Nur wenige Banker verfügen über einen so umfassenden Einblick in die sich schnell verändernde Finanzlandschaft wie Andrea Orcel. Seit Anfang 2021 ist er CEO der italienischen Bankgruppe Unicredit, wo er im letzten Jahr bis zu 9,7 Millionen Franken verdient hat. Und als ehemaliger Leiter des Investmentbankings der UBS weiss er genau, warum der rasche Zusammenbruch der Konkurrentin Credit Suisse AG ein solcher Schock war und ist.

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Im Bezug auf die neue UBS als Banken-Koloss sieht Orcel wenig Anlass zur Sorge. Was ihn jedoch beunruhigt, ist der tiefgreifende Wandel des Konjunkturumfelds. Um Probleme zu umschiffen, müssten die Branchengrössen wachsam sein, mahnt er im Gespräch mit Bloomberg.

Plötzlich scheitern Banken auf beiden Seiten des Atlantiks. Gibt es eine Bankenkrise?

Es gibt sie, und es gibt sie nicht. Wir haben in den USA einen Schock erlitten. Einen weiteren Schock gab es in der Schweiz. Aber diese Schocks sind relativ lokal begrenzt. Wenn man sich die Kapitalstärke der Banken ansieht – ich spreche von den europäischen Banken –, wenn man sich die Liquidität, die Einlagen und all das zusammen ansieht, ist es sehr schwierig zu erkennen, wo die Schwachstellen liegen.

Sehen Sie Parallelen zur globalen Finanzkrise, die 2007 begann, oder zur US-Savings-&-Loan-Krise in den späten 1980er Jahren?

Ich sehe keine. Bei allen Banken – vor allem bei den systemrelevanten – ist es wichtig, schnell und entschlossen zu intervenieren. Vertrauen und Zuversicht in die Stabilität und Stärke des Systems sind das A und O. Die Credit Suisse war in den Bereichen Wealth Management, Investment Banking und Asset Management tätig – Geschäftsfelder, in denen wir und die meisten europäischen Banken nicht aktiv sind. Jetzt wird sie von der UBS übernommen, und das geschieht mit Unterstützung der Schweizerischen Nationalbank und der Aufsichtsbehörden. Ich denke, die Auswirkungen werden sich in Grenzen halten.

Was ist mit den Insolvenzen der Silicon Valley Bank und der Signature Bank in den USA?

Ich glaube nicht, dass es ein Problem mit dem Bankensystem in den USA gibt. Wir hatten einen Schock, der besorgniserregend ist und offensichtlich in Angriff genommen werden muss. Und das wird auch getan.

Gibt es Massnahmen, die die Aufsichtsbehörden Ihrer Meinung nach als Reaktion darauf ergreifen sollten?

Alle Zentralbanken haben auf ihre Weise erklärt, dass es keinen Grund zur Panik gibt und sie hinter dem System stehen. Erklärungen sind wichtig, aber jeder wird sich die Fakten ansehen: wie sich die Zinssätze entwickeln, welche Liquidität im System vorhanden ist, ob die Banken Dividenden zahlen oder Aktionäre auf andere Weise belohnen dürfen.

Wie sichern Sie das Geschäft von Unicredit gegen diese oder andere Pleiten in der Zukunft ab?

Wir haben gerade eine grosse Bereinigung und Kürzung abgeschlossen und einige Lehren daraus gezogen. Wir sind besonders konservativ, was Kapital, Liquidität und Gegenparteirisiken angeht. Wir sind einfach konservativ. Jeder sollte ein bisschen paranoid sein. Die Welt verändert sich, und zwar schnell. Was könnte uns überraschen? Wir versuchen, vorbereitet zu sein. Es sollte einen Dialog zwischen den Banken und ihren Aufsichtsbehörden sowie zwischen den Banken selbst geben: Was sehen wir? Was sehen Sie? Was brauchen wir, um die Integrität des Systems zu schützen? Wir sind miteinander vernetzt. Wir müssen uns gegenseitig helfen.

Andrea Orcel als UBS-Manager 2013: Inzwischen ist er Chef der italienischen Unicredit.

Andrea Orcel als UBS-Manager 2013: Inzwischen ist er Chef der italienischen Unicredit.

Quelle: Keystone

Hat sich das Verhalten Ihrer Privat- oder Firmenkunden geändert, etwa was die Verlagerung oder den Abzug von Einlagen betrifft?

Dies ist einer der grössten Unterschiede zwischen den USA und Europa. In den USA waren die Einlagen bereits rückläufig und neigten dazu, in Geldmarktfonds umgeschichtet zu werden. In Europa nahmen die Einlagen zu. Und sie bleiben stabil, vor allem die Privatkundeneinlagen. Nach einer Situation wie der, die wir gerade erlebt haben, gibt es eine Flucht in die Qualität. Die stärkeren, grösseren, besser kapitalisierten, liquideren und konservativeren Banken profitieren davon. Das haben wir in unseren Zahlen gesehen.

Wie wird der Wegfall der Credit Suisse die Wettbewerbsdynamik im Finanzdienstleistungssektor verändern?

Die Frage ist, ob der Kauf der Credit Suisse die UBS zu einem stärkeren Konkurrenten macht. Wenn die Integration so abläuft, wie ich es mir erhoffe, wird die UBS über eine beispiellose Grösse im Wealth Management verfügen, insbesondere ausserhalb der USA. Und über globale Grösse im Investment Banking.

Wie schwierig wird diese Integration sein?

Am schwierigsten ist es, die beiden Kulturen zu vereinen. Das ist zwar schwer zu quantifizieren, aber die Kultur ist entscheidend für eine erfolgreiche Integration. Wenn das geschafft ist – und ich bin zuversichtlich, dass es gelingt – ist der Rest nur eine Frage der Zeit.

Welche Risiken erfordern Ihrer Meinung nach mehr Aufmerksamkeit?

Nach Jahren der Globalisierung, einer positiven Dynamik und einem günstigen wirtschaftlichen Umfeld stehen wir vor einer ungewissen Zukunft. Sehen Sie sich die Inflation an, die aus strukturellen Gründen hoch bleiben wird. Sehen Sie sich die Zinsen an. Sehen Sie sich die Geopolitik an. Schauen Sie sich die Wirtschaft an. Sehen Sie sich die Deglobalisierung an, die Neuordnung der Wertschöpfungsketten. All diese Dinge laufen parallel ab. Es ist fast unvermeidlich, dass etwas Schlimmes passieren wird, und die Regierungen werden kein Drehbuch haben, weil unser Drehbuch für vergangene Krisen ist, nicht für die nächste Krise. Deshalb sage ich zu meinem Team: Die einzige Gewissheit ist die Ungewissheit.

(Bloomberg/mth)

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