Es gibt gute Pilze, und es gibt schlechte Pilze. Heute ist die Rede von einem, der zuerst schlecht und dann gut ist. Sein Name: Botrytis cinerea, ein Schimmelpilz. Bei feuchtem Wetter befällt er Weintrauben und überzieht sie mit einer grauen Schicht. Im Frühling ist das ein Graus, denn der Pilz zerstört die Beerenhaut, lässt den Most versauern und die Beeren sterben.
Im Herbst hingegen ist sein Zerstörungspotenzial herzlich willkommen, jetzt spricht die Branche von Edelfäule. Diese überzieht die reifen Trauben und perforiert die Beerenhaut mit mikroskopisch kleinen Löchern. Scheint die Herbstsonne, verdunstet das Wasser in der Traube. Die Beeren schrumpfen am Stock zu Rosinen, in denen sich die Aromen und der Zucker konzentrieren.
Wenn Winzer diese edelfaulen Trauben pressen, ist die Ausbeute massiv geringer als bei normalen Trauben, dafür viel intensiver. Während der Vergärung des Mosts beginnt die Hefe zwar, den Zucker zu Alkohol umzuwandeln. Doch bevor sie allen Zucker fressen kann, stirbt sie an einer Überdosis. Deshalb haben Süssweine auch meist weniger als 10 Prozent Alkohol, dafür auch einmal 200 Gramm Restzucker pro Liter. Zum Vergleich: Ein Liter Cola weist 108 Gramm Zucker – 36 Stück Würfelzucker – pro Liter auf. Ein Süsswein doppelt das locker, zumindest einer der Kategorie Trockenbeerenauslese (TBA).
Süssweine folgen im deutschen Raum der Pyramide der Prädikatsstufen. Der Kabinett ist der leichteste Wein mit wenig Zucker. Die Spätlese bringt mehr Süsse, die Auslese noch mehr. Die Beerenauslese besteht bereits aus überreifen, teils edelfaulen Trauben. Erst dann folgt die Champions League der Süssweine: Trockenbeerenauslese und Eiswein. Beim Eiswein bleiben die Trauben durchschnittlich bis im Januar am Rebstock. Erst wenn die Nachttemperaturen unter minus sieben Grad bleiben, lesen die Winzer die Trauben und verarbeiten das gefrorene, ultrakonzentrierte Gut.
Österreichische TBA
Das Weingut Kracher ist der Süssweinkönig. Es liegt am Neusiedlersee, wo sich sonnige Herbsttage mit Morgen- und Abendnebel abwechseln – eine Wohlfühloase für den Botrytis cinerea. Diese reine TBA aus Scheurebe riecht nach reifer Mango und Safran und schmeckt voll und frisch im Gaumen – trotz des Alters.
Scheurebe, Kracher, 
Burgenland, Österreich, 2018, 9,5% Vol. Alk., Fr. 39.90.
Süssweine werden aber nicht nur in deutschsprachigen Ländern hergestellt. Analog zur TBA entsteht in Frankreich der Sauternes aus edelfaulen Sémillon-Trauben. In Ungarn produzieren Winzer den Tokaji Aszú, dessen Süsse in «Puttonyos» zwischen 3 und 6 gemessen wird – je höher die Zahl, desto süsser der Wein. Und in Italien trocknen im Valpolicella die Trauben für den roten Recioto auf Strohmatten, bis sie zu Rosinen schrumpfen.
Mehr Zucker als in Cola und eine beinahe sirupartige Konsistenz? Wer so denkt, irrt: Süssweine sind keine klebrige Masse. Die goldgelben Weine haben eine Säure, die der Süsse entgegenhält. Deshalb passen sie auch wunderbar zu Käse – ein kräftiger Roquefort mit einem Sauternes ist pure Magie. Und wenn man sich an einem kalten Regentag, ein gutes Buch in der Hand, in den Sessel kuschelt, wärmen sie von innen. Kein Wunder, betiteln Poeten den Süsswein als «süssen Schweiss der Engel».
In dieser Kolumne schreiben die «Handelszeitung»-Redaktoren Michael Heim und Ben Müller sowie Autorin Tina Fischer alternierend einmal im Monat über Bier und Wein. Fischers Familie besitzt eine gleichnamige Weinhandlung, sie schreibt aber lieber über Wein, als dass sie ihn verkauft.