Eines vorweg: Wie Martin Suter den Krimi «Montecristo»** im Bankenumfeld über 300 Seiten entwickelt und erzählt, ist dramaturgisch gekonnt, hoch spannend und unterhaltsam. Wer in einer Bank oder gar als Börsenhändler arbeitet, wird viele Details als treffend und viele Figuren als täuschend echt empfinden.

Tatsächlich fühlte ich mich selbst an einer Stelle fast etwas ertappt: Ich habe kürzlich in einem «Bilanz»-Interview geschildert, dass ich Vontobel-Präsident Herbert Scheidt auch mal zum Nachtessen in unserem Ferienort Flims treffe. Und im Buch trifft der Grossbanken-CEO den Bankenaufsichts-Präsidenten auch «zufällig» im Ferienort Gstaad.

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Auf den ersten Blick realitätsnah

Die Geschichte wirkt auf den ersten Blick recht realitätsnah: Ein Trader bei einer Grossbank hat mit spekulativen Geschäften zwischen 10 und 20 Milliarden in den Sand gesetzt und dies mit fiktiven Gewinnen aus fiktiven Derivaten neutralisiert. Dieser gigantische Verlust könnte die unterkapitalisierte Bank in Bedrängnis bringen. Und ab hier wird die Geschichte dann schon abenteuerlich.

Um für den Fall eines «Bankruns» gewappnet zu sein, lässt der CEO bei der Notendruckerei Noten mit bereits im Umlauf befindlichen Seriennummern drucken, was ein Journalist zufällig herausfindet. Wie sich am Ende herausstellt, wissen alle Bescheid über diese Machenschaften: Grossbanken-CEOs, Bankenaufsicht, Nationalbank, Eidgenössische Finanzverwaltung und der zuständige Bundesrat.

Sie alle halten dicht – mit Verweis auf den «guten Zweck»: Das Scheitern der Grossbank zu verhindern, damit nicht die anderen Banken, der Finanzplatz, ja die ganze Schweizer Volks- oder gar die Weltwirtschaft in den Abgrund gezogen werden. So weit der Plot.

Gesucht und Klischeehaft

Könnte sich diese Geschichte in der Realität so abspielen? Ist es denkbar, dass ein so grosser Verlust durch einen einzigen risikofreudigen Trader verursacht würde und erst noch geheim gehalten werden könnte? Rechnet Martin Suter wirklich mit den Schweizer Banken ab? Stimmt es, was die NZZ in ihrer Buchbesprechung festhielt, "dass sich das Verwirrspiel (...) auch jenseits erfinderischer Fiktion zutragen könnte". Mit Verlaub, das ist eindeutig zu hoch gegriffen.

Martin Suter gelingt zwar auch hier, was die Kritik an seinen Büchern schon bisher schätzte: Er kennt das «Innenleben» der Branche recht gut, hat sich auch von höchster Stelle (unter anderem von Peter Siegenthaler und Urs Rohner) beraten lassen und inszeniert den Roman gekonnt mit glaubwürdigen Versatzstücken der Schauplätze und der Bankenwelt.

Dass aber zwei Hunderternoten mit derselben Seriennummer bei einer Person landen, die zufälligerweise dann auch noch (Boulevard-)Journalist mit höheren Ambitionen ist und der Sache nachgeht: Das wirkt dann ziemlich gesucht und klischeehaft.

Drei Punkte sind unwahrscheinlich

Noch realitätsferner und damit – aus sachlichfachlicher Sicht – unwahrscheinlich sind aber drei wesentliche Punkte und damit der eigentliche Kern der Geschichte: Ein einzelner Trader kann aufgrund der heute geltenden Regulierungen und internen Kontrollmechanismen mit «russischen Papieren, Immobilien und Energiespekulationen» unmöglich einen Verlust von 10 bis 20 Milliarden einfahren und dann erst noch mit fiktiven Gewinnen aus fiktiven Derivaten vertuschen.

Und selbst ein deutlich tieferer Verlust könnte nicht wie geschildert geheim gehalten werden. Schliesslich kann der Druck von Geld durch die offizielle Banknoten-Druckerei im Auftrag einer Grossbank in der Schweiz ausgeschlossen werden. Die Schilderung, wie die Sicherheitsvorkehrungen bei der Druckerei umgangen wurden, ist denn auch allzu knapp und nicht überzeugend.

Ein Letztes: Dass sich das Fernsehen und andere Medien in Kenntnis einer solchen Story durch eine geheimbundartige «Lilien»-Gruppe in Zaum halten liessen, ist schlicht unrealistisch.

«Mit der Bitte um Nachsicht»

Mein Fazit: Martin Suter schöpft wie schon in seinen früheren «Business Class»-Kolumnen gekonnt aus Klischees und populären (Vor-)Urteilen und schafft spannende und unterhaltsame Geschichten. Sie klingen wie aus dem Leben gegriffen, obwohl sie in weiten Teilen Fiktion sind und bleiben. Ich empfehle deshalb auch Bankern, das Buch zu lesen und zu erfahren, zu was für (Un-)Taten sie in der Phantasie des Autors fähig sind. Um ein italienisches Sprichwort zu zitieren: Se non è vero, è ben trovato, Wenn nicht wahr, so ist es immerhin gut erfunden.

«Mit der Bitte um Nachsicht» lautet denn auch die Widmung Martin Suters in meinem persönlichen «Montecristo»-Exemplar. Sie bezieht sich wohl darauf, dass sein Plot uns Banker - ein weiteres und populäres Klischee aus der Finanzkrise übernehmend – ziemlich durchgehend als «Bad Guys» zeigt. Hätte er allerdings den ganz normalen Bankenalltag mit seriösen, Risiko vermeidenden Bankern und funktionierender interner und externer Aufsicht gerade im Tradingbereich geschildert, das Buch wäre schlicht spannungslos und langweilig geblieben.

Bankenwelt in der Realität (glücklicherweise) ungefährlicher

Der Roman ist gute, spannende Unterhaltung. Nicht mehr und nicht weniger. Und weil ich – wie vermutlich viele andere Bankerinnen und Banker auch – gerne unterhalten werde, habe ich nicht nur Nachsicht mit dem Autor. Im Gegenteil: Ich bitte ihn um Nachsicht dafür, dass es im wirklichen Bankenleben (leider) deutlich weniger spannend und (glücklicherweise) deutlich weniger gefährlich ist als in «Montecristo».

*Pierin Vincenz ist Chef der Raiffeisen-Gruppe

** Montecristo, 320 Seiten, Diogenes Verlag Zürich, 32.90 Franken

Dieser Text erschien in der aktuellen «Handelszeitung», ab Donnerstag am Kiosk oder mit Abo bequem jede Woche im Briefkasten.