Am Montag rollt der erste neue Bombardier-Zug mit Passagieren durch die Schweiz. Um kurz vor 12 Uhr mittags wird der um Jahre verspätete Doppelstockzug die Türen schliessen und von Zürich via Olten nach Bern rollen. Es ist ein Meilenstein in der Geschichte der SBB.

Bestellt wurden die neuen Doppelstockwagen im Jahr 2010. Es war die grösste Bestellung in der Historie des Bundesbetriebs. 1,9 Milliarden Franken bezahlt das Unternehmen für 62 Züge. 2013 hätte eigentlich mit der Auslieferung begonnen werden sollen. Die Bewilligung zum kommerziellen Einsatz sprach das Bundesamt für Verkehr (BAV) aber erst Ende November 2017. Diese Bewilligung ist auf ein Jahr befristet. Und umstritten.

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Der Behindertendachverband Inclusion Handicap hat Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht eingereicht. Der Verband rügte diverse Mängel an den neuen Zügen. Ohne deren Behebung könnten Rollstuhlfahrer nicht selbständig aussteigen und Sehbehinderte seien in Stolpergefahr sowie in der Benutzung der Toiletten eingeschränkt. Der Verband forderte eine sofortige Nachbesserung der bereits produzierten Züge und ein Umrüsten jener Züge, die noch produziert werden. Das ist die Mehrheit.

Die ganze Mängelliste

Der Zug, den die SBB am Montag nach Bern schickt, wird allerdings ohne Nachbesserung rollen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Zwischenverfügung vom 14. Februar entschieden, dass die Züge so fahren können, wie sie vom BAV bewilligt sind. Vorerst zumindest. Unklar ist immer noch, ob die SBB zu einem späteren Zeitpunkt die gerügten Mängel nachbessern muss.

Das Urteil ist seit wenigen Tagen auf der Webseite des Bundesverwaltungsgerichts in voller Länge publiziert. Es zeigt erstmals en détail auf, welche 15 Punkte der Behindertendachverband gerügt, wie die SBB darauf reagiert hat und was die Position des Zugbauers Bombardier ist. Das sind die Forderungen des Behindertendachverbands im Wortlaut:

 

Im Ein-/Ausgangsbereich:

  1. Die Ein-/Ausstiegsplattform sei so abzuändern, dass Menschen im Rollstuhl das Fahrzeug selbständig und mit eigener Kraft verlassen können. Insbesondere sei der Boden in diesem Bereich so anzuheben, dass die Neigung der zu steilen Rampe reduziert, d.h. die Niveaudifferenz zwischen der Einstiegskante und dem Boden verringert werden kann.
  2. Bei den Zugeingangstüren seien die Einstiegskanten beim Absatz von 4.5 cm über dem Schiebetritt abzurunden oder abzuschrägen, damit Personen im Rollstuhl weniger Kraft und Drehmoment benötigen, um die Einstiegsschwelle zu überwinden.
  3. Der auf Höhe der zweitletzten Treppenstufe vor dem Erdgeschoss endende aussenseitige Treppenhandlauf sei zu verlängern, um die Türeinfassung herumzuführen und mit der vertikalen Haltestange der Eingangstüre zu verbinden, um eine sichere Benützung der Treppe durch Menschen mit einer Sehbehinderung sowie durch Menschen mit einer Gehbehinderung zu gewährleisten.
  4. Bei der Ein- /Ausstiegsplattform sei mindestens eine zusätzliche Türöffnungstaste anzubringen, die für Menschen im Rollstuhl erreichbar ist, d.h. auf maximal 110 cm Höhe und mit einem Abstand von 70 cm zu den Ecken der Einstiegsplattform. In den Wagen mit einem Rollstuhlabteil sei eine Türöffnungstaste für Menschen im Rollstuhl, beidseitig je eine für die linke und rechte Ausstiegstüre vorzusehen. Die reguläre Türöffnungstaste sei am gleichen Ort beizubehalten, damit sie von Menschen mit einer Sehbehinderung aufgefunden werden kann.
  5. Die Türöffnungstaste auf der Aussenseite der Fahrzeugtüren sei mit einem Kontrastfeld von mindestens 20 mal 20 cm deutlicher zu kenn- zeichnen, damit sie auch von Menschen mit einer Sehbehinderung sicher aufgefunden werden kann.
  6. Bei den Türöffnungstasten aussen seien akustische Findesignale einzubauen, die sich derart dynamisch dem vorhandenen Geräuschpegel anpassen, dass das Signal stets aus 2 m Distanz gut wahrnehmbar ist, damit Menschen mit einer Sehbehinderung die Fahrzeugtüren akustisch lokalisieren und ihre Öffnung sicher betätigen können. Eventualiter sei das vorhandene fixe akustische Findesignal so einzustellen, dass es in der überwiegenden Mehrzahl der auf Bahnhöfen vorkommenden Umgebungsgeräuschepegel aus 2 m Distanz wahrnehmbar ist.
     

Fortbewegung im Zug:

  1. Vor den Wagenübergängen im Oberdeck seien zur Kennzeichnung der Niveauunterschiede kontrastreiche Bodenleisten anzubringen, um die Stolpergefahr für Menschen mit einer Sehbehinderung zu verhindern.
  2. Im Oberdeck seien die Gepäckgestelle oberhalb von 800 mm (ab Boden) um mindestens 150 mm zurückzuversetzen, damit sich auch Menschen mit einer Sehbehinderung im Zug sicher fortbewegen können.
  3. Die Haltestangen in den Wagenübergängen im Oberdeck seien so weit in Richtung der Mittelachse zu versetzen, dass sie von Menschen mit einer Sehbehinderung beim Betreten des Wagenübergangs gesehen und sicher umgriffen werden können.
  4. Es sei am Wagenende bzw. vor dem Wagenübergang der 1.-Klasse-Wagen bei den Einzelsitzen auf den dort beidseitig vorhandenen Technikschränken je ein Haltegriff anzubringen, damit Menschen mit einer Seh- oder Gehbehinderung den Wagenübergang sicher passieren können.

 

Blendungswirkungen:

  1. Es seien geeignete Massnahmen zu ergreifen, um die Blendungswirkung der Beleuchtung in den Sitzbereichen so zu reduzieren, dass der Zugang von Menschen mit einer Sehbehinderung zu den Reiseinformationen sowie die Kommunikation von Menschen mit einer Hörbehinderung durch die Beleuchtung nicht beeinträchtigt werden.
  2. Die Spiegelbeleuchtung in allen WCs sei durch eine Deckenbeleuchtung zu ersetzen, damit Menschen mit einer Sehbehinderung in der autonomen Benutzung der WCs nicht beeinträchtigt werden. Eventualiter sei die Leuchtstärke der Spiegelbeleuchtung auf ca. 30% zu reduzieren.
  3. Bei den Fahrzeugmonitoren seien entspiegelte Abdeckungen zu verwenden, damit Reiseinformationen auch für Menschen mit einer Sehbehinderung zugänglich sind.

 

 Kennzeichnung der Information im Fahrzeug:

  1. Die Piktogramme zur Kennzeichnung der Vorrangsitze für Menschen mit einer Behinderung seien grösser zu gestalten und an nicht zu übersehender Stelle anzubringen.
  2. Im Ober- und Unterdeck der Fahrzeuge sei ein durchgängiges Leitsystem mit taktilen Schildern/Markierungen vorzusehen, welches zumindest die Richtung zum Speisewagen und zu den jeweiligen Wagenklassen sowie zu Sonderzonen auch für Menschen mit einer Sehbehinderung erkennbar ist.

 

Die SBB hat, wie aus ihrer Stellungnahme hervorgeht, bereits bei vier Punkten «freiwillig» eingelenkt. Demnach sind im Oberdeck Bodenleisten angebracht worden, um die Stolpergefahr zu mindern. Die Abdeckungen bei den Monitoren sind entspiegelt worden. Die Kennzeichnung der Behindertenplätze sind grösser und besser sichtbar. Die Ausschilderung des Speisewagens ist angepasst.

Bei fünf Punkten wehrt sich die SBB gegen jegliche Anpassung. Die Begehren seien bereits «verwirkt», heisst es in der Stellungnahme des Bundesbetriebes. Der Behindertendachverband hätte diese Anliegen bereits vorbringen müssen, als er 2011 ein erstes Mal die Züge wegen Behindertenfeindlichkeit gerichtlich angeprangert hatte.

Es handelt sich dabei um essenzielle Mängel. Zum Beispiel um die Gepäckablage auf Kopfhöhe im Oberdeck. Der Behindertenverband sieht darin ein Risiko für Menschen mit Sehbehinderung. Er fordert, dass die Gestelle 15 Zentimeter zurückversetzt werden.

Weiteres Beispiel: Beleuchtung im WC. Die Spiegelbeleuchtung beeinträchtige Personen mit einer Sehbehinderung in der selbständigen Benutzung der Toiletten, reklamiert der Behindertendachverband. Er fordert eine Deckenbeleuchtung.

«Technische Unmöglichkeit»

Die SBB will in keinem der beiden Fälle freiwillig nachbessern. Weder bei den Zügen, die bereits gebaut sind, noch bei den Zügen, die erst noch gebaut werden. Würde sie derartige Änderungen machen wollen, heisst es in der Stellungnahme, müssten die Fahrzeuge neu gezeichnet und unter Umständen neu genehmigt werden vom BAV. Schliesslich seien die Umbauten «umfangreich und äussert kostenintensiv».

In einem Punkt behauptet die SBB sogar, ein Beheben des Mangels sei «unmöglich zu realisieren». Der Bundesbetrieb erhält dabei Rückendeckung von Bombardier. Der Zugbauer schreibt in seiner Stellungnahme ebenfalls von einer «technischen Unmöglichkeit».

Pikanterweise handelt es sich dabei um den umstrittensten Punkt. Manche Rollstuhlfahrer können nicht ohne Hilfe aus den Zügen aussteigen. Sie brauchen «einen kleinen Anstoss», wie es in einem SBB-internen Papier heisst, das die Sendung «10vor10» Ende Januar veröffentlicht hat.

40 Jahre im Einsatz

Gibt es wirklich keine Möglichkeit, diesen Fehler zu beheben? Müssen Rollstuhlfahrer in den nächsten Jahrzehnten – die Bombardier-Züge sollen in den nächsten 40 Jahren auf den Hauptachsen Zürich-Bern und Lausanne-Genf verkehren – Mitreisende um einen kleinen Schubs bitten, wenn sie den Zug verlassen wollen?  

Der Behindertendachverband hofft darauf, dass die SBB nachbessern werden und zweifelt an der Aussage, dass ein Umrüsten unmöglich sei. «Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil klar gesagt, dass sich sämtliche Mängel beheben lassen würden», sagt Inclusion-Handicap-Sprecher Marc Moser. Ausserdem liege es in der Verantwortung der Bundesbahn, die gesetzlichen Auflagen einzuhalten. Das Behindertengleichstellungsgesetz lasse keinen Raum für Interpretation. «Behinderte müssen öffentliche Verkehrsmittel selbständig benutzen können – ohne Hilfe von SBB-Personal oder anderen Fahrgästen», sagt Moser.

Der Behindertendachverband wehrt sich auch dagegen, dass die SBB fünf Mängel am neuen Zug nicht beheben möchte, weil der Anspruch auf Rüge bereits verwirkt sein soll. «Wir konnten das damals gar nicht abschätzen», sagt Moser. «Ansonsten hätten wir diese Mängel schon bei unserer ersten Beschwerde gerügt», so der Sprecher.