«Wir haben bei den Gasturbinen tief, tief in den Abgrund geschaut.» Der das sagt, ist Alexis Fries (46), Chef der Alstom Power. Und er übertreibt nicht: Seit das ehemalige Kraftwerksgeschäft der ABB beim französischen Alstom-Konzern gelandet ist, steckt es in einer existenzbedrohenden Krise. Erst langsam zeichnet sich ein Ausweg ab. Fries: «Heute sind wir zwar noch nicht ganz da, wo wir sein wollen, aber doch auf dem richtigen Weg.»

Alstom Power, das ist jenes Unternehmen, das zusammen mit General Electric (GE), Siemens Westinghouse und Mitsubishi den Weltmarkt für Kraftwerke dominiert und aus dem Joint Venture zwischen den Kraftwerkssparten von ABB und Alstom hervorging. Alexis Fries ist jener Mann, der in den frühen Neunzigerjahren mit 38 als neuer Star der ABB galt, als Percy Barneviks Liebling und als einziger Schweizer in der Konzernleitung.

Sein beruflicher Werdegang widerspiegelt die Entwicklung der ABB mit ihren wechselhaften Strategien – von den Anfängen bei der BBC über den Neuaufbruch in der schwedisch-schweizerischen ABB unter Percy Barnevik bis zum radikalen Umbau des Unternehmens unter Göran Lindahl und neuerdings Jörgen Centerman. Wobei Fries schon in der Ära Lindahl aus der ABB ausschied, zusammen mit der ganzen nicht nuklearen Kraftwerkssparte, die 1999 in ein Joint Venture mit der Alstom eingebracht und schon ein Jahr später ganz von Alstom übernommen wurde.

Für Alexis Fries war dies ein grosser Schritt – und dann doch wieder nicht: «Von heute auf morgen zu einer anderen Firma zu gehen, ist ein grosser emotionaler Schritt. Vom Geschäft her war die Veränderung allerdings nicht so gross. Die Kollegen dachten wie wir, man war hinter denselben Projekten her, man kennt die Technik und spricht dieselbe Sprache.» Und im ersten Jahr, als das Ding noch ABB Alstom Power hiess und Fries dessen Vizechef war, stand er ja mit einem Bein noch in der ABB. Der radikale Schnitt kam erst mit dem Ausstieg der ABB aus dem Joint Venture im Sommer 2000 und mit den dann erst sichtbar werdenden, lebensbedrohlichen Problemen der Kraftwerkssparte.

Noch unter der Ägide der ABB waren mit GT 24 und GT 26 zwei neue, leistungsfähige Gasturbinentypen entwickelt worden. Sie galten als die wichtigste Mitgift der ABB im neu gegründeten Joint Venture. Innert kurzer Zeit waren 80 Anlagen verkauft: Rund ein Drittel davon ist montiert, der Rest befindet sich in Projektierung oder Produktion.

Das Problem: Die beiden Gasturbinentypen bringen die geplante und den Kunden versprochene Leistung nicht; die ersten ausgelieferten Anlagen versagten sogar vollkommen den Dienst. Den Konstrukteuren war bei der Umsetzung der Modellanlage in die industrielle Dimension ein Fehler unterlaufen – ein Teil der Turbine reagierte in der vergrösserten Form anders als im Modell.

«Es ist für mich bis heute ein komplettes Rätsel, wie so etwas möglich war», sagt Alexis Fries. «Die Maschinen waren nicht fähig, die garantierten Leistungen zu erbringen. Am Anfang funktionierten sie nicht einmal. Wir mussten sie zuerst zum Laufen bringen, und dann waren sie mit der Leistung zu kurz.» Eine ziemliche Katastrophe also. Der grösste Teil der Anlagen war im angelsächsischen Raum verkauft worden, wo die Einhaltung von Verträgen noch akribischer verfolgt wird als hier zu Lande und wo schnell einmal von Irreführung die Rede ist – mit entsprechenden Schadenersatzforderungen und Bussen.

Die ganze Dimension des Schadens wurde erst nach dem Ausstieg der ABB aus dem Joint Venture erkennbar. Auf die Frage, ob ABB die Grösse des Schadens kannte, als sie verkaufte, antwortet Fries zurückhaltend: «Das kann ich nicht beantworten.» Tatsache bleibt, dass auf Grund der wasserdichten Verträge Alstom keinen Rückgriff auf ABB nehmen konnte. Alstom Power musste zur Bewältigung dieser Krise rund zwei Milliarden Franken zurückstellen. Wäre in dieser Phase das Mutterhaus Alstom nicht hinter der gebeutelten Kraftwerkssparte gestanden, würden die Produktionsbetriebe in Birr und Baden nicht mehr existieren.

Die Probleme mit den beiden grossen Gasturbinentypen kamen im denkbar ungünstigsten Augenblick. Denn nach den langen Jahren stetigen Wirtschaftswachstums in den USA, in denen freilich wenig in den Kraftwerksbau investiert wurde, entstand 1999 ein regelrechter Nachfrageschub. Fries: «In Amerika ist über Nacht ein Bedarf entstanden, den so niemand erwartet hat.» Ein Bedarf nach Gasturbinen, bei denen Alstom Power mit den beiden Spitzentypen im Sortiment Probleme hatte und das Feld weit gehend GE und Siemens überlassen musste. Allenfalls indirekt konnte Alstom Power vom US-Gasturbinenboom profitieren. Denn viele Gasturbinen werden in kombinierten Kraftwerken montiert, für die es zum Beispiel Dampfturbinen und Abhitzekessel braucht – Komponenten, die Alstom Power liefern konnte. Selbst Hauptkonkurrent GE baut Kombikraftwerke, die mit Alstom-Dampfturbinen ausgestattet sind. «Glücklicherweise», sagt Alexis Fries, «verfügen wir in der Schweiz über flexible Fabrikationsanlagen, die sowohl Gas- als auch Dampfturbinen herstellen können.» So blieb Alstom trotz den grossen Problemen auch in Amerika im Geschäft. Doch der Marktanteilsverlust war gewaltig: Auf gerade noch fünf Prozent schätzt Rolf Kehlhofer, ehemaliger Chef des Kraftwerksgeschäfts bei ABB und heute Berater bei der Energy Consulting Group, Alstoms Weltmarktanteil. In der Vergangenheit lag die Marke bei 15 Prozent. Eine gefährliche Entwicklung, denn wenn der Markt wieder durch schwierigere Zeiten geht, wird Alstom als kleinster Player am stärksten unter Druck kommen.

Wenigstens hat der Gasturbinenboom in den USA den weltweiten Markt in Bewegung gebracht. Waren in den Jahren zuvor die Preise kontinuierlich und massiv gesunken (in fünf Jahren um fast die Hälfte), so zogen sie nun wieder an. Der Boom in den USA sorgte für knappere Kapazitäten in anderen Weltregionen. In diese Bresche konnte Alstom springen. So konnte Alstom Power den Umsatz und den Bestellungseingang trotz der lebensbedrohlichen Krise mit den GT 24/26 steigern: den Bestellungseingang um 2 Prozent im vergangenen Geschäftsjahr und um 15 Prozent im ersten Quartal des laufenden Jahres, den Umsatz um 25 respektive 17 Prozent. Gelitten hat wegen der massiven Rückstellungen die Rentabilität.

Doch insgesamt verdient Alstom mit dem Kraftwerksbau wieder Geld in einem Ausmass, das ABB in den letzten Jahren nicht mehr gelungen war: Lag die Marge zu ABB-Zeiten bei 1,4 Prozent, so beträgt sie jetzt 3,4 Prozent. Diese Margenverbesserung rührt zum einen von weltweiten Unterkapazitäten her, unter anderem auch davon, dass die Flurbereinigung in der Branche die Zahl der Player reduziert hat. Überdies sind in früheren Jahren ganz einfach schlechte Verträge ausgehandelt worden. Fries: «Früher hat man in der Kalkulation und der Abwicklung sehr viele Fehler gemacht. Manche Aufträge hätte man gescheiter nicht hereingeholt.» Das hat sich drastisch verändert. Jetzt wird kein Auftrag mehr abgesegnet, wenn er nicht hinreichend vorfinanziert ist und auf der Grundlage vernünftiger Margen kalkuliert wurde.

Inzwischen ist die akute Phase der Krise ausgestanden. Mit der Mehrheit – rund 60 Prozent – der Kunden hat man sich gütlich auf Nachbesserungen und entsprechenden Schadenersatz geeinigt. Doch von den verbleibenden zwei Dutzend Kunden kann jeder einzelne Alstom Power abermals an den Rand des Abgrunds treiben. Nur: Diese Kunden haben ihrerseits Kunden, und denen müssen sie Strom liefern. Schadenbegrenzung dürfte also auch in ihrem Interesse liegen.

Und wenn es dabei bleibt, dessen ist sich Fries gewiss, ist seine Alstom Power im Stande, wieder nachhaltig auf Wachstumskurs zu kommen. Selbst im US-Markt. Denn der Gasturbinenboom in den USA dürfte so schnell zu Ende gehen, wie er angefangen hat. Die Primärenergie Kohle, die in den USA reichlich vorhanden ist, könnte zu einer Wiederbelebung des Dampfturbinengeschäfts führen – und in diesem Bereich ist Alstom Power die Nummer eins, Kopf an Kopf mit GE.

Bestellungseingang, Auftragsbestand, Umsatzwachstum und selbst die operative Marge des Kraftwerksgeschäfts bestätigen Fries’ Optimismus. Seine Alstom Power, die im Rahmen des Konzerns mittlerweile die wichtigste Position einnimmt (55 Prozent des Gesamt-umsatzes von 24,6 Milliarden Euro), hat wohl den Abgrund überwunden. Und kann sich nun dem Berg zuwenden: die Nummer eins der Branche zu werden – mit sechs Prozent operativer Marge, dem langjährigen, unter ABB nie erreichten Ziel.
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