Es ist ihm unangenehm. Entschuldigend hebt er die Hände. Neigt den Kopf leicht zur Seite. Und da dies noch nicht genügt, sagt er: «Es ist mir ein bisschen unwohl hier.»

Martin Kall steht in einer Ecke seines riesigen Büros. Geschätzte 70 Quadratmeter. Eine ikonisierte Kommandozentrale aus den Achtzigerjahren. Hier hat eine Menge Platz: zwei Sofas, zwei Ledersessel, ein Glastischchen, eine akkurat gezimmerte Wohnwand, zwei in sanftem Braunton gehaltene Schreibflächen, ein Dutzend Stühle, ein langer Sitzungstisch – und viele Ideen. Etwa darüber, wie die Probleme des «Tages-Anzeigers» gelöst werden könnten.

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Alle im Hause sparen, folglich auch er. Er wird sich in Bälde ein kleineres Büro zulegen. Martin Kall sagt: «Wir überprüfen derzeit alles bei Tamedia.»

Dieser Satz macht im Glashaus an der Werdstrasse nervös. Drei Beratungsteams sind am Werk. Die Vermesser von der Boston Consulting Group loten den Konzern aus, «Spiegel»- und «Stern»-Einflüsterer Hans-Dieter Degler antichambriert beim beliebig gewordenen Nachrichtenmagazin «Facts», die von Kall oft hinzugezogenen Kräfte von der Hamburger Firma Arkwright kartografieren den «Tages-Anzeiger». Arkwright kennt sich vor allem in Skandinavien gut aus, wo mittelgrosse Medienhäuser wie Schibsted vormachen, wie mit Kreativität und unverstelltem Blick trotz beschränkten Mitteln und scheinbar kleinem Spielraum viel Gescheites anzustellen wäre.

Im Oktober werden die Berater ihre Degressionsanalysen, Erklärungszusammenhänge und Grundlagendaten vorlegen. Spätestens dann weiss Martin Kall, wohin er umziehen wird. Ende November wird der durch die Verlegerfamilie Coninx dominierte Tamedia-Verwaltungsrat beschliessen, in welche Richtung die Reise des Hauses geht. Und was aus der angeschlagenen Cash-Cow «Tages-Anzeiger», dem Umsatz- und Gewinnbringer Nummer eins, werden soll.

Martin Kall schweigt vorderhand. Die gesamte Branche blickt mit einer Mischung von leichter Faszination und leiser Furcht auf diesen eigenständigen 41-jährigen Manager aus Bergisch Gladbach. Macht er den ersten Zug, so werden die anderen reagieren müssen.

Überinvestiert und zu teuer

Die Medienlandschaft steht am Vorabend einer Konsolidierung. Kaum einer der Verleger in diesem kleinen Land kann sich weiterhin die mehr schlecht als recht gelebte Medienvielfalt leisten. Konjunkturkrise, historisch gewachsene Kostenstrukturen, Über- oder Grossinvestitionen im Druckbereich zur Unzeit, erodierte Ertragskanäle sowie haarsträubende Managementfehler: Das Grauen der Branche hat viele Namen. In den diversen Erfolgsrechnungen aus Zürich, Basel und Bern wird es nachzulesen sein – horrende Einnahmeneinbrüche bei den Inseraten, nun schon im dritten aufeinander folgenden Jahr. So etwas hat die inzestuös verbandelte Medienfamilie noch nie erlebt.

Nur eine neue Welle von Fusionen oder Übernahmen, wie im Juli in Bern im Falle der Tageszeitung «Bund» geschehen, kann jetzt noch helfen. Deshalb wird wohl Folgendes geschehen: Der Tamedia-Chef Martin Kall wird seinen Einfluss in Basel und Bern ausweiten. Basler Mediengruppe und Espace Media Group gelten als Ziele, Kooperationen oder Kapitalverflechtungen heissen die Instrumente.

Martin Kall
Kall (41) wurde in Bergisch Gladbach bei Köln geboren. Er ist verheiratet und Vater eines Sohnes. Kall studierte in Freiburg i. Br. Volkswirtschaft, an der London School of Economics Ökonomie und machte den MBA in Harvard. 1989 trat er in den Dienst von Bertelsmann, 1997 von Ringier, wo er den Konzernbereich Europa leitete und das Osteuropageschäft profitabel machte. Seit 16. April 2002 ist er Geschäftsleitungsvorsitzender der Tamedia, die den «Tages-Anzeiger» herausgibt.

Auf beiden Flanken ist Kall auf Unterstützung angewiesen. Der Supporter scheint gefunden zu sein: Sowohl in Bern wie in Basel dürfte Kall auf die Hilfe von Hans-Peter Rohner hoffen, dem mächtigsten Mann in der mächtigen PubliGroupe, der einst im Sold der Tamedia den heute noch gerne strapazierten Begriff vom «Millionen-Zürich» erfinden half. Der Konzernchef aus dem Appenzell-Innerrhodischen verfügt über weit reichenden Einfluss. Sei es via Kapitalbeteiligungen seiner börsenkotierten PubliGroupe an Schweizer Medienhäusern. Sei es durch die bestehenden Verträge mit mehr als achtzig Prozent aller Schweizer Verleger für die Abwicklung der Inserategeschäfte.

In Basel hält die PubliGroupe über ihre Firma Publicitas 38 Prozent an der «Basler Zeitung», in deren Verwaltungsrat Rohner neuerdings sitzt. In Bern ist die Publicitas mit 40 Prozent am «Bund» beteiligt, ebenso viel, wie die Espace Media Group («Berner Zeitung») besitzt. Der gelernte Werbefachmann Rohner ist omnipräsent – nur nicht im «Millionen-Zürich». Da will er unbedingt hin. Martin Kall wird ihm dabei helfen.

Nicht überall wird Kall vollständig auf den Schlüsseldienst Rohners angewiesen sein. In Bern sind die Vorbereitungen weit gediehen. Heute bereits sitzt die Tamedia auf einem 49-Prozent-Anteil an der «Berner Zeitung». Die anderen 51 Prozent liegen bei Erwin Reinhardt-Scherz und Charles von Graffenried und deren Espace Media Group, die ihrerseits 15 Prozent an der profitablen «SonntagsZeitung» der Tamedia besitzt.

Frisch sind die Gedanken, die sich der mittlerweile 78-jährige Chefstratege Charles von Graffenried und Espace-Mehrheitsaktionär Erwin Reinhardt-Scherz machen: Sie planen ihre Nachfolgeregelung. Da keine führungswilligen Nachkommen in Sicht sind, steht das Einbringen der Aktien in eine Stiftung zur Diskussion.

Neuerdings zeichnet sich auf dem Reissbrett ein geradezu genialisches Projekt ab. Ein Insider erzählt, dass Reinhardt und von Graffenried zwischen den bereits mit ihrem Hause verschwägerten Tamedia und Neue Zürcher Zeitung AG (via zwanzig Prozent «Bund»-Anteil) ein Bieterrennen eröffnen werden.

Martin Kall mag auf Gerede wie dieses nicht eingehen. Er sagt bloss: «Wir verhandeln mit Bern derzeit nicht.»

Das «Tagi»-Problem

Bevor der expansionswillige Martin Kall das Rennen in Bern und Basel eröffnet, muss er das eigene Haus in Schuss bringen. In seinen bisher 18 Monaten als Vorsitzender der Geschäftsleitung hat er Radio Basilisk und einen Anteil am Gratisblatt «20 Minuten» erworben. Er hat den Verlustbringer «du» veräussert, einige Spin-offs von «Annabelle» gekappt, das Schliessen einer Druckerei angekündigt und rund 140 Stellen gestrichen. Verpasst hat er es hingegen, sein Hauptproblem anzupacken – den «Tages-Anzeiger», kurz «Tagi» genannt.

Nun kommt Kall nicht mehr darum herum, die Zeitung zu renovieren, die im 360 000 Menschen zählenden Zürcher Stadtkern einen Marktanteil von vierzig Prozent hält. Der «Tagi» verliert seit mehreren Jahren dramatisch an Auflage und an Abonnenten. Innerhalb von zwei Jahren ist ein Siebtel der ursprünglichen Klientel abgewandert. Der Trend ist ungebrochen, während alle regionalen Konkurrenten in «Tagi»-Stammlanden den umgekehrten Weg nehmen.

Zudem schwinden die Stellenanzeigen in der Beilage «Alpha». Fürs erste Halbjahr 2003 fehlen gegenüber dem Vorjahr rund 35 Millionen Franken bei «Stellen-Anzeiger» und «Alpha». Dazu gesellt sich die Gewissheit, dass die Rubriken- und Stellenanzeigen nie mehr wie in der Hausse im Jahr 2000 ins Printmediengeschäft zurückkehren werden. Das Internet fordert seinen Tribut. Das ist schlimm, denn zu sechzig Prozent finanziert sich der «Tagi» über Inserateeinnahmen, über «Alpha» und «Stellen-Anzeiger».

Auf der Kostenseite muss sich die Zeitung heute wie ein Opfer der Triumphe vergangener Tage vorkommen. Im Mutterhaus trieb der «Tagi»-Ertragsstrom viele neue, später gescheiterte Projekte an, während innerhalb der Zeitung selber die Kosten explodierten. Das stete Verdrängen von Pflichtstoff durch die Kür, publizistische Grossmachtsträume auf europäischer Bühne sowie das Züchten von Überheblichkeit hatten verheerende Auswirkungen. Das kultivierte Misstrauen zwischen Redaktionen und Verlag oder anderen Produkten wirkte teamzersetzend.

Auf 50 Millionen Franken sind die Redaktionskosten angewachsen, 43 Millionen Franken bleiben netto für das Kernblatt, nach Abzug der Kosten für das «Magazin» und anderes. Das ist Schweizer Rekord. Der im Dezember vergangenen Jahres eingesetzte Chefredaktor, Peter Hartmeier, sagt: «Der ‹Tagi› ist, kann die verkaufte Auflage nicht gesteigert werden, unter gegebenen konjunkturellen Umständen schlicht nicht mehr zu finanzieren.»

Also spart die Tamedia. Beim «Tagi» suchen die Ressortleier seit kurzem selber nach Möglichkeiten. Mittelfristig wird erst ein Verändern der publizistischen und der strategischen Ausrichtung das Traditionsblatt retten.

Der Zürcher Deal

Martin Kall tastet sich an die Lösung heran. In diesen Wochen sitzt er manchmal im hintersten Winkel einer Autobahnraststätte und erklärt sich einem Kleinverleger aus dem Kanton Zürich. «Zürcher Unterländer», «Zürcher Oberländer», «Landbote», «Zürichsee Zeitung» heissen seine Destinationen. Martin Kall will sie überzeugen. Er meint, dass eine Kooperation mit dem «Tagi» im Inseratewesen wie auch bei publizistischen Inhalten Sinn mache.

Dabei geht Kall, wie beim «20 Minuten»-Deal anschaulich demonstriert, ganzheitlich vor. Er setzt seinen Charme ein. Öffentlich spricht er von Respekt gegenüber dem Tun der Konkurrenten. Von der eigenen «Tagi»-Belegschaft verlangt er regionale Demut statt grossstädtischer Arroganz. Gleichzeitig droht Martin Kall. Die Tamedia-Strategen denken über alle Varianten nach – auch darüber, in einigen Zürcher Gemeinden eigene Aussenredaktionen und den Angriff von unten her auf die Regionalblätter zu eröffnen. Das wäre zwar für alle Beteiligten kostenintensiv, aber ein Argument für Kooperationen nach kallschem Geschmack. Die Verleger im Zürcher Umfeld verstehen die Signale sehr wohl. Genau wie der Verwaltungsrat der Tamedia werden sie Ende November – welch zeitliche Koinzidenz! – eine Vorentscheidung treffen. Die drei im Druckzentrum Oetwil kapitalintensiv aneinander gefesselten Regionalblätter beschliessen über eine 25 Millionen Franken teure Investition in eine neue Druckanlage. Damit steht auch der geltende Aktionärsbindungsvertrag zur Diskussion.

Einer wie Martin Kall wird dies als einmalige Einladung für Verhandlungen sehen. Gelingt ihm die Überzeugungsarbeit, so wird der «Tagi» schon bald Ausland-, Inland-, Wirtschaft-, Sport- oder Kulturteil liefern, während die anderen Zeitungen den Regionalteil beisteuern. Jeder würde weiterhin tun dürfen, was er am besten kann.

Das bedeutet: Der «Tagi» wird auf jeden Fall bis Ende Jahr überholt, der Regionalteil («blauer Bund») umgebaut und tauglich für einen Split getrimmt.

Ideen aus dem Labor

Wie alle Projekte, die unter Laborbedingungen gelingen, hat auch die Tamedia-Expansion in der Realität mit Nebenwirkungen zu rechnen. Das kompliziert Martin Kalls Kalkulationen.

Im sich abzeichnenden Zürcher Pressedeal könnte zwar PubliGroupe-Konzernchef Hans-Peter Rohner als 100-Prozent-Eigner des «Zürcher Unterländers» ein Verbündeter werden. Bei der «Zürichsee Zeitung» kann Rohner als Teileigentümer ebenfalls helfen. Der «Zürcher Oberländer» mit seinem breit gestreuten Aktionariat hingegen dürfte nur schwer zu nehmen sein. Da ist Kalls Fingerspitzengefühl gefragt, zumal beim «Oberländer» und bei anderen Zeitungen im «Tagi»-Einzugsgebiet («Thurgauer Zeitung», «Schaffhauser Nachrichten») ein Plan in der Schublade liegt, der einen Verbund der Kleinen vorsieht.

Die Wettbewerber schlafen nicht. «Konkurrenz erhält fit», lautet Martin Kalls Kommentar dazu. Seine härtesten Fitnesstrainer haben bekannte Namen: Ringier und – in wichtigerem Ausmass – die Neue Zürcher Zeitung AG. Doch Letztere ist mit sich selber beschäftigt. Sie muss, neben vielem anderen, ihre Regionalstrategie den eigenen geschrumpften Möglichkeiten anpassen.

Die vertraulich geführten Branchengespräche von NZZ-Verwaltungsratspräsident Conrad Meyer weisen darauf hin, dass dieser nicht länger gewillt ist, dem Absinken der Eigenkapitalquote im eigenen Hause zuzuschauen. Er dürfte die zum konjunkturell schlechtesten Zeitpunkt gestartete «NZZ am Sonntag» zur Disposition stellen und die in der Branche einmaligen Führungsstrukturen im Haus verändern. Mit Chefredaktor Hugo Bütler und Direktor Marco de Stoppani stehen möglicherweise gleich beide führenden Strategen vor dem Aus. Ein epochales Ereignis.

Da mutet es wie eine Ironie der Geschichte an, dass es die NZZ war, die vor zwei Jahren das Endspiel in der Medienbranche vorbereiten half. Erst der mit 130 Millionen Franken an Ringier teuer abgegoltene Kauf von «Neue Luzerner Zeitung»-Aktien hatte die fein austarierte Balance in der Schweizer Medienlandschaft ausser Gleichgewicht geraten lassen. In Luzern signalisierte die NZZ erstmals offen ihren Anspruch auf die Regionen und auf deren Zeitungen. «Das war der Anfang dieser Geschichte», sagt ein Eigentümer eines der grossen Verlagshäuser der Schweiz rückblickend.

Martin Kall wird die Story dieses Jahr weiterschreiben. Das wird er so nie sagen, denn es wäre ihm unangenehm. Er sorgt nicht gerne für Aufsehen. Anderes macht er übrigens auch ganz selten: langes Federlesen.

PubliGrouppe
Hans-Peter Rohner


Seit 1. Juli 2002 ist Hans-Peter Rohner Konzernchef der an der Börse gehandelten PubliGroupe. Rohners Einfluss in der Schweizer Medienlandschaft ist ausserordentlich gross. Die PubliGroupe ist über ihre Tochter Publicitas («P») an etlichen Medienhäusern beteiligt. Sie kontrolliert zu hundert Prozent den «Zürcher Unterländer». Sie hält 38 Prozent an der «Basler Zeitung», 25 Prozent am «St. Galler Tagblatt», 35 Prozent an der «Solothurner Zeitung» und 40 Prozent am «Bund» in Bern. Ausserdem sind mehr als 80 Prozent aller Schweizer Verlage mittels so genannter Regie- oder Pachtverträge an die «P» gebunden. Die «P» wickelt im Auftrag der Verlage das ganze oder Teile des Mediengeschäftes ab. In der Schweiz kommt ohne Rohners Einverständnis kein Verleger mit einem anderen ins Geschäft.





























Espace Media Group
Charles von Graffenried


Der 78-jährige Bernburger hat im Juli aus seinem Feriendomizil in Cannes an der Côte d’Azur freudige Nachrichten verbreiten können. Endlich ist es dem Strategen gelungen, den Berner «Bund» an die von ihm geleitete Espace Media Group («Berner Zeitung») zu binden. Die Espace konnte in einem Deal 40 Prozent am «Bund» erwerben. Beteiligt sind die Publicitas (40 Prozent) und die NZZ (20 Prozent). Neu sollen «Bund» und «Berner Zeitung» unter einem Verlagsdach mit zwei Redaktionen erscheinen. Doch ein Problem besteht weiterhin: Die Espace Media Group muss in der nächsten Zeit eine Nachfolge-Lösung finden. Angedacht ist das Einbringen der Anteile in eine Stiftung – oder ein Verkauf. Und da NZZ via «Bund» nun auch im Boot ist, ist das Bieterrennen mit der Tamedia programmiert. Schlau gemacht.





























NZZ
Hugo Bütler


Der Chefredaktor der NZZ ist nicht nur für die publizistische Linie des Hauses zuständig. Er muss Verlag und Redaktion zusammenhalten. Sein Pendant ist Direktor Marco de Stoppani, der den Verlag leitet, als treibende Kraft der 2002 gestarteten «NZZ am Sonntag» gilt und die Regionalzeitungsstrategie verantwortet. De Stoppani (59) und Bütler (59) verspüren Gegenwind: Die Sonntagsausgabe kommt nicht richtig in Fahrt, das Stammblatt ist zu teuer. Weitere Probleme: Der Kauf von 42 Prozent an der «Neuen Luzerner Zeitung» bringt nur Dividenden. Eine vernetzte Strategie für die NZZ-nahen Regionalzeitungen «Bund», «St. Galler Tagblatt» und «Neue Luzerner Zeitung» kann sich bisher intern nicht durchsetzen. Die NZZ steckt in der grössten Krise ihrer Geschichte – personelle Veränderungen sind nicht auszuschliessen.