«Säckelmeister» klingt ältlich, folkloristisch. Die Bezeichnung passt nicht zu Paul Wyser, Amtsinhaber und Vorsteher des Finanzdepartements in Appenzell Innerrhoden. Wyser versteht die Verwaltung als Unternehmen und seine Steuerbehörde als Sales-Office: «Wenn ein Kleinkanton in einer Randregion im Standortwettbewerb bestehen will, muss er tiefe Steuern und einen Topservice bieten.» Eine Alternative zu «dieser zukunftsweisenden Finanzpolitik» gebe es nicht.

Ungewohnte Töne aus einer Ecke, aus der man eher Behäbigkeit erwartet. Wyser ist kein Eingeborener, sondern unüberhörbar Basler – und erst noch parteilos. «Lauter Fehler», feixt der 56-jährige ehemalige Swatch-Manager. Um dann aber sofort seinen Innerrhodern ein Kränzchen zu winden: Die Leute seien zwar eigen, aber liberal. Hier könne man noch etwas bewegen. Stolz vermeldet er den jüngsten Erfolg seiner «Verkaufsabteilung»: Drei der vier grossen Leasingfirmen immatrikulieren ihre Fahrzeuge neu in AI.

Wyser nimmt einen Zeichenblock und demonstriert dem Journalisten seine Sicht der Dinge. Anhand einer dreistufigen Pyramide zieht er Parallelen zwischen dem Produkt Kanton und seinem vorherigen Tätigkeitsgebiet, dem Uhrenbusiness: Ganz unten ist der Massenmarkt für Billiguhren wie die Swatch. Er vergleicht dieses Segment mit grossen, bevölkerungsreichen Kantonen. Darüber liegt das mittlere Preissegment, das sich im ungünstigen Sandwich zwischen Massenmarkt und Hochpreis-Chronometern – sprich einigen finanzstarken Kantonen – befindet. Und auf dieses Toplevel zeichnet er noch vier Kügelchen: «Das sind Perlen wie die Luxusuhren von Blancpain. Dorthin wollen wir mit unserem Kanton.»

Also auf eine Stufe mit Zug und Schwyz? «Nein», sagt Wyser. Man möchte zwar aufs Podest, aber nie die Nummer eins im innerschweizerischen Steuervergleich werden. Da stehe man bloss im Neidfenster. Der stillstehende Landammann und Ständerat Carlo Schmid lässt denn auch keine Gelegenheit aus, tiefzustapeln und seinen Kanton «weit weg vom Steuerparadies» einzureihen.

Die stillen Reichen bevorzugt
Die glamouröse Wirtschaftsprominenz sucht man tatsächlich vergeblich unter den Zuzügern im Appenzell. «Wir wollen den Leuten ein ruhiges und stilles Leben ermöglichen», sagt Wirtschaftsförderer Dominik Baldegger.

Der bekannteste Neo-Appenzeller ist der 75-jährige Hans Huber. Er besitzt bedeutende Beteiligungen an den Firmen SFS Holding, Gurit-Heberlein und der Spezialoptikfirma Fisba. Huber baut auf sein Netzwerk und hat Säckelmeister Wyser in den Fisba-Verwaltungsrat geholt. Einer von Hubers Nachbarn am «Millionenhügel» ist Georges Kolb, der sich nach dem Verkauf seiner Bäckereimaschinenfabrik an die Pistor-Gruppe Mitte der Neunzigerjahre hier niedergelassen hat. Appenzell ist auch Sitz der verschwiegenen FLM Holding der Familie Miczka, erfolgreich im globalen Schaumstoffgeschäft. Zumindest ein Bein in Appenzell hat Heinrich Gebert, Ex-Inhaber der Geberit-Gruppe. Er alimentiert unter anderem die Stiftung Museum Liner. Präsident ist Arthur Loepfe, Innerrhodens einziger Nationalrat. Eine Zeit lang waren Skiweltcupsieger Marc Girardelli, Fifa-Boss Sepp Blatter und Jecklins Tivolino AG in Innerrhoden gemeldet. Über ihren Abgang scheint man indes nicht sonderlich unglücklich zu sein. Denn je prominenter die Neuen, desto stärker gerät die Steueroase ins Schussfeld. Wyser verweist auf das Beispiel Michael Schumacher im Nachbarkanton Appenzell Ausserrhoden: «Wochenlang wurde über nichts anderes geredet als über die Privilegien von Reichen.»

Beim Tanz ums Goldene Kalb produziert aber auch Innerrhoden den einen oder anderen Betriebsunfall. Das zeigt die Causa des Gastrounternehmers Heinz Wenk. Ihm wurde bei seinem Hausbau im Bezirk Schwende erlaubt, was der kleine Bürger nicht darf. Das Bundesgericht verfügte dann einen weit gehenden Abbruch. Doch erst eine Rechtsverweigerungsbeschwerde gegen den untätigen Standortbezirk scheint nun Wirkung zu zeigen. Das Urteil wird auf Ende November erwartet.

Platz fünf in der Steuerhitparade
In der Hitparade der steuergünstigsten Kantone liegt der Halbkanton im Jahr 2001 mit einem Gesamtindex von 85,4 an fünfter Stelle. Es ist eine Kombiwertung: Bei der Besteuerung der juristischen Personen erreicht Innerrhoden Rang drei, bei den natürlichen Personen Rang sieben. Sechs Jahre zuvor befand man sich noch im Mittelfeld an zwölfter Stelle.

Schaut man sich die Statistiken der Eidgenössischen Steuerverwaltung 2001 für die Kantonshauptorte genauer an, offenbart sich die Strategie des neuen Steuerparadieses. Als Beispiel ein Unselbstständigerwerbender, verheiratet mit zwei Kindern: Die Steuerpflicht beginnt in Appenzell bereits bei einem Bruttoarbeitseinkommen von 16 813 Franken. Nur Sarnen OW setzt mit 15 000 Franken noch tiefer ein, während der Fiskus in Bellinzona erst ab 38 031 Franken zupackt. Bei 50 000 Franken liegt die Belastung durch Kantons-, Gemeinde- und Kirchensteuern noch in zehn Kantonen tiefer als in Appenzell.

Steigt indes das Einkommen, wendet sich das Blatt – von 100 000 bis eine Million Franken ist die Quote nur noch in Schwyz und Zug, ab 300 000 auch noch in Stans tiefer. Interessant ist ein Vergleich mit Zürich: Bei 200 000 Franken brutto liegen die Limmatstadt und das Säntisdorf mit 25 310 beziehungsweise 22 241 Steuerfranken noch nahe beieinander. Für eine Million muss der Steuerpflichtige aus unserem Beispiel in Zürich aber bereits 244 490 Franken abliefern, während sich Appenzell mit 143 877 Franken begnügt.

Wie sieht es beim Reinvermögen nach Abzug des Obolus an Kanton, Gemeinde und Kirche aus, bezogen auf einen Verheirateten ohne Kinder? Bei 300 000 Franken schneiden noch acht Kantone mit ihren Hauptorten besser ab als Appenzell. Hebt man die Latte an auf eine Million, sind es noch vier, und bei fünf Millionen liegen bloss Stans und Schwyz vor Appenzell.

Extrem schonend ist das Steuerklima für das ganz grosse Geld. So müssen Aktiengesellschaften mit 100 Millionen an steuerbarem Kapital hier lediglich 67 500 Franken abliefern. Das ist schweizweit Spitze. Das teuerste Pflaster für Aktienkapital ist Liestal BL mit stolzen 800 000 für 100 Millionen Franken.

Oder nehmen wir eine AG mit zwei Millionen Kapital und Reserven, die im letzten Jahr 400 000 Franken Gewinn erwirtschaftet hat. Von diesem Profit holte sich der Säckelmeister in Innerrhoden 70 196 Franken. Nur Zug verlangte weniger. Basel kassierte hier mit 105 450 Franken am meisten.

Und Appenzell Innerrhoden bietet seiner betuchten Klientel weitere Zückerchen. Das seit 2001 gültige Steuergesetz ermöglicht eine sehr flexible Abschreibungspraxis bei beweglichen Anlagegütern. Sofortabschreiber im Anschaffungsjahr sind möglich. Damit können Gewinnspitzen gebrochen werden. Vorfahrt auch für Aktionäre, die mindestens 20 Prozent an der Gesellschaft besitzen oder einen Anteil von über zwei Millionen Franken: Dann werden für den Aktionär mit Wohnsitz im Kanton die Erträge aus einer schweizerischen Gesellschaft nur zum halben Satz besteuert.

Wenn das immer noch zu wenig Honig ums Maul der Krösusse geschmiert ist, kann die Standeskommission – so heisst hier der Regierungsrat – für «einzelne natürliche oder juristische Personen unter gewissen Voraussetzungen Steuererleichterungen einräumen». Gesuche und Anliegen von Unternehmen würden unbürokratisch und schnell behandelt, denn schliesslich seien die meisten Regierungsräte hauptberuflich Unternehmer oder Mitglieder einer Geschäftsleitung, lockt die kantonale Wirtschaftsförderung ungeniert.

Kritik an den Rosinenpickern
Was den entnervten Finanzminister eines stark verschuldeten Kantons off the record lauthals schimpfen lässt: «Die picken sich die Rosinen und tun alles, was Gott verboten hat.» Wyser widerspricht: «Unsere Steuerabkommen folgen gesetzlichen Regeln. Das ist lange nicht überall so.» Anstatt zu schimpfen, solle man den Service verbessern. Grosse Vermögen seien heute eben mobil, fügt er an. Marianne Kleiner-Schläpfer, Finanzchefin der Kantonshälfte Ausserrhoden, begrüsst den Steuerwettbewerb: «Er hält die Staatsquote tief und die Gemeinwesen fit.» Im Standortringen wird aber mit harten Bandagen gekämpft. Spielt der Nachbar unfair? Kleiner antwortet ausweichend: «Dazu möchte ich mich nicht äussern, weil ich es nicht genügend beurteilen kann.» Stattdessen fordert sie den Rivalen heraus: «Es ist nicht jedermanns Sache, in dem immer noch stark traditionellen, bäuerlichen, touristischen, von der katholischen Mentalität geprägten, engeren Innerrhoden zu wohnen, wo die soziale Kontrolle noch recht rigide ist.»

Auch St. Gallens Finanzchef und Landammann Peter Schönenberger fährt seinen Freunden Carlo, Paul & Co. nicht via Medien an den Karren. Man habe «keine Hinweise, dass sich Appenzell Innerrhoden unlauter verhält». Zur Abwanderung guter Steuerzahler nach Innerrhoden macht Schönenberger keine Angaben. Kritik formuliert er, ohne einen Kanton beim Namen zu nennen: «Vielerorts können gebietsfremde Trittbrettfahrer öffentliche Leistungen beziehen, ohne an deren Finanzierung beteiligt zu sein.»

Neid erweckt AI nämlich vor allem wegen der innerschweizerischen Umverteilung. Der hohe bäuerliche Anteil – immerhin fast 18 Prozent der Erwerbstätigen – beschert dem Kanton ein tiefes Pro-Kopf-Einkommen, dafür aber reichlich Manna aus dem Finanzausgleich. 2001 gab es noch 512 Franken je Einwohner. Nur acht Kantone erhielten mehr. Da AI nun dank seinem Steuersegen aus der Gruppe der Kellerkinder zu den Mittelstarken aufgestiegen ist, werden dieses Jahr 600 000 Franken Bundesgelder weniger fliessen.

In Innerrhoden selber regt sich kaum Widerspruch gegen den Kurs der Regierung. Alle profitieren von den Steuersenkungen der letzten Jahre. Treuhänder, Juristen und das Gewerbe freuen sich über lukrative Aufträge. Nur die Gruppe für Innerrhoden (GFI), die handzahme Opposition im Grossen Rat, mäkelt hin und wieder. GFI-Präsident Josef Manser kritisiert die Entsolidarisierung unter den Kantonen: «Wir brauchen eine materielle Steuerharmonisierung. Es kann doch nicht der richtige Weg sein, dass alle nur noch auf ihren Vorteil schauen. Wir wollen kein zweites Monaco oder Zug werden.» Ein frommer Wunsch, denn AI ist auf bestem Weg dorthin.
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