So hat sich das Karl Eckstein nicht vorgestellt. Der Schweizer Anwalt will eben vor russischen Juristen, Richtern und Anwälten über den «Demokratisierungsprozess Russlands» und über die «Rechtsstaatlichkeit» referieren. Und nun das. Der untersetzte Staatsanwalt, der vorher im Korridor eine Zigarette geraucht und den Empfangsdamen zugezwinkert hat, blickt Eckstein gelangweilt aus der ersten Reihe am ovalen Tisch entgegen. Weit hinten im Saal hingegen warten die in der Hierarchie weniger hoch gestellten lokalen Richterinnen und Sekretäre gespannt.

Eine undemokratische Sitzordnung, entfährt es Eckstein. Lange lässt er sich von der Szenerie jedoch nicht beirren. Seit mehr als zwanzig Jahren lebt er bereits in Russland. Er kennt die regionalen Sitten und Bräuche. Deshalb ist er auch hier – er will etwas verändern, angefangen bei der Sitzordnung. Eckstein beginnt in fliessendem Russisch seinen Vortrag. Es ist der Start in einen Tag auf dem russischen Land. Der Beginn einer neuen Überzeugungsaktion.

Karl Eckstein hat ein ernsthaftes Hobby. Zwei-, dreimal jährlich reist der 53-Jährige in verschiedene Regionen Russlands und hält Seminare ab. Der Anwalt möchte seinen russischen Kolleginnen und Kollegen die Idee eines Verwaltungsverfahrensgesetzes schmackhaft machen. Was kompliziert klingt, ist simpel. Ein Verwaltungsverfahrensgesetz regelt die Beziehung zwischen Beamtem und Bürger, zwischen Staat und Individuum. In Russlands 89 Teilgebieten, den so genannten Oblasts, fehlen die entsprechenden Spielregeln. Das Beamtentum mit seinem überbordenden Selbsterhaltungstrieb hat freie Bahn. Auch zwölf Jahre nach dem Ende des kommunistischen Systems hat der Bürger dem Staat zu dienen. Kleinere und mittlere Unternehmer haben es besonders schwer. Das möchte Karl Eckstein zusammen mit seinem Anwaltskollegen Sergej Werschinin ändern. Mit der Stiftung Konstituzia, die von der schweizerischen Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) finanziell unterstützt wird, ziehen Eckstein und Werschinin gegen die Hydra der Bürokratie zu Felde. Eckstein ist die treibende Kraft der Stiftung, in der auch alt Nationalrat und Russland-Experte Ernst Mühlemann mitmacht und seine exzellenten Kontakte zur Verfügung stellt. Ecksteins Kollege Werschinin ist Präsident und leitet vor allem die theoretische Arbeit. Als Basis dient ihm das Konzept des basel-landschaftlichen Verwaltungsverfahrensgesetzes, das er auf die regionalen russischen Eigenheiten anpasst.

Diesmal trifft Baselland auf Nowgorod. Eckstein und Werschinin treten in der Hauptstadt eines russischen Teilgebietes an, das so gross ist wie die Schweiz und 200 Kilometer südlich von Sankt Petersburg und 500 Kilometer nordwestlich von Moskau liegt. In dieser Provinz haben die britische Getränkeherstellerin Cadbury und die dänische Süsswarenproduzentin Stimorol, vor vier Jahren durch Steuervorteile angelockt, für mehr als 250 Millionen Dollar riesige Produktionsstätten aufgebaut. Die Region gilt als eine der neun schnellstwachsenden innerhalb des grossen Reiches, das sich von Sankt Petersburg bis nach Wladiwostok erstreckt.

Karl Eckstein läuft im alten Tagungszentrum vor den siebzig Personen zu grosser Form auf. Er sagt den Beamten Sätze wie: «Der Beamtenapparat baut sich selber auf und erhält sich selber am Leben.» Und: «Letztes Jahr hat Präsident Putin mit neuen Gesetzen die Korruption zu bekämpfen begonnen. Aber jedes neue Gesetz hat neue Korruptionsfelder geschaffen.» Oder: «Die Verfassung Russlands wird im Alltag nicht gelebt.» Als Reaktion erntet Eckstein stummes, ausdrucksloses Abwarten. Der Staatsanwalt lässt sich aus dem Raum rufen und erscheint nicht mehr. «Ein alter russischer Trick», wispert eine Richterin. Die anderen lauschen, und bei jedem malerischen Beispiel aus dem russischen Alltag des Referenten hebt sich die Stimmung der Anwesenden. Alle könnten sie ähnliche Geschichten erzählen. Russland ist nicht nur in den Augen des Westens das Land der hohen bürokratischen Hürden. Selbst Einheimische denken dies.

Schwierige Neunzigerjahre
Nie mehr Russland, hat sich deshalb der Schweizer Unternehmer Beat Curti vor knapp fünf Jahren geschworen, als er vor Korruption und Kriminalität kapitulierte und seine Aktivitäten im östlichsten Europa abrupt einstellte. Russland sei der Albtraum eines jeden Kapitalisten, hört man sagen. Das Land sei eine unkontrollierte Verbrennungsanlage westlicher Gelder, in unvorstellbarem Masse während der so genannten Rubelkrise, des schlagartigen Wertzerfalls der einheimischen Währung im Sommer 1998. Die Credit Suisse First Boston verlor damals mehrere Hundert Millionen Franken mit ihren Russlandaktivitäten. Zuvor hatten russische Manager traurige Berühmtheit erlangt, weil sie ihren Investoren Transaktionskosten aufbürdeten und selber dreiste Geschäfte machten.

Der Fall eines CEO einer staatlichen Ölfirma, der seinem eigenen Unternehmen Hundertausende von Barrels gratis abgab, nur um diese später für teures Geld und im eigenen Interesse ins Ausland zu verkaufen, ist in vielen internationalen Managementfibeln verbürgt. In westlichen Medienberichten waren in den Neunzigerjahren Schauergeschichten über Mafia, Korruption, Bürokratie und schiere Anarchie zu lesen. Das Böse, das es fortan in Hollywood-Filmen zu bekämpfen galt, kam aus dem postsowjetischen Reich. Die Steigerungsform war geboren: schlecht, schlechter, Russland.

Alfred N. Schindler, Chef der gleichnamigen Aufzugsfirma im luzernischen Ebikon dachte ebenso. Er zog China Russland vor. Seit kurzem schwärmt der Senior jedoch. «Auf nach Russland!» heisst seine Losung. So wie er ändern viele Schweizer Unternehmer ihre Meinung. Sie haben das Land als Absatz- und Produktionsmarkt wieder entdeckt.

Die wichtigsten Gründe sind schnell aufgezählt: Entgegen sämtlichen amtlichen Statistiken existiert ein wachsender Mittelstand, der sein Vermögen zu Hause unter dem Kopfkissen verwahrt, aber immer mehr «verkonsumiert». Als Indikator dafür dient Ikea. Der schwedische Möbelhändler hat in seinem ersten Moskauer Ableger innerhalb von nur zwei Monaten den gesamten, einst für ein Jahr budgetierten Umsatz eingefahren. Bereits im ersten Betriebsjahr machte Ikea in Moskau Gewinn statt wie prognostiziert erst nach fünf Jahren. Auch internationale Luxusgüter-Anbieter wie die Italiener Gucci oder Zegna schwärmen vom russischen Markt. Er beschert ihnen die weltweit grössten Wachstumsziffern. Auf der anderen Seite verschaffen die jährlichen Handelsüberschüsse Präsident Wladimir Putin neue Spielräume. Russland bezahlt seine Schulden pünktlich zurück und erhält leichteren Zugang zu den wichtigen internationalen Kapitalmärkten. Die russische Wirtschaft boomt. Der WTO-Beitritt ist nicht mehr fern. 2004 soll es, geht es nach Putins Administration, so weit sein.

Das Interesse von Schweizer Unternehmern an Russland hat sich in den letzten Monaten und Jahren kontinuierlich verstärkt. Ein heute in der russischen Lebensmittelproduktion tätiger Einzelunternehmer hat kürzlich an einem Seminar in der russischen Botschaft in Bern ein Loblied über die Möglichkeiten gesungen, die Russland den Schweizer KMUs biete. Hanspeter Rikli macht Gewinne mit Pommes-Chips, die er 500 Kilometer südlich von Moskau in Woronesch aus selber gezogenen Kartoffeln und ausschliesslich für den russischen Markt her-stellt. Russland gilt mit hohen Preisen und tiefen Kosten als profitabler Markt. Spezialisten haben für Russland durchschnittliche Gewinnmargen von 13 bis 19 Prozent errechnet, während in Mitteleuropa im letzten Jahr 9 Prozent das Mass aller Dinge gewesen seien.

Die Frage der Implementierung
Was Wunder, empfehlen drei Absolventen der Management-Weiterbildungsstufe an der Hochschule für Wirtschaft in Luzern den Schweizer Mittelständischen, jetzt den Weg nach Russland zu wagen. Russland ist zurück, die Rubelkrise Vergangenheit. Doch Vorsicht ist bei allem einsetzenden Überschwang weiterhin geboten. Selbst wenn sich heute ein Schweizer Engagement in Russland lohnt, bleiben gewichtige Fragen. Karl Eckstein, der Anwalt aus Moskau, sagt seinen Zuhörern in Nowgorod, warum ein Verwaltungsverfahrensgesetz notwendig sei: Es stärke vor allem den für die gesamte Gesellschaft vital wichtigen Mittelstand. «In einer ungeregelten Atmosphäre kann der Mittelstand nicht erblühen», sagt Eckstein.

Der Anwalt und seine Kollegen machen an jenem Tag auf dem Land klar, wo eines der grössten Probleme Russlands liegt: bei der mangelhaften Einführung und der ausbleibenden Umsetzung der hastig durch das Parlament Russlands gepeitschten Reformen. Die Weltbank hat aus diesem Grund im vergangenen Frühling ein Programm gestartet, das während dreier Jahre messen soll, wie sehr sich die in Moskau beschlossenen Reformen in den weit abgelegenen Regionen auswirken. In der Regel – so die Meinung der Pessimisten – seien die Gesetzes- oder Verfassungsveränderungen im grossen Land kaum spürbar. Aus diesem Grund hat Russlands Präsident Wladimir Putin vor etwas mehr als einem Jahr die Kontrollspanne verkleinert. Er hat Russland in föderale Regionen unterteilt und Regierungsvertreter eingesetzt, welche die Regionen überwachen.

Die Frage der Korruption
Am Abend vor dem Auftritt Ecksteins und Werschinins haben die beiden im Turm der alten Festungsanlage von Nowgorod zu einem Dinner mit den regionalen Spitzenkräften der Jurisprudenz geladen. Richter, Professoren und zwei föderale Vertreter Putins laben sich an einheimischer Kost, und der Schweizer Anwalt skizziert im illustren Kreis hinter den dicken Mauern seine Idee. Man ist sich in einer Sache einig: dass die Bürokratie – noch immer kontrolliert der Staat 70 Prozent der Volkswirtschaft – und die damit verbundene Korruption eines der Hauptübel im Land darstellen. Ein anderer Schweizer, Paul Baumgartner, der Finanzchef von ABB in Russland, kann davon ein Liedchen singen. In den vergangenen acht Jahren hat er seine eigenen Erfahrungen mit der russischen Beamtenmentalität gemacht und kürzlich in einem öffentlichen Auftritt aus seinem Fundus von Anekdoten geschöpft.

Baumgartner erzählt, dass er während acht Monaten ständig vier Leute von einer amtlichen Aufsichtsstelle in einem seiner Unternehmen zu Besuch hatte. Allein in Moskau existieren mehr als 30 Aufsichtsstellen, die kleinere und mittlere Firmen jederzeit überprüfen und mit Klagen überziehen können. Die Kontrolleure wollten Baumgartner nachweisen, dass er mehr Unternehmens-Steuergelder zu bezahlen hätte. «Die Leute legten unsere Finanzabteilung praktisch lahm», erinnert sich Baumgartner. Sie stellten in dieser Zeit zweimal «grotesk hohe und unterschiedliche Forderungen», denen Baumgartner jedoch nicht Folge leistete. Der Berner ABB-Mann widerstand und erhielt am Ende Recht.

Die Frage der Sicherheit
Widerstand heisst die Strategie, zu der Anwalt Karl Eckstein seinen Schweizer Kunden in Moskau rät und die am Abend in der Festung von Nowgorod von den Richtern volle Zustimmung findet. Mit so manchem Trinkspruch wird Karl Eckstein, der Importeur der neuen Rechtsidee, gefeiert. Auch der Justizminister – quasi Bundesrätin Ruth Metzlers Pendant für Nowgorod – hält sich dabei nicht zurück. Wiktor Chrabrow, erst 35-jährig, steht für die junge Generation, die nach den wilden Neunzigerjahren den neuen, kontrollierten Aufbruch in die freie Marktwirtschaft rechtlich absichern will. Chrabrow hat keine Mühe damit, dass ein Schweizer Denkanstösse in Russland liefert. «Für intelligente und vernünftige Menschen spielt es keine Rolle, wer neue, wertvolle Informationen bringt», sagt er. «Hier in Russland ist der Transformationsprozess im Gang. Die Grenzen sind gefallen. Junge Menschen gehen seit 1990 hinaus und kommen mit neuen Ideen zurück. Die Stiftung Konstituzia verkürzt diesen Prozess vielleicht um eine Einheit.»

Am Ende des Abends reicht der Justizminister allen die Hand, dreht sich um und spaziert allein in die Nacht davon. Ohne Bodyguard. Ohne gepanzerte Limousine. Er überrascht die westlichen Besucher, die sich in Russland, von Vorurteilen getrieben, um die eigene Sicherheit sorgen. «Was ich hier im deutschsprachigen Raum über die Sicherheit in Russland lese, entspricht nicht der Wahrheit», sagt ABB-Finanzchef Paul Baumgartner trocken. Daniel Thorniley, Chef-Analyst für Osteuropa bei Economist Intelligence Union (EIU), sagte an einem Kongress in Moskau: «Dein russischer Partner ist ein Dieb, und die russische Mafia killt dich – das ist CNNs Sicht der Dinge. Die Realität sieht anders aus, aber das Leben in Russland ist sicherlich nicht süss und leicht.»

Die Frage des Kreditwesens
Die Banken haben eine gewisse Schuld daran, dass Russland für kleine und mittlere Unternehmen keineswegs «süss» erscheint. In Russland existiert keine Bankenkultur im westlichen Sinne. Die staatlich kontrollierte Sperbank, das grösste der inländischen Finanzinstitute, verwaltet 75 Prozent aller Privateinlagen der russischen Haushaltungen und 80 Prozent der ausländischen Depositen.

Wie alle anderen 1350 Banken des Landes hält sich die Sperbank bei der Vergabe von Krediten an kleine und mittlere Unternehmen vornehm zurück. Die Finanzinstitute führen mangelnde Rechtssicherheit als Argument ins Feld und haben damit nicht unrecht. Oleg Deripaska, der als einer der reichsten Russen geltende Unternehmer kritisiert diesen Umstand. «Wir haben zwar in Russland ein prächtiges Wirtschaftswachstum. Nicht Schritt halten können damit jedoch die Banken. Das Fehlen eines Kapitalnetzes in Russland ist der Grund für die vielen Monopole. Es gibt beispielsweise keine Chance für Private, im Bereich der elektrischen Versorgung ein eigenes Geschäft aufzubauen.»

Die Frage der Nachhaltigkeit
Oleg Deripaska ist überzeugt, dass lang anhaltendes Wachstum in Russland nur durch die Schaffung eines funktionierenden Kapitalmarktes garantiert werden könne. Diese Meinung teilt Daniel Thorniley von der EIU. Er hat die Nachhaltigkeit des einsetzenden Aufschwungs in Russland an einem Kongress in Moskau im Frühsommer positiver eingeschätzt als Deripaska: «Russland ist nicht Argentinien. Russland hat die härtere Währung, mit viel Raum nach oben und nach unten.» Thorniley spielte auf die oft kritisierte Abhängigkeit der russischen Wirtschaft vom Ölpreis an. Nach seiner Meinung sind in diesem Bereich grosse Reserven vorhanden (Interview mit Christof Rühl, Chefökonom der Weltbank in Russland).

Auch der Schweizer Botschafter in Russland, Walter Fetscherin, glaubt nicht an ein Strohfeuer in der russischen Wirtschaft. Fetscherin will im Dezember mit Hilfe des Osec einen «Swiss Business Hub» eröffnen. In Moskau möchte er und Osec-Vertreter Tony Moré mit diesem «Dienstleistungszentrum Türöffner und Begleiter für Schweizer Unternehmer in Russland sein.»

Hanspeter Rikli, der Pommes-Chips-Hersteller in Woronesch, erklärt, weshalb für eine derartige Hilfestellung eine Nachfrage bei Schweizer KMUs bestehen könnte: «Mir kommt es manchmal so vor, als ob von einem Augenblick auf den anderen eine grosse Welle der Probleme über mich schwappen würde. Wenn Sie als Unternehmer nach Russland gehen, wird es Ihnen bestimmt nie langweilig.» Beratung und politische Unterstützung via Business Hub könnte in solchen Fällen hilfreich sein. Russland ist eigen. Das kann der Schweizer Anwalt, der das basel-landschaftliche Verwaltungsverfahrensgesetz nach Russland importieren möchte, nur unterschreiben. Karl Eckstein brach das Seminar in Nowgorod eine Stunde früher als geplant ab. Die Anwälte und Richter wollten sich an einem kalten Buffet gütlich tun – sie konnten einfach nicht mehr länger auf das Abschlussfest warten. Dafür liessen sie den Anwalt mehrere Stunden lang in ihren Trinksprüchen hochleben.

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