Abbau ist die Fratze des effizienzgetriebenen Kapitalismus. Niemand mag es, wenn am Arbeitsplatz der Sparhammer niedersaust, einmal abgesehen von ein paar kaltschnäuzigen Excel-Taliban. Wenn der eigene Betrieb Stellen reduziert, wenn der Vorgesetzte ein zukunftsträchtiges Projekt absägt oder der Finänzler den kostenlosen Obstkorb streicht – aus der Optik der Betroffenen ist das immer unschön, unnötig und demotivierend.
Wer im eigenen Ökosystem derzeit keinen Abbau erlebt, kann sich jederzeit über all jene Abwrackereien empören, die links und rechts geschehen. Abbau beim Fernsehprogramm, Abbau bei Restaurant-Öffnungszeiten oder Perma-Abbau beim Unternehmen, das uns allen gehört: der Migros. 2024 geht in die nationale Wirtschaftsgeschichte ein als ganzjähriges Public Viewing der M-Abrissbirne.
Die Nachspielzeit dauert noch ein paar Jahre. Kürzlich enthüllte die «NZZ am Sonntag», dass die Migros die Zahl ihrer Eigenmarken bis 2030 von über 150 auf rund 100 abbauen will. Titel der Exklusivmeldung: «Massaker im Markenzoo».
Der richtige Weg, um Komplexität aus dem System zu nehmen
Die Schocker-Schlagzeile mag einige Anforderungen an eine attraktive Titelzeile erfüllen, aber die geplante Aktion wird dabei sinister zum hausinternen Marken-Meuchelmord hochgeschrieben. Das ist sie nicht. Was sie ist: der richtige Weg, um Komplexität zu reduzieren. Schwerfälligkeit aus dem System zu nehmen und Wildwuchs einzudämmen.
Auch mit 100 Eigenmarken ist das M-Biotop immer noch sehr vielfältig. Die Migros mag seit 2024 einen gewissen Abbaurausch entwickelt haben – trotzdem wird sie klug genug sein, selbst kreierte Konsumklassiker wie Chocolat Frey, das Geschirrspülmittel Handy, Aproz-Mineralwasser, den Kult-Ice-Tea, die Billigschiene M-Budget oder die Blévita-Knuspercracker nicht schnöde umzubringen. Ungewagte Vorhersage: Kein Migros-Kind wird an Eigenmarken-Mangelerscheinungen leiden. Oder, im Sonntagsduktus: Das Massaker ist richtig.
Migros muss ihre Eigenmarken-Liebe verstärken
Etwas anderes aber ist wichtiger. Die Migros muss nicht nur ihren Eigenmarkenwald ausholzen, sie muss auch lernen, die verleibenden Eigenmarken wieder mehr zu lieben. Die Industrie mit ihren Migros-typischen Produkten ist zentral für das Unternehmen. Die ersten Eigenmarken entstanden gleich zu Beginn der Firmensaga und sind bis heute ein Differenzierungsmerkmal.
In den letzten Jahren aber schien der Migros das Wissen um ihr Erbe abhandengekommen zu sein. Statt ihre Energie auf Stärkung und Weiterentwicklung der Eigenmarken zu setzen, war sie mehr darum bemüht, ständig neue Markenartikel («Fremdmarken» in der Migros-Lingua) ins Angebot zu nehmen. Oft genug zum Schaden der eigenen Industrie. Das kann sie jetzt korrigieren. Einerseits kann sie die Zahl der Eigenmarken reduzieren, anderseits die verbliebenen Migros-Marken stärken und stärker mit Innovation aufladen.
Abbau ist nie beliebt. Aber das Eigenmarken-Ausholzen hilft der Migros, schlanker und günstiger zu werden. Wenn sie dieses Programm stringent, kundenzentriert und kommunikativ verblüffend durchzieht, macht sie etwas Wichtiges richtig. Und so aus einem Abbau einen Aufbau.