Karriere und Freiwilligenarbeit schliessen sich zwar nicht gegenseitig aus, aber befördern tun sich die beiden Bereiche nicht mehr unbedingt. Im Unternehmen, in dem man tätig ist, fallen die vielen Absenzen aufgrund eines Engagements in der Gemeinde oder einem Verein vielleicht negativ auf. Und die Ehrenämter selbst bieten nicht nur finanziell nichts, sondern können auch nicht mehr wirklich mit der inhärenten Dividende eines Karriereturbos werben.

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Die Aktivistin und Autorin Noémi Roten ist davon überzeugt, dass ehrenamtliche Tätigkeiten oder Dienste im Militär oder Sozialbereich heute sogar ein Nachteil sind. «Früher war Dienstleisten ein Wettbewerbsvorteil. Es war ein Muss, ein Militärkader zu sein, wenn man in der Politik und in einem Unternehmen erfolgreich sein wollte», so Roten.

«Das Netzwerk konnte breit genutzt werden. Mit den Armeereformen hat sich die Anzahl an Dienstwilligen drastisch verringert von 800'000 im Jahr 1965 auf heute knapp 100'000. Die Dienstleistenden sind zudem immer jünger, das heisst, die Netzwerkeffekte sind nicht mehr gegeben wie damals.»

Diesen Verlust der integrativen Kraft von freiwilligem Engagement und gleichzeitig auch die Nachteile bei der Netzwerkarbeit beklagt Roten schon seit einiger Zeit. Sie wird daher 2020 eine Initiative starten, die eine neue Art von Dienstpflicht in der Schweiz etablieren will.

Neue Ideen für den Milizdienst

Damit soll auch das Verhältnis von Firmen in der Schweiz gegenüber Freiwilligen- und Milizdienst auf eine völlig neue Basis gestellt werden: Internationale Firmen würden in einem Milizeinsatz nämlich nur mehr einen Kostenblock sehen.

«Wenn man sich die ganze Alterskohorte der heutigen Zwanzigjährigen anschaut, dann leistet nur ein Drittel Militär, Zivilschutz oder Zivildienst. Das heisst, zwei Drittel der ständigen Wohnbevölkerung der Schweiz leisten keinen Dienst. Ich habe das Gefühl, dass es zu einem Wettbewerbsnachteil für die dienstleistende Gruppe kommt, und diese Ungleichstellungen wollen wir auch angehen», so Roten.

Bild von Noemi Roten

Aktivistin und Autorin Noémi Roten: In der RS als Lastwagenfahrerin eingeteilt.

Quelle: ZVG

Sie und ihre Gruppe wollen deshalb gleich das ganze Milizsystem umbauen. Vereinfacht gesagt: Die Mehrheit der neuen Milizen wird nicht mehr im Militär, sondern im zivilgesellschaftlichen Bereich eingesetzt. Die individuelle Dienstzeit werde verkürzt.

«Wie heute, werden die öffentlichen Institutionen wie zum Beispiel Gemeinden einen Teil der Kosten übernehmen. Statt Funktionäre könnte man hier auch Milizen einstellen und finanzieren. Ein Teil der bereits intakten Bundes- oder Kantonssubventionen im Bereich Umwelt und Landwirtschaft könnte dazu dienen, Milizen zu entschädigen.» Wie heute würde auch die Erwerbsersatzordnung (EO) einen Teil finanzieren.

In puncto Milizsystem mehr Flexibilität von Arbeitgebern

Theo Wehner, Professor für Arbeitspsychologie an der ETH Zürich, bewertet die Initiative vorsichtig: «Es ist wünschenswert und tut der Seele gut. Aber wenn sich die Gesellschaft nicht freiwillig dazu bekennt und daraus eine Pflichtübung macht, wird sie daraus keine intrinsisch motivierte Gruppe zusammenstellen können. Es ist wichtig, dass die Gesellschaft darüber nachdenkt, an verschiedenen Ecken Tunnel zu bohren.»

Wehner ist aber davon überzeugt, dass Unternehmen eine Verantwortung haben, die nicht am Werkzaun aufhört, sondern bis in die Gesellschaft reingeht. Früher wurde jemand, der ein Milizamt innehatte, ganz selbstverständlich vom Betrieb freigestellt. Er fordert in dieser Hinsicht mehr Flexibilität von der Arbeitgeberseite.

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Und er weist auf ein ganz grundsätzliches Problem hin: Weltweit wachse nämlich die bezahlte Arbeit, nicht aber die unbezahlte Arbeit. Diese würde vielmehr schrumpfen. «Auch in der Schweiz haben wir eine Stagnation, was die Freiwilligenarbeit anbelangt. Mit der Flexibilität, die ich heute aber für einen Arbeitsplatz brauche, kann ich nicht in grossem Traditionsbewusstsein einer zusätzlichen Freiwilligentätigkeit nachgehen», beschreibt er das Grundproblem.

Unternehmen profitieren vom Milizsystem

Ein Umdenken würde sich auch auf Unternehmensseite lohnen, ergänzt Roten: «Ich glaube, Unternehmen profitieren vom Milizsystem in vielerlei Aspekten. Im Fachjargon: Es gibt viele positive Externalitäten. So ein Milizdienst bringt Stabilität für die demokratischen Institutionen und Kohäsion im Land. Es gilt nicht nur die finanzielle Dimension zu betrachten», so die Autorin und Initiantin von Service Citoyen.

Ein Dienst gebe Arbeitnehmenden einen Mehrwert in Sachen Erfahrung. Man könne in der Miliz Führungskompetenzen übernehmen, die einem in der Privatwirtschaft vielleicht gar nicht offenstünden. «Man lernt neue Fachgebiete, neue Leute und neue Sprachen kennen. Persönlich habe ich mein Deutsch im Militär stark verbessert», erinnert sich Roten.

In der RS 2008 war sie als Lastwagenfahrerin im Kanton Freiburg eingeteilt. «Daraus ergeben sich Netzwerkeffekte, mit Anstellungsoptionen oder Mandaten, wovon auch die Firmen profitieren», ist sie sich sicher. Dies wiederum stärkt das Vertrauen in der Gesellschaft, welches heute verloren geht. «Ich kann immer auf sehr viel Wissen und Know-how aus dem Militärdienst in meiner Karriere zurückgreifen.»

Volkswirtschaftlerin mit Know-how aus dem Militärdienst

Nach ihrem Bachelor in Volkswirtschaftslehre an der Universität St. Gallen absolvierte Noémi Roten ein Praktikum als Economic Analyst bei der Schweizer Nationalbank und ein Masterstudium in Philosophy & Public Policy an der London School of Economics and Political Science. Zusammen mit Quentin Adler ist sie Co-Präsidentin des Vereins ServiceCitoyen.ch.

Stefan Mair
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