Knall im Fall Pierin Vincenz: Das Zürcher Obergericht hat das erstinstanzliche Urteil gegen den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz wegen «schwerwiegender Verfahrensfehler» aufgehoben. Vincenz erhält eine Entschädigung von 34’698.25 Franken, sein Geschäftspartner Beat Stocker 64’620 Franken. Die Staatsanwaltschaft muss eine neue Anklage beim Bezirksgericht einreichen.

Grund für den Entscheid ist, dass die Anklageschrift «zentrale Ansprüche auf rechtliches Gehör» verletzte, so das Obergericht. Ferner entspräche die Anklageschrift nicht den gesetzlichen Vorgaben. Das Obergericht gibt damit den Einwänden der Beschuldigten statt.

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Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz war im April 2022 wegen Betrugs, versuchten Betrugs, Veruntreuung, ungetreuer Geschäftsbesorgung und Urkundenfälschung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Zudem soll er eine Geldstrafe von 840’000 Franken zahlen. Sein Geschäftspartner Stocker wurde zu vier Jahren unbedingter Gefängnisstrafe plus Geldstrafe verurteilt. Beiden wird vorgeworfen, sich auf Kosten ihrer Arbeitgeber durch die Beteiligung an den Firmen Commtrain, Investnet oder Eurokaution unrechtmässig bereichert zu haben. Zudem hätten sie private Ausgaben in Nachtclubs und für Reisen als Spesen verrechnet. 

Urteil ist kein Freispruch

Der Mammutprozess wird nun komplett neu aufgerollt. Der Beschluss des Obergerichts von Dienstag ist kein Freispruch. Der Fall wird an das Bezirksgericht zurückverwiesen. Zuvor muss die Staatsanwaltschaft eine neue Anklageschrift verfassen.

Das Obergericht zerzaust in seinem Entscheid die Anklage von Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel. «Eine Anklageschrift hat das Verhalten, welches einer beschuldigten Person vorgeworfen wird, möglichst kurz, aber genau zu umschreiben», teilt das Obergericht mit. Das sei aber nicht der Fall: Die Anklageschrift sei «ausschweifend», so das Obergericht, die Begründungen damit zu wenig präzise. «Durch diesen Umstand wurde es den Beschuldigten im erstinstanzlichen Verfahren erheblich erschwert, sich wirksam zu verteidigen.» 

Zudem sei der Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass die Anklage für einen französischsprachigen Angeklagten nicht in seine Sprache übersetzt worden sei. «Die Verweigerung der Übersetzung durch die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz stellt eine schwerwiegende Verletzung des rechtlichen Gehörs dar und verletzt das Fairnessgebot», so das Obergericht. 

Klatsche für die Staatsanwaltschaft

Ursprünglich war geplant, dass der Berufungsprozess vor dem Obergericht in diesem Sommer stattfindet. Doch da die Anklage derart grobe Mängel enthält, ist dies nun hinfällig. Wann der Vincenz-Prozess vor dem Bezirksgericht neu verhandelt wird, ist vollkommen offen. Denn zunächst muss eine neue Anklageschrift geschrieben werden.

Für Vincenz-Verteidiger Lorenz Erni ist der Entscheid ein voller Triumph. Für den zuständigen Staatsanwalt Marc Jean-Richard-dit-Bressel ist er dagegen eine beispiellose Klatsche, denn seine Anklage würde den gesetzlichen Ansprüchen nicht genügen. Auch für den Richter des Bezirksgerichts, Sebastian Aeppli, ist der Entscheid peinlich, denn er hatte die Anklage akzeptiert und war in seinem erstinstanzlichen Urteil weitgehend den Argumenten der Staatsanwaltschaft gefolgt.

Trotz der Aufhebung des Urteils bleiben die Vermögenswerte von Vincenz und Stocker jedoch gesperrt, wie das Obergericht mitteilt. In dem Verfahrenskomplex sind auch noch Schadenersatzklagen zum Beispiel der Raiffeisen hängig. Doch zunächst muss das Zürcher Bezirksgericht in der Strafsache neu urteilen. 

Die Bank reagierte mit einer knappen Stellungnahme auf das Urteil des Obergerichts: «Raiffeisen Schweiz nimmt den Entscheid des Obergerichts des Kantons Zürich betreffend Aufhebung des Urteils des Bezirksgerichts Zürich vom 11. April 2022 beziehungsweise 22. August 2022 zur Kenntnis und wird diesen analysieren. Des weiteren äussert sich Raiffeisen Schweiz nicht zu laufenden Verfahren.»

Holger Alich
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