Für manche Anleger ist es ein Drama, für viele eher eine Komödie: Der Wirecard-Skandal in Deutschland nimmt fantastische Züge an. Da muss ein Dax-Konzern erst eingestehen, dass er 1,9 Milliarden Euro in der Bilanz stehen hat, aber nicht mehr findet. Wenig später, nachdem der Börsenkurs von gut 100 auf rund 25 Euro eingebrochen ist, folgt das volle Geständnis: Die Gelder gab es gar nie. Und am Donnerstag, 25. Juni 2020, war es soweit: Wirecard kündigte an, Insolvenz anzumelden.

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Wirecard, eine 1999 gegründete Payment-Firma, erscheint jetzt als Luftschloss, errichtet in einem nebulösen Geschäftsfeld – irgendwas mit Fintech.

Willkommen in der Rezession. Wenn die Wirtschaft einbricht, fliegen oft auch grosse Bilanzskandale auf; denn nun können die Bruchstellen in den Schachtelkonstruktionen nicht mehr so flink querfinanziert werden. In der Finanzkrise 2008 platzte das Schneeballsystem des Mr. Madoff. In der Dotcom-Krise 2001 kam ans Licht, dass der texanische Energiekonzern Enron seine Milliardenumsätze vor allem mit Scheingeschäften hingekriegt hatte. Und in der Schweiz erinnern sich ältere Beobachter an die Omni Holding, die in der Immobilienkrise 1991 ihr wahres, sehr leeres Gesicht zeigen musste.

«Noch zu Beginn dieses Jahres galt die ­Aktie bei fast allen urteilenden Banken als 'Buy'. Das höchste Kursziel lag bei 270 Euro.»

Bei Wirecard allerdings wiesen erste – vereinzelte – Analysten schon vor fast fünf Jahren darauf hin, dass die Bilanz neben einem rasanten Wachstum auch diverse Ungereimtheiten ausweise. 2016 stellte ein anonym publizierter Bericht – der «Zatarra Report» – sehr kritische Fragen in den Raum. Und dann hatte die «Financial Times» im Januar 2019 eine Reihe von Artikeln verfasst, die ein System von Schein- und Round-Tripping-Buchungen schilderten (zum Wirecard-Dossier der FT): Die Geschäftszahlen des Payment-Konzerns, so musste man nun ahnen, könnten kräftig aufgehübscht worden sein.

Doch nichts geschah. Die Kurse an der Frankfurter Börse fingen sich – und begannen sogar, erneut nach oben zu klettern.

So wiederholt sich denn eine bittere Erfahrung, die Zehntausende Anleger schon bei Madoff, Parmalat, Worldcom, Enron oder auch Lehman Brothers machen mussten: Nämlich dass das zuständige Establishment nicht fähig war, die trüben Seiten einer Firma zu erkennen – obschon Corporate-Governance-Probleme offen dalagen.

Die Deutsche Börse adelte Wirecard, indem sie den Konzern in den Leitindex Dax aufnahm: Dort durfte er Ende 2018 die Commerzbank verdrängen.

Die Revisoren erteilten brav jedes Testat. Bis letzte Woche.

Die Ratingagentur Moody’s erteilte ein solides A3-Rating (um den Konzern dann, am vergangenen Freitag, Knall auf Fall um sechs Stufen auf «Ramsch» abzustufen).

Die deutschen Wirtschaftsmedien zogen es vor, die komplexe Materie eher zu meiden.

Die Bankanalysten waren sich weitgehend einig, dass Wirecard ein guter Kauf sei: Noch zu Beginn dieses Jahres galt die Aktie bei fast allen urteilenden Instituten als «Buy» oder «Overweight», das höchste Kursziel lag bei 270 Euro. Preis der Aktie am Mittwoch: 17 Euro.

«Ein totales Desaster»

Anfang 2019 fragte ich einen Grossbank-Analysten, der die Aktie zum Kauf empfohlen hatte, wie detailliert er denn in die Geldströme hinter der Bilanz einsehe – immerhin ist das Akquiring-Business, in dem Wirecard seine steil steigenden Milliarden-Umsätze auswies, ein eher nebulöses Feld. Der Mann musste weitgehend passen: Er verlasse sich vor allem aufs Zahlengerüst von offizieller Bilanz und Erfolgsrechnung. 

Auf dem Gipfel des Ganzen stand die Aufsichtsbehörde Bafin: Sie nahm die kritischen «Financial Times»-Artikel zum Anlass, die Staatsanwaltschaft einzuschalten – auf dass diese gegen die britische Zeitung ermittle, und zwar wegen Verdachts auf Kursmanipulation. Es folgte ein einmaliger Vorgang: Mit der Absicht, den vermeintlich subversiv attackierten Dax-Konzern zu schützen, verbot die Finanzmarktaufsicht vorübergehend den Leerverkauf von Wirecard-Titeln.

«Es ist ein totales Desaster», musste der Präsident der Bafin, Felix Hufeld, jetzt eingestehen. Der Fall sei «eine Schande für Deutschland

Da bleibt erschütterten Kleinanlegern wohl wieder einmal nur ein schwacher Trost: Es ist die Erkennntnis, dass man selber kein bisschen naiver war als ganze Heere von Finanzmarkt-Experten.

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