David Ricardo, Sohn jüdischer Eltern und gesegnet mit mindestens 16 Geschwistern, tritt bereits als pubertierender Jüngling ins Geschäft seines Vaters ein. Als er mit 21 eine christliche Quäkerin heiratet, verstösst ihn sein Vater. Ricardo macht sich selbstständig mit einem Maklerbüro an der Londoner Börse.

Sein Geld verdient er als «contractor»: Um ihre Rüstungsausgaben während der Napoleonischen Kriege zu finanzieren, begibt die englische Regierung Anleihen.

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Ricardo vermittelt sie an Investoren und erwirbt sich den Ruf eines untadeligen, ehrlichen Maklers – die Basis für seinen Erfolg. Seinen Vater, Abraham Ricardo, der in derselben Branche tätig ist, überflügelt er innerhalb weniger Jahre. Am Ende seines Lebens zählt Ricardo zu den reichsten

Briten seiner Zeit; das Vermögen wird auf nahezu 100 Millionen Franken taxiert. Ricardo selbst führte diese beachtliche Geldvermehrung darauf zurück, dass er sich stets an der «langen Frist» orientierte. Das heisst, er ignorierte Trends und Moden und investierte in dauerhafte Entwicklungen. Heutzutage würde jemand wie Ricardo sein Geld in Anlagevehikel stecken, die auf Rohstoffknappheit oder das Überaltern der Gesellschaften setzen.

Nicht nur in diesem Punkt ist Ricardo erstaunlich zeitgemäss. Seine Aussagen zur Stabilität einer Währung, zu Problemen der Staatsverschuldung oder zur Frage, wie Wert entsteht, gehören zum Lehrplan jedes Nachwuchsökonomen. Art und Methode, wie er seine Theorien entwickelte, prägen die Arbeitsweise der Volkswirte bis heute. Und wer nach Argumenten sucht, was internationaler Handel und Globalisierung der Welt Gutes bescheren, der findet seinen wichtigsten Kronzeugen in David Ricardo.

Neben seiner Maklertätigkeit macht er Furore mit Zeitungsaufsätzen über Geldpolitik, er bildet sich in Mathematik und Geologie weiter, sitzt in seinen letzten Lebensjahren im englischen Parlament, und mit seiner Frau Priscilla Ann Wilkinson hat er acht Kinder. Und als ob dies alles noch nicht genug wäre: Als er seine Frau bei einem Kuraufenthalt im südenglischen Bath begleitet, fällt ihm Adam Smiths Hauptwerk «Der Wohlstand der Nationen» (siehe BILANZ 20/2005) in die Hände. Ricardo ist nachhaltig beeindruckt. Genauso eindrücklich indes wirken die heraufziehenden Wirtschaftskrisen auf ihn: Der Krieg gegen Napoleon verschlingt Unsummen, Staatsverschuldung und Inflation nehmen zu, Lebensmittel sind durch Importzölle künstlich verteuert.

Persönlicher Erfolg einerseits, anderseits kritische Zeitumstände: Vor diesem Hintergrund begann Ricardo mit seinen theoretischen Überlegungen. Und so liest sich Ricardo etwas pessimistischer als Smith, auf dessen Ideen er aufbaut. Ricardo erwies sich als «Praktiker mit grossem Abstraktionsvermögen», so der Grazer Wirtschaftsprofessor und Ricardo-Herausgeber Heinz D. Kurz. Anders als bei Smith ist bei David Ricardo das Wirtschaftswachstum nicht grundsätzlich unendlich. Smiths Denken kreist um das Individuum und dessen wirtschaftliche Entfaltung, für die keine Grenze in Sicht scheint. Ricardo dagegen hat seinen Ausgangspunkt bei der Verteilung des Volkseinkommens – quasi des Bruttoinlandprodukts (BIP) also. Vorhandenes verteilen statt unbegrenzt wachsen: Auch das ist eher ein skeptisches Konzept.

Einige seiner Aussagen prägten fortan die Wirtschaftstheorie, und auch bezüglich praktischer Probleme haben Ricardos Überlegungen bis heute Gültigkeitscharakter. Staatsverschuldung etwa bezeichnete er bereits vor 200 Jahren als «eine der schrecklichsten Geisseln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden». Doch erst in jüngster Zeit identifizieren Regierungen hohe Schuldenstände als ernste Gefahr. Die Staaten der Euro-Währungsunion etwa haben sich verpflichtet, ihre Schulden nicht höher wachsen zu lassen als bis zu 60 Prozent des BIP. Deutschland liegt bereits knapp über dieser Marke, Italien schon bei über 100, Japan bei mehr als 160 Prozent. Solche Schulden ziehen umfangreiche Zins- und Tilgungsbelastungen nach sich, die den finanziellen Spielraum der Staaten limitieren. In Deutschland etwa macht der Schuldendienst den zweitgrössten Posten im Bundeshaushalt aus, übertroffen nur von den Sozialausgaben.

Die Debatte darüber wird unter dem Stichwort «Generationengerechtigkeit» geführt: Dürfen die heute Lebenden die Staatsschulden immer höher treiben, die Begleichung aber künftigen Generationen überlassen? Ricardo, der England Anfang des 19. Jahrhunderts Unsummen für Kriege verschleudern sah, stellte sich ähnliche Fragen: Wie kann die englische Regierung diese Lücken in der Staatskasse wieder stopfen? Gemäss Ricardo ist es, in der langen Frist, nicht von Belang, ob sich der Staat sein Kriegsbudget über Schuldenaufnahme beschafft oder sofort die Steuern erhöht. Denn für ihn sind – etwas grob gesprochen – die Schulden von heute die Steuern von morgen. Entweder der Staat holt sich also sein Geld sofort von den Bürgern, oder er macht Schulden: Dann werden die Bürger wissen, dass sie später per Steuern Nachzahlungen leisten müssen, und entsprechend Bares dafür zurücklegen.

Dass aber die Menschen nicht so berechnend sind, wie Ricardo kalkulierte, hat die Wissenschaft bewiesen. So wurde Anfang der 1980er Jahre in den USA untersucht, ob die Bürger nach Steuersenkungen tatsächlich im Sinne Ricardos rational handeln, dass sie also nicht impulsiv das zusätzliche Geld ausgeben, sondern es für später sparen. Die Sparquote hätte also steigen müssen – aber sie tat es nicht. Überhaupt: Eine rationale Entscheidung könnte ja auch darin bestehen, das Sparen aufzuschieben und darauf zu hoffen, dass die Politik die Schuldentilgung späteren Generationen überlässt …

Mit seiner These, dass die jeweilige Entscheidung – Verschuldung oder sofortige Besteuerung – keine realwirtschaftlichen Auswirkungen zeitigt, steht Ricardo zwischen den miteinander konkurrierenden Denkschulen des Keynesianismus und des Neoliberalismus. Keynesianische Theoretiker gehen von einem umgekehrten Effekt aus: Ihrer Ansicht nach bringen niedrige Steuern auf Kosten steigender Verschuldung die Bürger nicht zum Sparen, sondern zum Geldausgeben – Ankurbelung der Nachfrage als erwünschte Folge von «deficit spending» oder Steuersenkungen. Die so genannten Neoliberalen dagegen sehen Staatsverschuldung als grundsätzlich nachteilig an, weil der Staat durch seine Nachfrage nach Krediten den Finanzmärkten Geld entzieht und damit Investitionen bremst. Ausserdem sollten Aktivitäten möglichst im produktiven Sektor – nämlich dem privaten – stattfinden. Und nicht im unproduktiven Staatsapparat.

Zur Verteilung gelangt gewöhnlich etwas dann, wenn nicht genug für alle da ist; ansonsten könnte sich ja jeder nach Lust und Laune bedienen. Und tatsächlich machte sich Ricardo darüber Gedanken, wie die wachsende Bevölkerung Englands mit den Gütern des täglichen Lebens versorgt werden könnte. Diese Besorgnis hat möglicherweise der britische Bevölkerungswissenschaftler und Ökonom Thomas Malthus ausgelöst. Mit Malthus verband Ricardo, ausser einer persönlichen Freundschaft, eine herzliche Abneigung in den politischen Ansichten und eine gewisse Veranlagung zur privaten Anarchie: Während Ricardo mit seiner Heirat die jüdischen Glaubensregeln verletzte, gab Malthus sein anglikanisches Priesteramt auf, um eine zehn Jahre jüngere Frau zu ehelichen.

Beide teilen den Gedanken, dass die wirtschaftliche Entwicklung ein Wettlauf zwischen der ständig wachsenden Bevölkerung und dem Ausdehnen der Nahrungsmittelproduktion sei. Malthus befürchtete, dass wollüstige Bauern zu viele Kinder zeugen könnten. Körperliche Triebe hielt er für mächtiger als jede Vernunft. Ein Mittel, die Bevölkerungszahl zu begrenzen, sah er daher in niedrigem Lebensstandard. Denn wer nur wenige Kinder ernähren kann, würde sich in puncto Vermehrung zurückhalten.

Auch Ricardo denkt an Bevölkerungskontrolle als Weg, die Löhne über dem Existenzminimum zu halten. Denn je mehr Arbeiter es gibt, umso grösser der Druck auf die Löhne. Arbeitslosigkeit existiert in seinen Vorstellungen nicht. Ohne Begrenzung des Bevölkerungswachstums, etwa durch bessere Bildung und sich ändernde Gebräuche, pendeln die Marktlöhne langfristig um das Gravitationszentrum der Subsistenzlöhne – das sind Löhne, die zur Selbsterhaltung nötig sind. Ricardo hat dafür den Begriff des «natürlichen Lohnsatzes» geprägt. Der Arbeiter soll damit sich selbst und seiner Familie den Unterhalt finanzieren können – wobei, im Fall einer stagnierenden Wirtschaft, die Familie zwei oder drei Kinder hat. Damit bliebe die Bevölkerungszahl ungefähr konstant. Sollte die Wirtschaft wachsen, wäre der natürliche Lohnsatz höher, damit auch die Arbeitsbevölkerung, entsprechend den Bedürfnissen der Kapitalakkumulation, wachsen kann. Solche Theorien entbehren mit Blick auf Indien und China nicht der Aktualität.

Ricardo wandte sich zwar gegen Gesetze zum Schutz der Armen, weil sie den Profit von Unternehmern oder Landpächtern mindern würden. Er hoffte aber, dass die Kapitalakkumulation einen Schub Investitionen auszulösen vermöchte, die wiederum zu einem langfristigen Anstieg des natürlichen Lohnsatzes führen würden. Somit würde sich die Lage der Arbeiter verbessern. Ricardo war überaus sozial eingestellt.

Wie verteilt sich nun das Gesamtergebnis der Produktion, das Marx als «Mehrwert», Ricardo und andere als «Surplus» bezeichneten?

Die eingängigste Version der Verteilungstheorie Ricardos – letztlich also seines Weltbildes – bezieht sich auf die Erzeugung von Weizen. Der Input der Produktion besteht aus Arbeit, Boden und Saatgut, der Output aus Weizen. Neben Arbeiter und Unternehmer treten als dritte Gruppe die Grundbesitzer. Sie stellen den Boden zur Verfügung, die Kapitaleigner Arbeitsmittel wie Saatgut, die Arbeiter ihre Schaffenskraft.

Der landwirtschaftliche Boden ist in Güteklassen eingeteilt. Bebaut wird naturgemäss zunächst der fruchtbarste Boden, auf dem Weizen am günstigsten hergestellt werden kann. Reicht dies nicht mehr aus, um alle hungrigen Mäuler zu stopfen, müssen die Bauern auf die nächstschlechteren Böden ausweichen. Die Folge ist, dass die Grundeigentümer der besten Böden von ihren Pächtern eine Grund- oder Differenzialrente kassieren können. Denn wer einen Boden zu verpachten hat, der statt 800 Kilogramm Weizen eine Tonne pro Flächeneinheit hervorbringt, kann 200 Kilogramm als Rente einstreichen – sie markiert die Differenz zum zweitklassigen Boden. Aber auch der Inhaber dieses Bodens kann eine Rente einstreichen, sofern Böden noch schlechterer Qualität bebaut werden müssen, die höhere Kosten verursachen. Nur der Eigner des schlechtesten bebauten Bodens bekommt nichts, obwohl hier noch Getreide produziert wird.

Insgesamt zeigt sich hier: Der gesamte Output an Weizen nimmt immer mehr zu, wenn auch mit jeder weiteren Bodeneinheit der Zuwachs geringer wird. Das heisst im Ergebnis: Mit der Bewirtschaftung von immer mehr Böden abnehmender Qualitäten steigt zwar der Gesamtertrag an Weizen, es sinken jedoch der Durchschnitts- und der Grenzertrag, also der Ertrag der am schlechtesten bebauten Parzelle. Diese Entwicklung kann sich bis zu einem Maximum steigern, bis der Weizen-Output nicht mehr erhöht werden kann. In diesem Modell hat Ricardo das «Gesetz des abnehmenden Grenzertrags» entwickelt.

Dass die Löhne um das Existenzminimum herum pendeln, erklärt Ricardo mit Marktgesetzen. Steigt die Nachfrage nach Arbeit, dann erhöht sich deren Marktpreis, der Arbeiter hat folglich mehr, als überlebensnotwendig ist, und kann aus dem Überschuss eine grössere Familie ernähren. Das führt dazu, dass das Angebot an Arbeitskräften über das erforderliche Mass zunimmt. Dieses Überangebot wiederum drückt auf die Löhne. Ricardo kalkuliert, dass kaum eine zahlreiche Kinderschar finanzieren wolle, wer hart an oder gar unter der Armutsgrenze verdiene. Ergo nähme die Zahl der Arbeiter wieder ab.

Der Profit schliesslich, das Einkommen der Unternehmer, wird nachrangig bestimmt. Die Löhne sind von aussen, also exogen, vorgegeben, weil sie sich von physiologischen und sozialen Faktoren ableiten, nämlich vom Existenzminimum. Die Restgrösse des Profits ergibt sich dann aus dem rentenlosen Grenzertrag. Der Lohn ist gegeben, und weil immer schlechtere Böden bearbeitet werden müssen, passiert Folgendes: Verglichen mit dem in Weizen gemessenen Input – also dem Saatgut und den Löhnen –, wird immer weniger Output erzielt. Die Differenz zwischen Output und Input ist der Profit. Das Verhältnis von Profit zu Input, der Kapitaleinsatz, ist die Profitrate. Sie sinkt notwendigerweise, wenn die Weizenproduktion ausgedehnt wird. Im Fall der Profitrate spiegelt sich, so Ricardo, «der Geiz der Natur».

Andererseits wirkt technischer Fortschritt dem Fallen der Profitrate entgegen. Bessere Produktionsmethoden sorgen für höhere Effektivität. Je nachdem, ob die Verknappung der Ressourcen oder der menschliche Erfindungsgeist vorherrscht, fällt die Profitrate oder eben nicht. Ricardo sah durchaus beide Möglichkeiten, die enorme Zugkraft des Fortschritts hat er aber unterschätzt, darin sind sich die meisten Kommentatoren einig. «In der Prophetie», sagt der Basler Wirtschaftshistoriker Peter Stolz, «war Ricardo so glücklos wie Karl Marx.»

Im privaten Wirtschaften jedoch nicht. Marx wäre ohne die Hilfe von Friedrich Engels aufgeschmissen gewesen, Ricardo indes erwies sich als glänzender Investor. Während der Napoleonischen Kriege forderte die Industrie sinkende Kornpreise, um die Subsistenzlöhne der Arbeiter niedrig zu halten. Von den hohen Kornpreisen, ausgelöst im Wesentlichen durch Importbeschränkungen, profitierten vor allem die Grundbesitzer. Um 1809 herum begann Ricardo, sein Vermögen umzuschichten: Er stiess Wertpapiere ab und legte in Ländereien an. Seinen Altersruhesitz Gatcombe Park bewohnt heute die britische Prinzessin Anne.

Ricardos Wirtschaftsweltbild sei ein Kreislauf, sagt der Grazer Ökonom Heinz D. Kurz: «Güter werden vermittels von Gütern produziert.» Die Produktionskosten bestehen also aus handfesten physischen Kosten, das heisst aus all den Gütern, die zur Herstellung des gewünschten Gutes zerstört werden müssen: Wer einen Kuchen backen will, muss ein Ei aufschlagen, Mehl und Zucker verbrauchen. Den Wert einer Ware erfasste Ricardo als Ausdruck der «Schwierigkeit ihrer Erzeugung».

In seiner Verteilungstheorie stiess David Ricardo allerdings auf ein Problem. Das Modell funktioniert in einer Welt, die nur ein Kapitalgut kennt: Weizen. Bereits das Bezahlen eines Arbeiters kann aber zu einem Bewertungsproblem der Arbeit führen, wenn kein Kornlohn, sondern ein Geldlohn gezahlt werden soll. Der Tauschwert zwischen Korn und Geld ist unklar. Umso schwieriger gestaltet es sich, relative Preise zwischen einer Vielzahl von Gütern zu ermitteln. Denn dass die Welt nicht nur aus Weizen besteht, leuchtet ein.

Dieses Problem der Heterogenität löst David Ricardo durch den Rückgriff auf
einen «letzten Wertstandard», die Arbeit. Ein Gut ist demnach so viel wert wie die Arbeit, die in ihm steckt. Die Anfertigung von Hilfsmitteln wie Produktionsmaschinen ist darin eingeschlossen. Der Wert setzt sich also zusammen aus dem Einsatz der Arbeiter und des Fabrikanten beziehungsweise des Farmers. Nicht zum Wert gehört der benutzte Boden. Die Rente des Grundeigentümers entsteht ausschliess-lich durch die unterschiedlichen Bodenqualitäten und die Knappheit an fruchtbareren Böden.

Diese Herleitung des Wertes aus der aufgewendeten Arbeit hat viel Kritik ausgelöst. Thomas Malthus fand, wie viele spätere Ökonomen auch, dass der Wert sich aus Angebot und Nachfrage ergebe. Jean Baptiste Say, auch er ein Freund Ricardos, hielt den Gebrauchswert eines Gutes für entscheidend. Karl Marx dagegen bediente sich zur Bildung seiner These, dass Mehrwert allein durch die menschliche Arbeitskraft entstehe, bei Ricardo. In dieser Erkenntnis, folgerte Marx, liege Ricardos «grosse historische Bedeutung für die Wissenschaft».

Ricardo selbst war sich der Schwächen seiner Werttheorie bewusst, wie er kurz vor seinem Tod in Manuskripten eingestand. Dem Theoretiker fehlten die analytischen Werkzeuge, seine Thesen zu untermauern: simultane Gleichungen und Mathematik. Abhilfe kam erst 1960 durch den italienischen Wirtschaftswissenschaftler und Ricardo-Jünger Piero Sraffa.

Er begriff die Wirtschaft ebenfalls als Produktionskreislauf von Gütern mittels Gütern. Nach Sraffa werden zur Herstellung jedes Gutes eine bestimmte Menge anderer Güter und Arbeit benötigt. Damit kann für jedes Gut eine Produktionsgleichung erstellt werden. Sobald für alle Güter Gleichungssysteme existieren, lassen sich die Tauschverhältnisse errechnen. Ein beliebiges Gut kann dabei als Währung dienen.

Am erfolgreichsten war Ricardo mit seinem «Prinzip des komparativen Vorteils»: Es hat ihn praktisch unsterblich gemacht. Denn mit dieser Theorie beantworten noch heute Ökonomen die Frage von Politikern, warum denn zum Teufel der Staat auf Zölle und Importverbote verzichten solle. Zum Beispiel beriefen sich zwei Autoren des Berner Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) noch 2002 in einem Aufsatz in der Zeitschrift «Volkswirtschaft» auf Ricardo, um die Vorteilhaftigkeit von Freihandel gegenüber Abschottung zu preisen. Die globalisierungskritische Erklärung von Bern publizierte postwendend, das Seco habe «geschummelt», Ricardos Konzept habe schon «arg viel Staub angesetzt».

Im Kern besagt dieser Lehrsatz: Internationaler Handel lohnt sich immer! Also auch dann, wenn eines der beiden Länder alle Produkte effizienter herstellen kann als der Handelspartner. Das Zauberwort heisst «Spezialisierung». Als rechnerischen Nachweis verwendet Ricardo ein einfaches Beispiel. Danach produzieren England und Portugal jeweils zwei Güter: Tuch und Wein. Portugal kann beide Waren billiger herstellen. Vergleichen die beiden Länder jedoch die Herstellungskosten beider Waren intern, dann stellt Portugal fest, dass die heimische Weinproduktion wesentlich effektiver ist als die Tuchproduktion, im Falle von England ist es genau umgekehrt. Ergo spezialisieren sich beide auf das, was sie jeweils am besten können.

Der Nobelpreisträger Paul A. Samuelson illustriert diese Logik durch den Vergleich mit einer Top-Anwältin, die überdies am schnellsten tippen kann. Soll sie ihre Schriftsätze selbst tippen oder diese Arbeit einer Sekretärin überlassen, um sich ganz auf die Juristerei zu konzentrieren? Oder soll ein schwerreicher Basketballspieler seinen Rasen selbst mähen oder das den Nachbarsjungen erledigen lassen, obwohl der Basketballer das viel schneller könnte? Die Antworten sind offensichtlich.

Öffnen sich die Staaten für diese Form des Handels, spezialisieren sich und schaffen Beschränkungen und Zölle ab, dann stehen am Ende alle besser da. Arbeitnehmer können in der Währung Arbeitszeit mehr Waren kaufen, wenn sie sich auf ihre komparativ vorteilhafte Produktion konzentrieren und den Rest importieren. Laut Samuelson steigt das Volkseinkommen aller Länder, die sich an diesem Freihandel beteiligen. Bis zu seinem Lebensende kämpfte Ricardo gegen die «corn laws», die englischen Getreidezölle. Als Parlamentarier beeindruckte er das Unterhaus mit seinen griffigen Ideen und Formulierungen – die Erfüllung seiner Forderungen erlebte er aber nicht mehr. Erst 1846,

Ricardo war 23 Jahre zuvor gestorben, schaffte England die Getreidezölle ab.
Ricardos mechanistischer Ansatz werde allerdings von der Wirklichkeit relativiert, krittelt die Erklärung von Bern durchaus zu Recht. So weist der mittlerweile 90-jährige Paul A. Samuelson darauf hin, dass Freihandel, auch als Globalisierung bezeichnet, nicht immer im Sinne Ricardos Vorteile für alle bringt. Wenn arme Amerikaner bei Wal-Mart billig einkaufen könnten, argumentiert er, so steigere das zwar ihren Lebensstandard. Gleichzeitig müssten sie allerdings befürchten, ihren Job zu verlieren. Denn Mister Wal-Mart kann vor allem deshalb so billig verkaufen, weil er zuvor billig eingekauft hat – und zwar nicht unbedingt in den USA, sondern in Asien.

Am nachhaltigsten wirke David Ricardo in der Ökonomenzunft jedoch nicht mit dem Gehalt seines Denkens, sondern mit der Methodik, mit der er zu diesen Schlussfolgerungen kommt, urteilt der Wirtschaftshistoriker Peter Stolz. David
Ricardo versuchte, Probleme in ihrem Kern zu durchdringen. Komplizierte Sachverhalte destillierte er zu einfachen Modellen. «Unter einer Grosszahl an Einflussfaktoren suchte er diejenigen heraus, die systematische und dauerhafte Wirkung haben», so Heinz D. Kurz.

Und deshalb stöhnen in den universitären Elfenbeintürmen noch heute Studenten über abstrakte Kurvendiagramme und simultane Gleichungen. Bedanken können sie sich bei David Ricardo, denn auf ihn geht das mathematische Bearbeiten volkswirtschaftlicher Fragen zurück. Ricardo riet zur Skepsis gegenüber «Leuten, die nur etwas für Tatsachen, nichts aber für die Theorie übrig haben». Denn sie hätten kein Bezugssystem und seien «kaum im Stande, ihre Tatsachen zu ordnen». Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie! David Ricardo hat die Ökonomie auf ihrem Weg von einer beschreibenden zu einer analytischen Wissenschaft einen grossen Schritt vorangebracht.

Das Hauptwerk

«Über die Grundsätze der Politischen Ökonomie und der Besteuerung» (On the Principles of Political Economy, and Taxation, 1817), aktuelle Edition herausgegeben von Heinz D. Kurz: In einzelnen Kapiteln, die sich wie in sich abgeschlossene Essays lesen, entwirft Ricardo theoretische Grundlagen für die Verteilung des Volkseinkommens: Löhne, Profite, Bodenrenten. Zudem untersucht er den Begriff «Wert», die Voraussetzungen und Gefahren für das Wirtschaftswachstum, es geht um Steuern, Zollschranken und Währungsfragen. In der dritten Auflage, die 1821 erschien, hat er einige Teile verändert, andere, etwa über das Heraufziehen der Maschinerie, hinzugefügt.

Eine komplette Sammlung der Ricardo-Schriften inklusive unveröffentlichter Texte und Briefe gibt es von Piero Sraffa: The Works and Correspondence of David Ricardo, erschienen bei Cambridge University Press.

Literatur

Samuel Hollander: Economics of David Ricardo. Heinemann, London 1979, 759 Seiten. Umstrittene Interpretation Ricardos. Nur noch antiquarisch zu bekommen.

Nancy Churchman: David Ricardo on Public Debt. Palgrave Macmillan, Basingstoke 2001, 200 Seiten, Fr. 140.–.

Heinz D. Kurz: Ökonomisches Denken in klassischer Tradition. Aufsätze zur Wirtschaftstheorie und Theoriegeschichte. Metropolis, Marburg 1998, 592 Seiten, Fr 69.20.

Eine Reihe teilweise unveröffentlichter Aufsätze von Ricardo-Forscher Heinz D. Kurz, oft in Zusammenarbeit mit Neri Salvadori von der Uni Pisa, findet sich
auf www.uni-graz.at/heinz.kurz/information.html.

David Ricardo im Zeitraffer der Weltgeschichte

Dirk Ruschmann
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