nach Auschwitz deportiert worden sind und dass über ihr Schicksal nichts bekannt ist. Leider muss damit gerechnet werden, dass sie nicht mehr am Leben sind.» Zur Erinnerung an die ermordeten Käthe und Adolf Maass wurden bei ihrem früheren Wohnhaus auf der Hamburger Blumenstrasse zwei «Stolpersteine» ins Pflaster eingelassen.