Welche Region der Schweiz ist überdurchschnittlich von Naturgefahren bedroht?
Bernhard Krummenacher*: Eine solche Region gibt es nicht. Gewitter etwa wirken regional sehr extrem unterschiedlich und nicht immer am gleichen Ort.

Also sind Gewitter selbst für Sie kaum berechenbar?
Punktuelle Wärmegewitter können fast überall auftreten. Die immer besser werdenden Meteoradar-Meldungen und Visualisierungen sind für einige Stunden im Voraus sehr gut. Langzeitprognosen für das Auftreten von Gewitterzellen sind kaum möglich. In Gefahrenkarten werden Gewittergebiete nicht speziell dargestellt.

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Wieso das?
Einerseits verändert der Klimawandel vermutlich die Lage von Gewitterzügen. Anderseits hat dies auch mit den Prognosen der Jährlichkeit, das heisst der Wiederkehrdauer von Ereignissen, zu tun: Ob ein Ereignis eben alle 100 oder vielmehr alle 300 Jahre auftritt. Die Gefahrenkarte hat den Auftrag, zu zeigen, was in Zukunft passieren kann.

Was sind weitere Datenelemente?
Hinzu kommen Extremwertstatistiken für Regen und Schnee. Mit statistischen Berechnungsmethoden kann man von bestehenden Messreihen auf zukünftigen Niederschlag und Schneezuwachs extrapolieren - das ist beispielsweise für Lawinengefahrenkarten entscheidend. Bei der periodischen Überarbeitung der Gefahrenkarten werden immer die neusten statistischen Grundlagendaten verwendet. Auch die kontinuierlich aufdatierten Ereigniskataster sind essenzielle Grundlagen. Das machen das Bundesamt für Umwelt (Bafu) und die Kantone in der Schweiz vorbildlich: Im Ausland beneidet man uns dafür.

90 Prozent aller Elementarschäden in der Schweiz werden durch Hochwasser verursacht. Was sind weitere häufige Gefahren?
Sturm und Hagel sind ebenfalls ein grosses Problem. Danach sind es im Gebirge nach wie vor Lawinen, Sturzprozesse und Murgänge. Etwas plakativ lässt sich sagen: Überschwemmungen lösen die grössten Schäden aus. Die Schadenssumme der Versicherer ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Wenn im Flachland Hunderte von Kellern geflutet sind, aber kein Schaden an Leib und Leben entstanden ist, können neben den Sachschäden auch Betriebsausfälle anfallen, die die Sachschäden um ein Vielfaches übersteigen können.

Und im Gebirge?
Dort hat man tendenziell brutale Prozesse mit meist grossen Schäden an wenigen Gebäuden. Wenn im Gebirge ein halbes Dorf durch einen Murgang zerstört wird, aber nicht viele Sachwerte in den Häusern sind, fällt das bei der Statistik weniger ins Gewicht. Die Tragödie ist aber viel grösser. Zudem können Leute sterben und ganze Häuser werden unbewohnbar. Die zerstörten Werte hier sind nicht nur monetär hoch, sondern es sind auch emotionale Schäden, die nicht monetarisiert werden können. Das gilt auch für Todesfälle bei Überflutungen im Flachland.

Häufen sich die «grossen» Schadensjahre seit Anfang der 1990er-Jahre tatsächlich oder hat das vor allem mit einer stärkeren Medienberichterstattung zu tun?
Die Ereignisse nehmen seit den 1990er-Jahren zu - Statistiken von Klimahistorikern und Klimawissenschaftern zeigen diesen Trend auf. Bis Ende der 1970er-Jahre war es aber lange ruhig. Wir leben nun in einer «wilden Zeit», es gibt immer weniger Ruhephasen und die Ereignisse erfolgen mit höherer Häufigkeit. Aber dass die Ereignisse besser kommuniziert werden, ist auch eine Tatsache. Mit den heutigen elektronischen Medien werden Nachrichten von einem verschütteten Wohnwagen im Engadin in Windeseile global verbreitet, sogar mit einem dazugehörenden Videoclip. Das gab es früher nicht.

Ihr Unternehmen berechnet einerseits Risiken und bestimmt anderseits die Kostenwirksamkeit von Schutzmassnahmen. Was gilt es diesbezüglich zu berücksichtigen?
Früher wurden sehr viele technische Schutzmassnahmen realisiert. Das war sehr kostenintensiv. Die Subventionsmittel sind aber beschränkt. Der Bund will die Mittel heute nicht primär dort einsetzen, wo die Gefahren am grössten sind, sondern dort, wo die höchsten Risiken bestehen. Die Gefahr wird erst zum Problem, wenn das Schadenspotenzial sehr gross ist.

Haben Sie ein Beispiel dafür?
Wenn zum Beispiel am Piz Lischana ein Teil des Berggipfels wegen schmelzendem Permafrost abbricht, dann «tut das niemandem weh» - im schlimmsten Falle einer Alphütte. Das Risiko ist klein, weil nur an wenigen Tagen im Jahr Personen vor Ort sind. Aber wenn ein Fluss über die Ufer tritt und dies Zehntausende von Menschen und Häuser betrifft, ist das Risiko gross, obwohl das Wasser meist nur untief ist, aber alle Keller geflutet werden. Deshalb will man auch die Massnahmen entsprechend steuern: Der Bund hat festgelegt, dass für Massnahmen, die über 5 Millionen Franken kosten, unter anderem der Nachweis der Kostenwirksamkeit erbracht werden muss. Jeder investierte Franken durch Schutzmassnahmen muss durch Risikoverminderung kompensiert werden.

Was gibt es diesbezüglich für Instrumente?
Wir haben zusammen mit Partnern für das Bafu ein Instrument entwickelt, um die Risiken und die Kostenwirksamkeit von Schutzmassnahmen internetbasiert unter www.econome.admin.ch zu berechnen. Bund und Kantone sowie die Projektplaner können damit Berechnungen machen und diese einem Subventionsgesuch beilegen. Auch das Bundesamt für Strassen (Astra) und die SBB wenden dieses Instrument in angepasster Form an, um die Risiken bezüglich Naturgefahren entlang der Verkehrsachsen zu berechnen. Bei den Risikoberechnungen werden auch die verursachten Stau- und Umfahrungskosten einbezogen.

Was raten Sie Hausbesitzern?
Am einfachsten ist es bei einem Neubau, da lassen sich viele Probleme mit Naturgefahren durch integrierte Schutzmassnahmen eliminieren. Wir hatten erst kürzlich im Toggenburg ein Projekt: Da war ein Haus im potenziellen Überflutungsbereich mit geringer Gefährdung geplant. Als Objektschutz wurde es auf eine 1 Meter hohe Aufschüttung gestellt und die Böschungen mit einer schönen Naturblocksteinmauer gesichert. Passiert etwas, so fliesst das Wasser nicht ins Haus.

Die Gebäudequalität gilt in der Schweiz allgemein als gut. Bei welchen Baustandards gäbe es noch Luft nach oben?
Grundsätzlich bei jeder Gebäudesanierung. Insbesondere in Tourismusorten, da dort infolge der Zweitwohnungsinitiative nur noch beschränkte Möglichkeiten zum Neubauen bestehen und deshalb zur Wertverbesserung auf Gebäudesanierung gesetzt wird. In diesem Zusammenhang sollte man auch die Sicherheit optimieren und nicht nur wärmetechnisch nachbessern. Hier sehe ich ein riesiges Potenzial für die Anwendung des Naturgefahren-Radar der Zurich Versicherung (siehe Seite 40). Klar, wenn die Analyse zeigt, dass das Objekt in einem Bereich mit erheblicher Gefährdung liegt, muss die Situation mit der Gemeindebehörde analysiert werden. Aber wenn das Resultat eine geringe oder mittlere Gefährdung zeigt, können die Eigentümer die bei der Analyse vorgeschlagenen Massnahmen mit dem Architekten und dem Ingenieur besprechen.

In welcher Form hat Geotest an diesem Naturgefahren-Radar mitgearbeitet?
Wir haben das ganze Datenmanagement gemacht. Dazu gehört unter anderem die Verknüpfung aller Gebäudedaten der Schweiz mit allen Gefahrenkarten der Kantone und den Gefahrenhinweiskarten des Bundes. Je nach Gefährdung eines Objekts werden über komplexe Entscheidungsbäume Fragen an den Benutzer gestellt. Entsprechend den Antworten werden gefährdungs- und schadenspotenzialspezifische Handlungsempfehlungen und Objektschutzmassnahmen vorgeschlagen.

Wie werden die Daten konkret aufbereitet?
Dazu ist ein geographisches Informationssystem (GIS) nötig, das komplexe Analysen und Verschnitte der Daten erlaubt. Die Schwierigkeit ist, dass die Daten extrem heterogen sind und man mit grossen Datenmengen arbeitet. Im konkreten Fall sind es 1,8 Millionen Gebäude und Millionen von Teilflächen, die unterschiedliche Gefährdungen darstellen, das heisst von Überflutungsflächen bis hin zu Flächen mit Steinschlag- und Lawinengefährdung.

Tauchen bei diesen riesigen Datenmengen auch Fehler auf?
Ja. Da alle Datensätze wie beispielsweise Adressdaten, Gefahrenkarten, Gebäudelayer usw. nur periodisch aktualisiert werden, können Fehler in der Auswertung entstehen. Der Benutzer wird aber darauf hingewiesen, dass er die Analysen periodisch wiederholen sollte.

Wie lief die Zusammenarbeit mit dem Bund und den Kantonen?
Sehr gut, alle Seiten waren sehr interessiert. Natürlich gab es gewisse Differenzen; aber die Zusammenarbeit ist grundsätzlich eine sehr positive. Wir diskutieren auch jetzt noch mit Kantonen über die ihren Bedürfnissen am besten angepasste Zeitperiode der Updates.

Wie hielten Sie dabei private und öffentliche Mittel auseinander?
Die Allgemeinheit kostet das Projekt nichts. Viele Kantone machen all die Daten bereits im Netz zugänglich, die hat der Steuerzahler sowieso schon bezahlt. Das Projekt wurde vollumfänglich durch die Zurich Versicherung finanziert. In gewissen Kantonen mussten die Datengrundlagen zu den Naturgefahrenprozessen eingekauft werden.

Wenn sowieso schon alles zugänglich war: Wieso der ganze Aufwand?
Eine Gefahrenkarte zu lesen ist nicht ganz trivial, denn die verschiedensten Legenden und Hintergrundinformationen auf Anhieb zu verstehen ist sehr schwierig. Für den Normalverbraucher ist es zudem sehr aufwendig und schwierig, sich über die gegebenen Geo-Info-Kanäle zu informieren. Der Naturgefahren-Radar macht das nun alles automatisch: Die verfügbaren Daten zusammenfassen und vereinfacht darstellen - und das schweizweit einheitlich.

* Bernhard Krummenacher ist Mitglied der Geschäftsleitung Geotest, Zollikofen BE. Das Unternehmen ist eine führende Anbieterin von Dienstleistungen in Erdwissenschaften. Die Firma ist unter anderem spezialisiert auf die Beurteilung von Naturgefahren und Risiken sowie auf die quantitative Bestimmung der Kostenwirksamkeit von Schutzmassnahmen.