BILANZ: Herr Premierminister, wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass 2010 das Bankgeheimnis europaweit verschwindet?
Jean-Claude Juncker: Ihre Fragestellung ist eine typisch schweizerische und auch eine typisch luxemburgische. Die EU und auch wir arbeiten daran, dass die Vorbedingungen für den so genannten Informationsaustausch erfüllt werden. In diesem Fall würde dies das Ende des Bankgeheimnisses bedeuten. Wobei es nicht darum geht, es generell abzuschaffen. Bei der Besteuerung von Zinserträgen würde jedoch der Informationsaustausch eingeführt.

Die EU hat sich unter Ihrer EU-Präsidentschaft für das Koexistenzmodell ausgesprochen. Die Staaten hätten also die Wahl gehabt, entweder die Zinserträge an der Quelle zu besteuern oder die Daten von Steuerausländern auszutauschen. Mit dem Koexistenzmodell, wie es der EU-Gipfel in Feira beschlossen hat, ist nun gleichzeitig auch die Quellenbesteuerung gestorben, die Sie stets favorisiert haben. Eine Niederlage?
Ich funktioniere nicht in derartigen sportlich-militärischen Kategorien. Uns war 1997 klar, dass es sehr schwer werden würde, die Staaten mit Kontrollmechanismen und die Bankgeheimnis-Länder auf eine Linie zu bringen. Jene, die sofort zum Informationsaustausch übergehen wollten, haben bei der Debatte vor dem Feira-Gipfel festgestellt, dass nicht nur Luxemburg Probleme hätte, das Bankgeheimnis zur Disposition zu stellen, sondern fünf oder sechs weitere Mitgliedstaaten. Deshalb startet die EU mit dem Koexistenzmodell als Einstiegslösung. Zu einem vollumfänglichen Informationsaustausch gehen wir erst über, wenn die EU-internen Voraussetzungen dafür geschaffen sind und wir die Gespräche mit den Drittstaaten erfolgreich abgeschlossen haben.

Mit der Schweiz zum Beispiel.
Ja, wobei ich den Begriff Drittstaat nicht abwertend verwende. Eine echte Niederlage hätten wir dann erlitten, wenn die EU sofort zum Informationsaustausch übergegangen wäre. Ich fühle mich also nicht in meinem Aktionsradius eingeschränkt.

Bisher lagen die Deutschen auf Ihrer Linie, jetzt haben sie sich umstimmen lassen. Der Grund liegt wohl darin, dass sehr viel unversteuertes Geld aus Deutschland nach Luxemburg und in die Schweiz abfliesst.
Man sollte sich als Finanzminister eines Landes, das über ein Finanzzentrum verfügt, nicht über Kollegen mokieren, denen der Kapitalabfluss Sorgen bereitet. Die deutsche und die europäische Haltung wären dieselbe gewesen, wenn es das Problem von Luxemburg und der Schweiz nicht gäbe. Kaspar Villiger und ich würden niemals Steuerhinterziehung andernorts aktiv unterstützen. Staaten können nicht auf Kosten der Nachbarn leben, auch wenn dies Luxemburger und Schweizer Banker anders sehen. Was die deutsche Seite hinzulernen musste: Wenn ihr Finanzminister seine eigenen, einnahmenseitigen Haushaltsinteressen mit durchaus nachvollziehbaren Argumenten auf europäischer Ebene vertritt, müssen andere darauf aufmerksam machen, dass wir keine Politik betreiben dürfen, die dem deutschen Fiskus nichts einbringt und den gesamteuropäischen Interessen schadet. Deshalb die Beharrlichkeit, mit der wir auf die Problematik der Drittstaaten hinweisen.

Damit haben Sie uns elegant den schwarzen Peter zugeschoben.
Mich stimmt nicht glücklich, dass man in schweizerischen Blättern lesen kann, wir verschafften uns auf Kosten Dritter einen Vorteil. Ich bin zu antischweizerischen Gefühlen völlig unfähig.

Doch wenn es keine Einigung mit der Schweiz gibt, behalten Sie sich vor, die geplante EU-Richtlinie scheitern zu lassen.
Das stimmt nicht ganz. Es gibt eine weltweite Tendenz, vom Bankgeheimnis abzurücken. Nun könnten sich die Schweiz und Luxemburg aufplustern und sagen: Der Rest der Welt ist uns egal. Mir ist dies aber nicht egal, und ich muss diese Bewegung ernst nehmen, obwohl es sich vielleicht nur um eine Modeerscheinung handelt. Wenn der Druck anhalten sollte: Können wir dann einfach sagen, das Bankgeheimnis verschwindet weltweit, doch in Luxemburg und der Schweiz bleibt es bestehen? Glauben Sie, die Schweiz würde sich diesem Trend völlig isoliert widersetzen? Insofern war mein Thema nicht die Schweiz, sondern die internationale Entwicklung.

Gibt es denn keine Gründe mehr, das Bankgeheimnis offensiv zu verteidigen?
Es wird oft von der moralischen Warte aus geurteilt, und ich halte diese Sicht nicht für ganz abwegig. Doch es gibt auch für das Bankgeheimnis gute Argumente. Den gläsernen Bürger wünsche ich mir überhaupt nicht. Der Bürger hat schon ein Recht darauf, dass der Nachbar seinen Kontostand nicht erfährt. Insofern hat das Bankgeheimnis auch eine beruhigende gesellschaftspolitische Wirkung. Jene, die regelmässig mit dem moralischen Zeigefinger auf Luxemburg deuten, erinnere ich gerne daran, vor der eigenen Tür zu kehren. Luxemburg produziert zum Beispiel keine Waffen. Viele russische Mafiabosse haben in der Schweiz und in Luxemburg angeklopft, doch deren Gelder sind im nicht bankgeheimnisbelasteten Amerika aufgetaucht. Es gibt eben ein vernünftiges und ein schädliches Bankgeheimnis. Es kann dort schädliche Auswirkungen haben, wo es kriminellen Machenschaften, der Geldwäscherei oder der massiven Steuerhinterziehung Vorschub leistet. Ich wehre mich dagegen, das Bankgeheimnis per se für unmoralisch zu erklären.

Beide Finanzplätze sind nicht sauber, wie die Konten des Abacha-Clans beweisen.
Die Schweiz und Luxemburg haben einen glaubwürdigen Beitrag im Kampf gegen schmutziges Geld geleistet. Ich wünschte mir, dass dereinst alle 15 EU-Mitgliedstaaten eine derart weisse Weste hätten wie die Schweiz und Luxemburg. Beide haben auf alle Rechtshilfegesuche in diesem Bereich sehr kooperativ reagiert, obwohl die halbe Welt das Gegenteil behauptet. Dass derartige Gelder immer wieder auftauchen, lässt sich nicht endgültig vermeiden. Allein die Vorschrift verhindert nicht, dass die Tat manchmal doch passiert.

Wie stark ist der luxemburgische Finanzplatz vom Bankgeheimnis abhängig?
Er ist nicht ein Geschenk des Bankgeheimnisses, so wie Ägypten ein Geschenk des Nils ist. Er lebt von seinem Know-how, von seiner Produktepalette und von der Fantasie und dem Wagemut, Neues zu versuchen. So sind wir heute im Fondsgeschäft europaweit führend.

Haben Sie in Feira nur eingelenkt, weil Sie wissen, dass das Schweizervolk einer Aufhebung des Bankgeheimnisses nicht zustimmen wird? Und somit die ganze Übung ohnehin zum Scheitern verurteilt ist?
Nein, wenn es so einfach wäre, hätte ich das schon längst versuchen können. Leider wird in Ihrem Land oft übersehen, dass zuerst das EU-Haus bestellt werden muss, zum Beispiel die assoziierten Gebiete wie die britischen Kanalinseln. Mir ging es allmählich auf den Keks, dass einige mit erhobenem Zeigefinger durch die europäische Landschaft rannten und regelmässig versuchten, mir ins Auge zu greifen. Doch dort, wo sie selber zuständig sind, haben sie nichts getan. Bis heute hat sich die EU noch nicht auf einen umfassenden Mechanismus geeinigt. Wem es in Feira nur darum ging, eine Kuh vom Eis zu bringen, ohne sich detailliert mit Sachfragen zu beschäftigen, der wird sich noch sehr über die Tiefe unseres Wissens wundern, vorab was andere EU-Länder anbelangt. Erst wenn die EU sich intern geeinigt hat, wird man mit den Schweizern reden.

Und ihnen die Daumenschrauben anlegen.
Nein, wir können uns nur Richtung Informationsaustausch bewegen, wenn dies konkurrierende Drittstaaten auch tun. Wenn nicht, wird es auch in der EU zur Einführung einer EU-internen Quellensteuer kommen.

Ihr Koexistenzmodell könnte neu aufleben.
Das wird man sehen.

Ihr schweizerischer Kollege Villiger lässt bereits eine neue Zahlstellensteuer prüfen, deren Erträge zum grossen Teil in die EU zurückfliessen würden. Eine Alternative zur Aufgabe des Bankgeheimnisses?
Man muss jedenfalls zur Kenntnis nehmen, dass sich die Schweiz bewegt. Wir führen ja nicht nur Gespräche, um uns bei Kaffee und Kuchen zu treffen, sondern um eine Lösung zu finden. Deshalb gehe ich davon aus, dass der EU bewusst ist, auch schweizerische Standpunkte einzubeziehen. Ich bin etwas betrübt darüber, dass der Feira-Beschluss in der Schweiz den Eindruck aufkommen liess, sie würde diskreditiert. Mein Punkt ist nur: Wenn Drittstaaten keine entsprechenden Regelungen treffen, werden wir nicht mitmachen. Das hat nun wirklich nichts mit antischweizerischen Gefühlen zu tun. Dem deutschen Bundeshaushalt ist ja auch nicht geholfen, wenn Luxemburg das Bankgeheimnis abschafft, es aber andernorts bestehen bleibt.

Glauben Sie denn, dass weltweit alle Steueroasen trockengelegt werden können?
Wenn wir eine Lösung treffen, die uns international so isoliert, das unsere Finanzzentren dauerhaft Schaden erleiden, während andere fröhliche Feste feiern, der mutet jenen Ländern mit Finanzzentren wie Luxemburg zu viel zu.

Im Klartext: Feira ist letztlich gar nicht umsetzbar.
Das habe ich nicht gesagt, aber ich kann die objektiven Probleme nicht verschweigen. Ich bin mit der Lösung einverstanden, aber die Bedingungen müssen sich am internationalen Umfeld orientieren. Es wäre in höchstem Mass erstaunlich, wenn wir im Zeitalter der Globalisierung nicht darauf aufmerksam machen würden, dass es so etwas wie ein Nicht-EU-Ausland gibt.

Die Schwäche des Beschlusses ist, dass er eurozentrisch ist.
Wir verhandeln ja auch mit den USA, mit den karibischen Offshore-Zentren. Insofern ist die internationale Dimension schon zur Kenntnis genommen worden. Mit dem Koexistenzmodell wäre es einfacher gewesen, doch wenn man sich in die andere Richtung bewegt, muss man den beschwerlichen Weg gehen, um die genannten Bedingungen zu erfüllen.

Wären Sie in Feira froh gewesen, wenn die Schweiz Sie in Ihrem Abwehrkampf hätte unterstützen können?
Ich habe mich nicht in unzumutbarer Weise bedrängt gefühlt. Aber wenn ich feststelle, dass die Briten nur dem Modell des Informationsaustausches zustimmen konnten und es diesen Trend weg vom Bankgeheimnis gibt, kann ich mich dem Informationsaustausch nicht mit Todesverachtung widersetzen, sondern nur die Bedingungen festschreiben lassen. Wäre Kollege Villiger am Tisch gesessen, hätte er wohl eine ähnliche Haltung eingenommen. Luxemburg war im Umgang mit der OECD manchmal strenger und zurückhaltender als die Schweiz. Die Schweiz hat OECD-Beschlüssen schon zu einem Zeitpunkt zugestimmt, als wir noch sehr reserviert reagierten. Deshalb darf sich die Schweiz auch nicht wundern, dass wir diesmal so vorgegangen sind.

Schweizer Diplomaten klagen ebenfalls, Ihre Leute hätten sie im OECD-Fiskalausschuss im Regen stehen lassen.
Das sehen wir genau umgekehrt. In der OECD habe ich manchmal das Eis neben mir knistern hören auf einem Platz, wo ich nicht stand. Es kam schon mal vor, dass die Schweiz Verteidigungslinien aufgab, bevor Luxemburg dies tat. Doch das hat sich nachher stets geklärt.

Unsere Unterhändler in internationalen Gremien fühlen sich ohnehin nicht mehr sehr ernst genommen.
Es gehört zum schweizerischen Umgang mit sich selbst, sich in ein permanentes Martyrium zu stürzen. Meine schweizerischen Kollegen jedenfalls sind hochrespektierte Persönlichkeiten.
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