Sie heissen Récif, Yasifan, Pandana und Rayuela und sind Unikate der Haute Joaillerie von Cartier. «Haute» ist in dem Kontext zwingend zu übersetzen mit «wie nicht von dieser Welt». Das gilt für Steine, Design, Verarbeitung von jedem einzelnen der 100 Schmuckstücke der diesjährigen Kollektion. Sie heisst «Beautés du Monde».

Klotzen, nicht kleckern

Einmalig wie die Preziosen ist auch die Kulisse, in der sie präsentiert werden: Im Herzen von Madrid hat Cartier die einstige britische Botschaft angemietet, die seit zehn Jahren leer steht. Der berühmte spanische Künstler und Designer Jaime Hayon hat den mehrstöckigen Rundbau von oben bis unten, innen und aussen für die Beautés hergerichtet. Er hat geklotzt, nicht gekleckert.

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Den Lichthof hat er mit einer Wasserinstallation zu einer Oase gemacht, alle Wände und sogar die Fassade frisch gestrichen und die einstigen Büros mit bis ins kleinste Detail durchkomponierten Interieurs zu privaten Showrooms für die VIPs umgestaltet, die Cartier in die spanische Hauptstadt einlud.

Die oberste Etage der Ex-Botschaft gehört Récif, Yasifan und Co. – sie sind dort aufwendigst inszeniert. Übertrieben? Papperlapapp – nicht in der Welt von Pierre Rainero: «Wenn man das alles sieht, versteht man erst, warum Cartier die Nummer eins ist», sagt er, «wir tun alles, um erfolgreich zu sein.» Aufwand/Ertrag, Umsatz/Gewinn – Nebensache.

Director of Image, Style and Heritage Pierre Rainero

DIRECTOR OF IMAGE, STYLE AND HERITAGE PIERRE RAINERO „Wir tun zwar alles, um erfolgreich sein, aber wir gehen dabei immer unseren eigenen Weg.”

Quelle: PD

Rainero ist seit über 40 Jahren bei der Marke, gilt als deren Seele. Seine offizielle Funktion heisst «Director of Image, Style and Heritage». In einem der Salons privés betont er beim Interview, dass er bei Cartier in sämtliche kreative Prozesse involviert sei, Betonung auf «sämtliche». Cartier ist ja nicht nur Schmuck, sondern stellt auch Leder- und Wohnaccessoires, Parfums und Uhren her, auf die wir gleich noch zu sprechen kommen. Auf allem hat Rainero ein Auge, auf dass alles Cartier-like sei. «Wir tun zwar alles, um erfolgreich zu sein», kommt er nochmals auf seine vorherige Aussage zurück, «aber wir gehen dabei immer unseren eigenen Weg.» Heisst: Cartier rennt keinen Trends hinterher, «warum sollten wir?». Die Frage ist rhetorisch, das Archiv der 175-jährigen Pariser Marke voller grosser Würfe, darunter Klassiker wie Santos und Trinity, die so designt sind, dass sie auch nach 100 Jahren noch aussehen, als wären sie von heute.

Mit dem Setting in Madrid ist Rainero tief zufrieden, «es stimmt einfach alles». Die überbordende Inszenierung in Madrid lässt darauf schliessen, dass Schmuckstücke für ein paar hunderttausend Franken sich nicht von allein verkaufen. Und was ist mit den Geschmeiden, die keiner haben will? «Ein Schmuckstück wird erst geboren, wenn ein Mensch es adoptiert», sagt Rainero, «wenn es nicht verkauft wird, lebt es nicht.» Konkret werden diese Teile nach einer gewissen Zeit vergeblichen Wartens auf Käuferschaft verändert.

Tradition

So prestigiös Haute Joaillerie ist, so bedeutsam ist sie für die Maison: Mit diesen Schmuckstücken wird in den Ateliers in Paris altes Savoir-faire erhalten und damit zu den Wurzeln der Marke Cartier geschaut. In der Konzernrechnung spielen die Einzelstücke indes eine Nebenrolle. Hauptdarstellerinnen sind Schmuckstücke wie Trinity, Juste un Clou und Love, die in Fabriken in Italien millionenfach hergestellt werden und preislich für sehr viel mehr Menschen in Reichweite und damit die wahren «Beautés du Mondes» sind. Sie sind das Fundament der grössten Schmuck- und Uhrenmarke der Welt und alles andere als gewöhnlich: Mit Juste un Clou hat der italienische Designer Aldo Cipullo in den 1970er Jahren einen hundskommunen Nagel in ein elegantes Luxusaccessoire verwandelt.

Ein weiterer Sonderling im Bereich Luxusschmuck ist das ovale Love-Bracelet mit Schraubenverschluss. Es stammt ebenfalls von Cipullo, startete als Armreif und hat sich wie Clou in Ohrringen, Ketten und Ringen vervielfältigt. Mindestens so unverkennbar Cartier, aber noch viel älter ist Trinity. Das Design, bestehend aus je einem gelb-, rosé- und weissgoldenen Ring, stammt von Louis Cartier, dem Enkel des Firmengründers, und datiert von 1924. Gerade sind die Scheinwerfer wieder auf Trinity gerichtet respektive auf das, was die japanische Designerin Chitose Abe daraus gemacht hat: Die Sacai-Gründerin hat die Dreisamkeit erst de- und dann in ihrer eigenen Art rekonstruiert. Was herausgekommen ist, ist ganz Trinity und doch ganz anders.

Cartier verkauft sich in aller Welt mit Ausnahme Russlands, wo die Marke eigentlich schon seit 1907 präsent ist. Doch der Handel mit Luxusgütern ist derzeit nicht erlaubt, alle Läden sind geschlossen. Dafür brummt das Geschäft in den USA, wo der erste Laden 1909 an der Fifth Avenue eröffnet wurde. In den kommenden Jahren sind dort zu den bestehenden 30 Boutiquen weitere zehn projektiert. Weltweit gibt es 270 Cartier-Stores. Der allerwichtigste ist der allererste: der an der Rue de La Paix 13 in Paris. Er wird demnächst nach zwei Jahren Totalumbau in Rainero’scher Pracht als «13 Paix» wiedereröffnet.

Innovation

Cartier gehört seit 1997 zur börsenkotierten Richemont-Gruppe. Im Geschäftsbericht des Konzerns mit Sitz in Genf wird das Unternehmen in der Kategorie «Jewellery Maisons» geführt, schliesslich hat 1847 in Paris alles mit Schmuck begonnen. Zusammen mit den beiden anderen Schmuckmarken Van Cleef & Arpels und Buccellati steuerte Cartier im vergangenen Geschäftsjahr 58 Prozent zum Richemont-Umsatz von 19,2 Milliarden Euro bei, also rund 11,2 Milliarden. Welche dieser Marken wie viel einspielt, wird nicht im Einzelnen aufgeschlüsselt. Diese Intransparenz ist in der Branche definitiv eine Zier. Im Fall von Cartier gibt es immerhin Schätzungen. In ihrer Analyse zum letzten Geschäftsjahr beziffern Morgan Stanley und LuxeConsult den Umsatz von Cartier mit 8,5 Milliarden Franken, 5,1 Milliarden mit Schmuck und 2,4 Milliarden mit Uhren, was einem Umsatzsprung von 40 Prozent zum Vorjahr entspräche und Cartier im Ranking der grössten Uhrenhersteller im Land auf Platz zwei befördern würde, hinter Rolex. Richtig? Falsch? Die Antwort von dem, der es weiss, lautet: «Wir sind sehr gut unterwegs.»

Gesagt hat das Cyrille Vigneron, CEO von Cartier. Er hat im September eingeladen ins «Manufacturing Lab» in Couvet im Val de Travers im Kanton Neuenburg. Eine Premiere: Noch nie haben Journalisten einen Fuss da hineingesetzt. «Wir wollen Ihnen zeigen, was wir hier machen und wie es uns weiterbringt», sagt Vigneron zur Begrüssung. Indem er selbst da ist, unterstreicht er die Bedeutung dieses Orts: Das Manufacturing Lab, das wird rasch klar, spielt eine Schlüsselrolle in seinem Ehrgeiz, die Dinge besser zu machen, als sie waren, als er 2016 Cartier-Chef wurde.

Ambassadoren mit Strahlkraft

Für einen Vertrag mit Cartier muss man jung sein, erfolgreich – und eigenwillig. Letzteres gilt mindestens seit 2020: Damals wurde Rami Malek, als Darsteller von Freddie Mercury zum Star geworden, Botschafter der Marke und Teil einer globalen Kampagne zusammen mit den Individualisten Troye Sivan, Willow Smith, Maisie Williams und Jackson Wang. Aufgehende Sterne verändern die Ambassador-Crew laufend. Kürzlich hat Konkurrent Dior Cartier den Blackpink-Star Jisoo abgejagt. Seit Oktober neu im Team ist die Bollywood-Schauspielerin Deepika Padukone. Die Tochter von Phil Collins, Lily, ist die Muse von Clash de Cartier.

Cartier-Ambassadoren Lily Collins und Rami Malek

STARKE CHARAKTERE Die Schauspielerin Lily Collins und der Schauspieler Rami Malek verkörpern aufs Trefflichste, was CEO Cyrille Vigneron als DNA der Marke beschreibt: «Einzigartig und universell.»

Quelle: PD

Damals musste er zuerst einmal hart durchgreifen, um die Uhrendivision der Marke wieder auf Kurs zu bringen. Es gab viel zu viele Cartier-Zeitmesser im Markt – schlecht fürs Geschäft und sehr schlecht fürs Image. Vigneron hat für 500 Millionen Franken Ware zurückgekauft – ein Ende mit Schrecken, ein Neuanfang mit Tabula rasa, klaren Vorstellungen und glasklarer Ansage: «Im Luxussegment muss das Angebot kleiner sein als die Nachfrage», sagte er damals. Und er sagt es auch heute.

Die Kunst, man ahnt es, ist einerseits zu wissen, wie viel genug ist, und anderseits schnell zu reagieren, wenn sich daran etwas ändert. Hier in Couvet kreist gemäss Vigneron alles um «reduce time to market», also agil sein, «reduce time to finish a watch», effizient und flexibler sein, «um die Bewegungen im Markt nachzuvollziehen», sagt Vigneron, heisst: Kapazitäten hochfahren, wenn die Nachfrage steigt – «wenn etwas nicht limitiert ist, dann sollte es erhältlich sein, nicht wahr?» – und drosseln, wenn sie sinkt. Und zwar schnell, «sonst hat man immer entweder zu viel oder zu wenig».

Fortschritt

Agiler, effizienter, flexibler. Gerade die vergangenen drei Jahre haben eindrücklich gezeigt, wie fragil ein Status quo sein kann. Beim Ausbruch der Pandemie ist bei Cartier die Nachfrage um 50 Prozent eingebrochen, als der Sturm vorüber war, war sie doppelt so hoch wie davor. «Wie kann man so was auffangen?», wirft Vigneron in die Runde und weist mit einladender Handbewegung zur Tür ins Manufacturing Lab.

Manufacture von Cartier in La Chaux-de-Fonds

MANUFACTURE Am Rand von La Chaux-de-Fonds werden die Cartier-Uhren hergestellt – was Maschinen besser können als der Mensch, wird industriell gefertigt.

Quelle: PD

Es ist untergebracht in einer Werkhalle, nicht ganz so gross wie ein Fussballfeld. Fixe Arbeitsplätze gibt es hier keine. Wer zugegen ist, arbeitet an einem der fünf Westschweizer Standorte der Cartier-Uhrenproduktion, bekommt aber ein, zwei Tage pro Woche frei vom Job, um an einer eigenen Idee zu arbeiten, die Dinge im Sinn von Vigneron besser zu machen.

Das Experimentierfeld ist weit: Hier lärmt eine Fräsmaschine, die zehnmal schneller ist als das Original, aber fünfmal weniger Strom braucht und statt 200 Litern Schmiermittel nur 14 Liter. Dort ein Polier-Roboter, der vom Chefpolisseur einzelne Routinearbeiten gelernt hat. In einer ruhigeren Ecke führt ein junges IT-Team sein Empfehlungssystem für die Cartier-Boutiquen vor. Es funktioniert analog der «Top-Auswahl für dich» von Netflix und «Basierend auf deinem Hörverlauf» von Spotify. Besonders stolz sind die digitalaffinen Youngsters auf die dank Big Data beschleunigten Prozesse: Nun, da alle mit allen und alles mit allem verbunden ist, dauert es beispielsweise nur 30  Minuten, bis eine neue Linienführung an einem Gehäuse umgesetzt werden kann – statt drei Wochen wie früher.

Die Errungenschaften aus dem Manufacturing Lab, das vor fünf Jahren installiert worden ist, landen in der Fabrik, wo Cartier jährlich Hunderttausende Uhren aus Stahl und Gold herstellt. Sie ist 33 000 Quadratmeter gross, auf der grünen Wiese am Rand von La Chaux-de-Fonds gebaut und von Lab-Innovationen durchdrungen – die gepimpten Fräsmaschinen sind ebenso im Einsatz wie die Polier-Roboter, die by the way nicht einen Polisseur überflüssig gemacht haben: Die Roboter übernehmen ja nur jenen Teil des Prozesses, der einer Maschine beigebracht werden kann. Für das perfekte Finish braucht es Fingerspitzengefühl und Erfahrung – und da ist der Mensch unersetzbar. «Die Allianz von händischer und industrieller Fertigung erfordert ein tiefes Verständnis der Prozesse», sagt Vigneron.

Cartier-CEO Cyrille Vigneron

CARTIER-CEO CYRILLE VIGNERON «Das Interesse an Cartier ist wieder dort, wo es einmal war.»

Quelle: PD

Entwicklung

Innovation und Tradition sind in der Werteskala des Cartier-CEO gleichauf. Über allem steht für ihn aber Design. Oft wiederholt er Sätze wie «Cartier is the king of elegance», «Zuerst kommt die Form» und «Alle Technik muss dem Design dienen». Cartier-Uhren sind denn in erster Linie auch einfach mal schön – und unkompliziert. Aber klar kann man wie beim Schmuck auch «haute», Haute Horlogerie. Wunderwerke wie das Modell Masse Mystérieuse mit dem Kaliber MC9801 entstehen nicht in der Manufacture, sondern dreissig Meter daneben. Dort hat Cartier 2011 ein Bauernhaus, Baujahr 1859, gekauft und unter strengsten Auflagen der Denkmalschützer grunderneuert und der hohen Uhrmacherkunst gewidmet. Im «Maison des Métiers d’Art» werden nicht nur Komplikationen ausgeheckt, sondern Kunsthandwerktechniken wie Goldgranulation, Holzintarsien und Champlevé lebendig gehalten. Und man nimmt sich 70  Stunden Zeit für ein Zifferblatt, Wochen für ein Gehäuse und Jahre für ein Kaliber. Was beim Schmuck gilt, ist aber auch hier gültig: Das bringt Respekt, Ansehen und Glamour. Das grosse Geschäft ist es nicht.

Dafür sorgen die Ikonen der Maison. Bei den Uhren sind das Santos, Tank, Panthère und Ballon Bleu, die in immer neuen Spielarten herauskommen und dabei unverkennbar bleiben. Auktions- und Geschäftserfolge in jüngerer Vergangenheit nimmt Vigneron als Bestätigung für seine Strategie, sich auf Ikonen zu fokussieren und nicht zu viel links und rechts auch noch zu machen: «Das Interesse an Cartier ist wieder dort, wo es einmal war.»

Nun muss das Feuer am Lodern gehalten werden. Mit der Tank Solarbeat ist das letztes Jahr vortrefflich gelungen: Da steckt im 105-jährigen Tank-Gehäuse ein Hightech-Werk, das seine Energie von einer Solarzelle bezieht, die eine garantierte Funktionstüchtigkeit von 16 Jahren hat. Die Uhr kostet keine 3000 Franken. Das Modell Tank steht übrigens exemplarisch für ein weiteres Anliegen des Chefs: «Wir machen keine Herren- und Damenuhren, sondern einfach schöne Uhren.» Und zwar seit eh und je: Lady Diana trug eine Tank, Muhammad Ali auch.

Am Ende der Tour d’horizon durch Lab, Uhrenfabrik und Métiers d’Art zieht Cyrille Vigneron das Fazit: «Wir haben in den vergangenen sechs Jahren grosse Anstrengungen unternommen», sagt er, «und schon viel erreicht.» Zur Veranschaulichung gibt es von ihm einen Chart mit der «Watch Return Rate», also den Uhren, die wegen Mängeln oder Makeln an Cartier zurückgeschickt werden. Sie ist eine rote Linie, die 2017 weit oben links beginnt und bis 2026 rechts unten gegen null tendiert. «Wir haben bereits heute eine der tiefsten Garantie-Retouren in der Branche.» Nach Rolex. Auch in den Fabriken des Branchenprimus wird von Maschinen gemacht, was Maschinen besser können als Menschen – und umgekehrt.

Iris Kuhn Spogat
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