Herr Risse, können Sie sich die Kletterpartie an den Börsen erklären?

Es ist schon erstaunlich. Wir haben prozentual die stärkste Zinserhöhung aller Zeiten gesehen, die Weltwirtschaft schwächt sich ab, und trotzdem steigen die Kurse. Ich habe folgende Erklärung: Den Unternehmen geht es besser als der Konjunktur. Sie haben ihre Kostensteigerungen über Preiserhöhungen mehr als kompensiert. Jetzt, da die Inputkosten wieder fallen, halten viele Firmen die Preise stabil und freuen sich über steigende Gewinnmargen. Aber das hat ein Ablaufdatum. Wird alles teurer, lastet das auf dem Konsum. In den USA braucht es 44 Monatsgehälter, um ein Auto zu kaufen – vor der Pandemie waren es 34.

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Also haben Aktien kurzfristig nur wenig Potenzial?

Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass es mit den Kurssteigerungen einfach so weitergeht. Die Börsenregel «Sell in May and go away» könnte sich dieses Jahr wieder bewahrheiten. Anfang Mai einen Teil der Gewinne mitzunehmen, ist wohl keine schlechte Idee. Anfang August wird in den USA die Schuldenobergrenze erreicht. Dies führt meist zu Unsicherheit und könnte ein weiterer Auslöser für Verkäufe sein. In diesem Jahr sehe ich für die Aktienbörsen keine grossen Gewinne mehr.

Wurden die Straffung der Geldpolitik und die maue Konjunktur nicht bereits 2022 eingepreist?

Alle Erfahrungen zeigen, dass eine restriktive Geldpolitik an den Aktienmärkten zu einer kräftigen Korrektur führt. Der Bärenmarkt 2022 kann nicht alles gewesen sein, dafür war das Ausmass der Liquiditätseinschränkungen einfach zu gross. Zudem war es eine Korrektur der Übertreibungen aus dem Jahr 2021.

Aber ist nicht schon die Zinswende in Sicht?

Wir befinden uns in der schwierigsten Lage seit 40 Jahren. Erstmals haben wir einen Abschwung, bei dem die Notenbanken die Zinsen nicht senken, sondern noch erhöhen. Die Zinssenkungen, die der Markt für das zweite Halbjahr einpreist, kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Dafür ist die Situation am Arbeitsmarkt noch viel zu angespannt. Die Fed würde sonst eine Lohn-Preis-Spirale riskieren.

Sie haben die Inflation anders als die Notenbanken prognostiziert. Wie geht es mit der Teuerung weiter?

Die höchsten Ausschläge liegen hinter uns. Aber auf Sicht von 5 bis 10 Jahren rechne ich mit Inflationsraten von 3 bis 4 Prozent.

Wie lässt sich die Kaufkraft erhalten?

Indem man den grössten Teil seines Vermögens, im Extrem bis auf eine Reserve von drei Nettolöhnen, langfristig in Sachwerte investiert. Damit meine ich weniger Gold als Aktien.

Erich Gerbl
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