Urplötzlich war ein Loch in der Mauer, war die geschlossene Front durchbrochen.

Ohne Vorwarnung lächelte Rolf Dörig, die Hände wie ein Ministrant vorm Gürtel gefaltet, am 22. Juni 2014 aus der Zeitung «Schweiz am Sonntag» und verkündete, er sei «froh über den Volksentscheid» – gemeint war die Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative. Und dann las er gleich noch den Teppichetagen die Leviten: «Wir als Wirtschaftsführer haben zu lange ausschliesslich die Unternehmensinteressen verfolgt» und «das Unbehagen in der Bevölkerung nicht oder zu spät ernst genommen».

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Die Kollegen Wirtschaftsführer waren, gelinde gesagt, verdutzt. «Das hat viele von uns enorm irritiert», sagt ein hochrangiger Funktionär. Insbesondere «den Kontext, warum er das gerade jetzt sagt, habe ich nicht verstanden». Denn «grossmehrheitlich machen sich die Wirtschaftsführer allergrösste Sorgen» über die möglichen Folgen der Initiative, warnten im Vorfeld der Abstimmung eindringlich davor.

Unschweizerisches Handeln

Und dann, wie aus dem Nichts, tritt einer von ihnen aus der Reihe und nach oben auf die Kanzel, zeigt mit dem Finger auf alle anderen und bezichtigt sie, unschweizerisch zu handeln. Stellt sie dar als mängelbehaftete Manager, die der Bevölkerung gegenüber schwarzmalen und übertreiben, um die Beziehungen zur EU nicht zu gefährden. Alle reiben sich die Augen, einige wollen ihn zur Rede gestellt haben, offen äussern mag sich nur einer: Gewerbeverbands-Chef Hans-Ulrich Bigler. «Ich weiss nicht, was Dörigs Motivation für seine politischen Äusserungen ist», sagt Bigler, und «dass die Wirtschaft nicht nahe genug an der Bevölkerung sein soll, stimmt für die KMUs jedenfalls nicht».

Kurz vor der Abstimmung über die rigide Ecopop-Initiative Ende November legte Dörig nach: per «Blick»-Interview, romantisch überschrieben als Gespräch über «Renten und Heimat». Dörig beklagte, sämtliche Parteien verfolgten nur noch «kurzfristige, wahltaktische Interessen und haben die Schweiz als Ganzes aus dem Blick verloren». Und er appellierte an die Politik, sie solle «alle relevanten Kräfte einbinden» – zurück zur Konkordanz und zur «Zauberformel im Bundesrat». Mit der Masseneinwanderungs-Initiative, fügte er hinzu, «kann auch die Wirtschaft leben».

Wohin will Rolf Dörig?

Dabei stöhnt eben diese Wirtschaft, dass allein in der Industrie jährlich bis zu 20'000 Babyboomer pensioniert würden, die im Inland kaum zu ersetzen seien. Bahnbauer Peter Spuhler nannte ein Ende der Bilateralen «eine Katastrophe».

Was soll das also? Und warum dieser Zeitpunkt? Warum hat sich Dörig ausgerechnet in einer Zeit exponiert, da die politische Schweiz hitzig über die Nachwehen des 9. Februar diskutierte, über die Bedeutung der Bilateralen und den Nutzen der Zuwanderung, als zeitweilig gar möglich schien, dass die Ecopop-Initiative angenommen werden könnte? Wohin will Rolf Dörig?

Keine Erklärungen

Doch Dörig schweigt. Keine Podiumsdiskussionen, keine schriftlichen Erklärungen zu seinen Vorstössen, keine «Arena»-Auftritte. Er gibt sich politisch, aber der politischen Debatte stellt er sich nicht. Auch BILANZ will er keine Fragen beantworten. Über einen Sprecher der Swiss Life lässt er lediglich ausrichten, für Kommunikation sei in erster Linie der CEO des Konzerns zuständig. Doch es war nicht die Swiss Life, die einen Rundumschlag in Managerkritik veranstaltet hatte. Sondern Rolf Dörig als Person.

Die Scheinwerfer der Öffentlichkeit richten sich selten auf Rolf Dörig. Dabei ist er einer der schillerndsten Schweizer Manager, unter anderem deshalb, weil an seiner Person – auf den ersten Blick zumindest – erst einmal gar nichts schillert. Glücklich verheirateter Familienvater dreier Söhne, schneller und unauffälliger Aufstieg in die Teppichetagen, die Zeit als CEO der Swiss Life geprägt durch ein Zurück zum Kerngeschäft der Rentenanstalt und die Konsolidierung der Finanzen, gekrönt durch den Wechsel ins Präsidium – eine letztlich hocherfolgreiche Zeit, die auch die missglückte Übernahme der Vertriebsfirma AWD und der knirschende Abgang seines langjährigen Wegbegleiters Bruno Pfister nicht nachhaltig trüben konnten.

Er trägt einen unspektakulären Seitenscheitel und ebensolche Anzüge, gilt als freundlich und bodenständig, unbelastet von raumgreifendem Charisma – schlicht als «der Schweizer» unter den obersten hundert von Corporate Switzerland, bisweilen und leicht gehässig auch als «der kleine Schweizer». Ein Etikett, das ihn übrigens nicht im Geringsten stört, wie ein Vertrauter wissen lässt: «Im Gegenteil, er ist richtig stolz darauf.» Es passt ja auch zu seinem Selbstbild als Verteidiger des Schweizertums am Finanzplatz. Als Manager, der Bürgerinteressen über Konzerninteressen stellt.

Zügige Karriere

Doch wer ein zweites Mal hinschaut, entdeckt die Konturen einer zielstrebig vorangetriebenen Erfolgskarriere: 1985 juristisches Doktorat an der Universität Zürich und Anwaltspatent, ein Jahr später Einstieg bei der Schweizerischen Kreditanstalt. Ein rundes Dutzend Verwendungen durchläuft er hier. Ein erster Rückschlag, als er bei einer Beförderungsrunde übergangen wird – damals ist Josef Ackermann Konzernleiter, der sich als weltläufiger Banker sieht.

Die beiden verstehen sich angeblich unterdurchschnittlich gut. Als Ackermann im Juli 1996 selber gehen muss, nachdem er Krach mit Altmeister Rainer E. Gut gehabt haben soll, geht es für Dörig wieder weiter. 1997 wird er Stabs- und Kommunikationschef der Credit Suisse. Im November 1999 springt er im Auftrag der CS als Finanzchef der Expo.02 ein und bringt den Haushalt der Landesausstellung in Ordnung. Dafür erhält er gute Haltungsnoten, dennoch sehen Insider dies als weiteren, zeitweiligen Rückschlag: Der flamboyante CS-Chef Lukas Mühlemann weiss wohl nicht recht, was er mit Dörig machen soll.

Nach diesem Ausflug avanciert Dörig jedoch zum Chef des Schweizer Retail- und Firmenkundengeschäfts und ist in dieser Funktion für nahezu 12'000 Mitarbeiter verantwortlich. Anders als bei seinem Vorgänger Paul Meier endet Dörigs Berichtsweg hier jedoch bereits bei Thomas Wellauer, einem Intimus Mühlemanns aus gemeinsamen Jahren beim Kostenkürzungs-Berater McKinsey. Dörig wird dafür 2002 mit dem Titel eines «Chairman Schweiz» behängt.

Fast zwangsläufig aufwärts

Im November desselben Jahres wechselt er auf den Chefsessel der Swiss Life. Die Sanierung des angeschlagenen Lebensversicherers ist keine allzu undankbare Aufgabe; von unten musste es fast zwangsläufig aufwärtsgehen. 2007 kommt mit dem Verkauf der Banca del Gottardo die schöne Summe von 1,9 Milliarden Franken herein, noch im selben Jahr fliesst sie jedoch mit dem Kauf des Finanzvertriebs AWD wieder ab. 2007 wird Dörig zum Vizepräsidenten des Personaldienstleisters Adecco gewählt, zum Ende des Folgejahres rückt er dem zurückgetretenen Jürgen Dormann auf den Präsidentenstuhl nach. Auch bei der Swiss Life wird er, nach einem Zwischenjahr als Delegierter des VR, 2009 Konzernpräsident.

Ziemlich geräuschlos akkumulierte Dörig eine Machtfülle, die ihresgleichen sucht: Er ist Doppel-VRP zweier Grossunternehmen – des weltweit operierenden SMI-Konzerns Adecco und des langjährigen SMI-Konzerns Swiss Life, eines der zentralen Häuser am Zürcher Finanzplatz. Nicht einmal sein Freund Walter Kielholz brachte es zum Doppelpräsidenten. Dörig ist zudem Vizepräsident des Sicherheitskonzerns Kaba, seit 2011 auch Verwaltungsrat der Walter Frey Holding.

Er sei eben «vieles früh geworden und lange geblieben», sagt ein langjähriger Wegbegleiter beinahe entschuldigend. Unter dem Strich jedenfalls gehört Dr. Rolf Hugo Dörig, von Lindau und Appenzell, in Küsnacht ZH, «mit seinen Ämtern zu den Top Ten der Schweizer Wirtschaft», sagt einer, der sich selber in der Nähe des Leaderboards aufhält.

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