Es war schwül und mitten in der Nacht, als Stefan Zimmermann am 5. Januar 2010 in Hongkong landete. Der Berner Wirtschaftsstudent begab sich direkt zum riesigen Campus der Chinese University of Hong Kong. Als er dort um fünf Uhr früh endlich seine Bleibe gefunden hatte, kam die Ernüchterung: Seine beiden chinesischen Zimmergenossen blickten in dem kargen Raum nur kurz von ihren Betten auf und schliefen dann unbeirrt weiter. «Das war ein entmutigender Beginn meines Auslandsemesters. Die Fremde, der kühle Empfang – ich war ziemlich fertig», erinnert sich Zimmermann.

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Heute blickt er mit Begeisterung auf das halbe Jahr in Hongkong zurück, und mit den Kollegen aus China ist er noch immer in Kontakt. «Sich auf fremdem Territorium durchzusetzen, verleiht einem ungemeines Selbstvertrauen», sagt der Inhaber eines Master-of-Business-Administration-Titels. Seit zwei Monaten arbeitet er bei der zu den SBB gehörenden Marketingorganisation RailAway als Projekmitarbeiter Strategie. Der 27-Jährige möchte unbedingt nochmals ins Ausland – diesmal als Berufstätiger.

Mit diesem Wunsch ist er nicht allein. Schweizer Studierende haben ein reges Interesse an Auslandaufenthalten, wenn sie ins Berufsleben einsteigen – vor allem in den Wirtschaftswissenschaften. Das zeigen die Ergebnisse von Universum Communications, die jedes Jahr Zehntausende von Studenten rund um den Globus nach ihren Arbeitgeberpräferenzen und Karrierezielen befragt (siehe «Fundierte Analyse» unter 'Nebenartikel'). Fast 35 Prozent der Schweizer Wirtschaftsstudenten gaben in der repräsentativen Umfrage an, dass für sie die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen, ein wichtiger Aspekt sei bei der Wahl des Arbeitgebers. Damit stehen sie international an der Spitze. Die Amerikaner etwa sind Auslandmuffel. Nicht einmal 14 Prozent der Befragten zeigten sich dort interessiert an einer Versetzung in ein anderes Land. Und auch die aufstrebenden Chinesen erreichen diesbezüglich längst nicht die Werte der Schweizer.

Internationale Karriere von zu Hause aus. Es verwundert daher nicht, dass in den Top Ten der beliebtesten Arbeitgeber in der Schweiz seit Jahren praktisch dieselben Konzerne figurieren. Nestlé, Credit Suisse und die UBS liegen bei den Wirtschaftswissenschaftlern auch 2011 wieder auf den ersten Plätzen, gefolgt von Google, L’Oréal, Swatch und dem Prüfungs- und Beratungsunternehmen PricewaterhouseCoopers (PwC). Bei den Ingenieuren sind ABB, Alstom und Siemens top. All diesen Firmen ist eigen, dass sie Karrieremöglichkeiten im Ausland bieten.

Und doch lassen sich neue Trends ausmachen, wie Axel Keulertz, Director Research Universum Europa, erklärt. «Das internationale Flair vor Ort in einem Unternehmen ist den Studierenden in der Schweiz zunehmend wichtiger als die physische Auslanderfahrung», stellt der Chefstatistiker der Organisation fest. Tatsächlich legen über 43 Prozent der befragten Studierenden in der Schweiz Wert auf die Interaktion mit internationalen Kunden und Kollegen. Ein absoluter Spitzenwert im Nationenvergleich und eine deutlich höhere Befürwortung, als die Frage nach einer Versetzung ins Ausland erfährt. Nelly Riggenbach, Universum-Länderverantwortliche für die Schweiz, spricht von einem «Trend zur internationalen Karriere von zu Hause aus», den man vermehrt beobachte. Dieser werde unterstützt durch die Tatsache, dass in den letzten Jahren ausländische Grosskonzerne wie Google oder Kraft Foods ihr europäisches Headquarter in die Schweiz verlegten.

«Für mich ist ein Auslandaufenthalt nice to have, aber kein Must, weil ich bereits während meiner Schulzeit viel Auslanderfahrung sammelte», sagt Katrin Stutz. Die 21-jährige Betriebswirtschaftsstudentin lernt an der Kaderschmiede schlechthin, der Hochschule St. Gallen. Sie schliesst gerade ihren Bachelor in Betriebswirtschaft ab. Danach folgt ein Praktikum in Berlin, «weil sich da eine gute Möglichkeit ergeben hat». Aber für die Diplomatentochter ist klar: «Ich kenne viele Orte auf der Welt – die Schweiz bietet gute Entwicklungsmöglichkeiten.» Eine Versetzung ins Ausland um jeden Preis? Das strebt auch Sarah Castratori (27), BWL-Studentin im vierten Semester an der Fachhochschule Nordwestschweiz, nicht an. «Es müsste alles stimmen. Der Job, die Destination, die Rahmenbedingungen. Sonst würde ich verzichten.»

Neue Töne in einer Welt, welche die Führungskräfte von morgen hervorbringen sollte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Gehörte es früher vor allem bei Wirtschaftsstudenten zum guten Ton, ins Ausland gehen zu wollen, so ist dies heute nur eine Option. Die Prioritäten sehen anders aus. Eine ausgewogene Work-Life Balance steht bei den wichtigsten Karrierezielen an der Spitze. Die internationale Karriere als Ziel figuriert deutlich weiter unten (siehe Tabelle auf Seite 51), und auch die Vorstellungen über einen Auslandaufenthalt sind teilweise zwiespältig. «Dahinter steckt bei den Studenten oft auch eine stark idealistische Vorstellung», sagt Universum-Direktor Keulertz.

Komfortzone Schweiz. Das merkt man auch bei der UBS. «Die Hochschulabsolventen denken häufig in Ferienkatalog-Manier ans Ausland», sagt André Zeder, Leiter Recruiting UBS Schweiz. Wer dann bei der UBS anfange, merke aber rasch, was der Schritt ins Ausland konkret bedeute: die Komfortzone Schweiz zu verlassen. Genau das sieht Bernard Zen-Ruffinen als Problem. «Es geht uns viel zu gut in der Schweiz. Deshalb finden wir immer weniger Leute, die bereit sind, sich versetzen zu lassen», so der Europaverantwortliche des international tätigen Executive-Search-Unternehmens Korn/Ferry. Für den Rekrutierungsspezialisten ist das ein Alarmzeichen. Denn der Markt verlangt eine andere Einstellung: «Für junge Menschen mit Karriereambitionen ist ein Auslandaufenthalt ein Must» (siehe Interview unter 'Nebenartikel'). «Meine Auslanderfahrung war sicher ein Trumpf bei meinen Bewerbungen – vor allem die Sprachkenntnisse», sagt David Eberle. Der Ökonom war während seiner Ausbildung in Japan, Thailand und Holland und arbeitet seit kurzem als Junior IT Consultant beim Lifthersteller Schindler.

Das sieht man beim Beratungsunternehmen PwC genauso. «Wer bei uns eine Position als Partner anstrebt, sollte einen Auslandaufenthalt absolvieren», sagt Elisabeth Ziller, Leiterin Human Capital & Recruitment. Der Konzern engagiert über 200 Schweizer Studenten pro Jahr. Hinzu kommen 100 Praktikanten. Wer als Hochschulabsolvent ins Ausland gehen will, kann auf einen Eintritt ins Graduate Advisory Program hoffen, das einen dreimonatigen Aufenthalt in einem anderen Land beinhaltet. Oder aber ins länger dauernde Early PwC International Program, das eine länger dauernde Versetzung ins Ausland vorsieht. Fle-xibilität und die Bereitschaft, an anderen Orten zu arbeiten, gehören im Beratergeschäft zu den Grundvoraussetzungen für eine Anstellung. «Unsere Strategie ist es, unsere Mitarbeiter künftig noch mobiler zu machen», sagt Ziller. Das fängt in der Schweiz an. Bewusst werden die Talente schon im eigenen Land verschoben – etwa von Zürich nach Genf. «Das soll ihnen helfen, ihr Netzwerk zu erweitern und ihren Führungsstil von verschiedenen Kulturen beeinflussen zu lassen.»

Rosinenpickerei. Diese Bereitschaft ist aber nicht immer vorhanden. Beim Aufzugshersteller Schindler beobachtet Melanie Bründler, Leiterin des Career Development Program, dass nicht wenige junge Leute die Auslanderfahrung in erster Linie als Pflichtübung für ihr CV betrachten. «Genau das wollen wir nicht. Wir erwarten Offenheit, hohes Engagement und die klare Bereitschaft, sich auf das entsprechende Land einzulassen», so Bründler. Auch sie spürt, dass die Skepsis gegenüber dem Ausland wächst – vor allem wenn die betroffenen Personen privat gebunden sind oder bereits eine Familie haben. «Die Flexibilität nimmt ab, und die Verhandlungen gestalten sich schwieriger.»

Hinzu kommt ein anderes Problem: Um die wenigen attraktiven Posten im Ausland reissen sich nicht nur die Schweizer selber, sondern auch Nachwuchshoffnungen mit anderen Nationalitäten. Denn in den letzten Jahren haben viele Konzerne angefangen, ihr Personal vermehrt vor Ort zu rekrutieren – insbesondere im Boommarkt Asien. «Das klassische Expatriate-Modell verliert an Bedeutung zugunsten eines verstärkten Ansatzes zur lokalen Personalgewinnung», hält Bründler fest.

Bei der UBS etwa sind heute konzernweit nur noch 450 klassische Expatriates rund um den Globus verteilt – früher waren es bis zu 2000. Stattdessen werden die Leute vor Ort rekrutiert, oder aber Schweizer werden zu Lokalkonditionen engagiert – ein deutlich bescheideneres Arrangement als das Expat-Modell. Für hiesige Studenten mit Auslandambitionen heisst das: Der Kampf um einen Job an den Hotspots wird immer härter. UBS-Manager André Zeder nennt die Realität beim Namen: «Es ist eindrücklich zu sehen, wie viele topausgebildete junge Leute heute in Indien oder China verfügbar sind, die ehrgeiziger sind als die Westeuropäer. Die Schweizer Kandidaten stehen in einem immer intensiveren Wettbewerb.»