BILANZ: Ernesto Bertarelli, nächstes Jahr ist Ihr Zehn-Jahre-Jubiläum als CEO. Was haben Sie in dieser Zeit erreicht?

Ernesto Bertarelli: Damals setzten wir 682 Millionen Dollar um, heute sind es 2,5 Milliarden, also eine Vervierfachung. Wir haben zwar nie Verlust gemacht, aber als ich das Steuer übernahm, kamen wir dem immer näher, weil wir inadäquate Produktionsstätten hatten. Heute machen wir 500 Millionen Dollar Reingewinn.

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Sie führen Serono in dritter Generation. Hat Ihnen Ihr Vater einen Rat gegeben, der Sie besonders geprägt hat?

Es wäre schwierig, nur einen einzigen zu nennen – er hat mir seit meinem fünften Lebensjahr Ratschläge erteilt. Wenn ich nur einen einzigen behalten sollte, dann vielleicht diesen: «Treffe Entscheidungen, spring ins kalte Wasser.» Wir lernen nur durch Fehler. Und dadurch, dass wir Entscheidungen treffen.

Welche Verbindung hatten Sie mit Serono, bevor Sie dort zu arbeiten begannen?

Mein Vater hat mich immer ins Vorzimmer der Macht mitgenommen. Von ganz klein auf habe ich an den Direktionstreffen teilgenommen, besonders auf seinen Reisen zu den Niederlassungen. Ich habe die Essen mit ihm und den Verkäufern geteilt, habe sogar, während er arbeitete, gespielt in diesem Büro, in dem wir jetzt gerade sind. Ich war an Abendessen dabei, wo Ärzte meinem Vater von ihren Behandlungsmethoden erzählt haben. Es ist schwer, den Erwachsenen zuzuhören, wenn man Kind ist und eigentlich nur seine Freunde treffen will. Damals dachte ich, ich verliere nur Zeit. Dabei habe ich in seinem Schatten so viel gelernt. Sei es über Biotech, über Industrie im Allgemeinen oder auch über Themen wie Beziehungen zu den Behörden und die Regulation. Mit 18 bis 20 Jahren habe ich dann persönliche Beziehungen zu den Mitarbeitern aufgebaut, ich wurde an den Entscheidungen beteiligt. Es war ein Privileg, im Herzen des Unternehmens zu sein, ohne es zu sein. Die Leute haben sich auch getraut, mir alles zu sagen, denn ich war ja nicht der Chef.

Warum sind Sie nicht früher offiziell bei Serono eingetreten?

Nach zwei Jahren bin ich nach Harvard gegangen, um meinen MBA zu machen. Ich war zum Schluss gekommen, dass ich mich im Schatten meines Vaters nicht mehr weiterentwickeln konnte. Er war in einer Sache besonders autoritär: Er wollte, dass ich bei ihm, am Unternehmenssitz, bleibe. Ich aber hatte den Eindruck, Serono schon bis in den letzten Winkel zu kennen. Ich wollte lieber meine Ausbildung verbessern.

Wie hat Ihr Vater reagiert?

Als ich ihm von meiner Zulassung in Harvard berichtete, wo neun von zehn Kandidaten abgelehnt werden, sagte er: «Ich verstehe, du willst zwei Jahre Urlaub.» Seine Antwort war überraschend, er wollte mich an seiner Seite behalten.

Sie feiern heuer Ihren 40. Geburtstag. Werden Sie mit Ihren Kindern so verfahren wie Ihr Vater mit Ihnen?

Ich würde das Gleiche machen, aber nicht unbedingt mit demselben Ziel, weil Serono heute sehr viel grösser ist. Meine Tochter ist vier Jahre alt, mein Sohn 18 Monate. Die Kinder sollen meine beruflichen Aktivitäten kennen lernen, aber ich sehe ihr Leben unter einem grösseren Aspekt als lediglich unter dem des Familienunternehmens. Ich will zu ihnen ein enges Verhältnis aufbauen, das auf Ehrlichkeit und Vertrauen beruht. Aber von der Zukunft meiner Kinder zu sprechen und dabei ihre berufliche Laufbahn ins Auge zu fassen, wäre eine Utopie angesichts ihres Alters. Man muss aufpassen: Es gibt viele Fälle, in denen die Last der Familie zum Scheitern führt.

Lässt die Presse den Erben genug Zeit?

Sie, die Presse, haben ein einfaches Weltbild. Zum einen interessieren Sie sich nur für Sieger und Verlierer, nicht für diejenigen dazwischen. Ausserdem haben Sie Vorurteile. Da ich der Sohn des Patrons bin, wurde ich von der Schweizer Presse automatisch zum «fils à papa» gemacht, obwohl mein Leben das Gegenteil bewies. Meine Familie steckte mich mit sieben Jahren ins Internat; das war für mich, wie wenn ich aus dem Familienkokon ausgestossen worden wäre. Mein Vater sorgte dafür, dass mein Taschengeld ein Drittel unter dem meiner Mitschüler lag. Als ich mich entschied, in die USA zu gehen, hatte ich keinen Rappen, weil mein Vater mit meiner Entscheidung nicht einverstanden war. Ich schlief im Zimmer eines Freundes. Eines Tages war mein Vater in der Nähe auf Geschäftsreise und besuchte mich. Er stellte fest, dass ich an der Fakultät eingeschrieben war und tatsächlich Kurse besuchte. Als er meine schwierigen Lebensumstände sah, gab er mir Geld – vorher nicht. Ich hätte bei Serono ja einfach die Rolle des künftigen Bosses spielen können. Aber ich beschloss, das Zulassungsprozedere für Harvard auf mich zu nehmen. Und ich kann Ihnen sagen, dass mein Familienname der Schule egal war und dass meine Familie nichts unternahm, um mir auf welche Weise auch immer dort ein Freibillet zu verschaffen.

Welche Vision für das Familienunternehmen hatten Sie zu jenem Zeitpunkt?

Wir waren damals im Bereich der Unfruchtbarkeit und der Wachstumshormone tätig. Wir wollten uns im Bereich Biotech engagieren. Als ich aus Harvard zurückkam, wandte ich einen amerikanischen Managementstil an, mit Prozessen, einer Struktur, Funktionen, einer Matrix. Ich arbeite an diesen Themen und versuche, sie zu modernisieren. Die Idee besteht darin, für die ganze Organisation sehr klare Führungslinien zu entwickeln.

Sind neue Therapiegebiete vorgesehen?

Langfristig sicher. Die Onkologie ist ein gutes Beispiel. Krebs ist eine der grossen Herausforderungen unserer Zeit. Die Technologie hat uns dort neue Möglichkeiten eröffnet. Vereinfacht ausgedrückt, versucht Biotech absterbende Zellen umzuprogrammieren. Genau das macht der Krebs, wenn er den Organismus angreift. Die klarste Vorstellung, was Krebs bedeutet, hat mir mein Vater gegeben. Eines Tages rief er mich ins Büro und zeigte mir ein Bild der DNA seiner Zellen. Die Zellen waren damals bereits so stark angegriffen, dass alles nur noch bruchstückhaft schien. Es war sehr klar zu erkennen, dass mein Vater sterben würde.

Was denken Sie über die Skandale, die Pharmaunternehmen dazu gezwungen haben, als gefährlich eingestufte Produkte vom Markt zurückzuziehen?

Wir sind vielleicht die am stärksten regulierte Industrie der Welt, sogar noch vor der Luftfahrt. Eine Regierung kann uns morgen an der Arbeit hindern, indem sie eine Zulassung zurückzieht. Gleichzeitig sorgen die gestiegenen Gesundheitskosten dafür, dass sich die Staaten nicht mehr um alle Gesundheitsbedürfnisse ihrer Bürger kümmern können. Wir sollen nicht nur Produkte entwickeln, die heilen und Leben retten, sondern die der Gemeinschaft auch noch ökonomischen Nutzen bringen. Sonst ist es keine interessante Innovation.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Nehmen Sie die Reproduktion. Heute scheint die Welt es für einen Luxus zu halten, denjenigen Leuten Kinder zu ermöglichen, die keine haben können. Das ist sehr kurzfristig gedacht. In dieser Geisteshaltung hat Deutschland letztes Jahr entschieden, die Bedingungen einzuschränken, unter denen die Kosten eine Unfruchtbarkeitsbehandlung übernommen werden. Wegen dieser Entscheidung werden heuer in Deutschland 10 000 Babys nicht geboren. Das ist eine Fehlentwicklung, denn infolge der geringen Geburtsraten leidet Deutschland an einer Überalterung seiner Gesellschaft.

Wie überzeugen Sie die Kunden davon, dass Ihre Produkte sicher sind?

Unsere Gesellschaft akzeptiert keine Risiken mehr. Wir sind in einem Evolutionsstadium, in dem man ein Leben ohne Zwischenfälle anvisiert. Das ist natürlich unmöglich. Man denkt an alles, um unliebsame Überraschungen zu vermeiden. Beim Spazierengehen habe ich mir eines Tages überlegt, warum sich bei allen Apotheken in Europa die Türen automatisch öffnen. Vermutlich, um zu verhindern, dass der Kunde vor Ihnen Sie über die Türklinke ansteckt. Nun ja, heute funktioniert alles so, dass man uns das Risiko abnimmt, manchmal ohne dass wir es merken. Man muss ein Gleichgewicht finden zwischen Risiko und Nutzen, wenn man einen Sektor wie den unseren reguliert. Die Medikamente haben viele Menschen gerettet, haben zum Teil aber Nebenwirkungen. Dieses Risiko muss man beherrschen können.