Die Entdeckung eines «Navigationssystems im Gehirn» hat drei Neurowissenschaftlern den diesjährigen Medizin-Nobelpreis beschert. Das Nobelpreis-Komitee gab am Montag in Stockholm die Auszeichnung für den in London forschenden Wissenschaftler John O'Keefe sowie das norwegische Ehepaar May-Britt und Edvard Moser bekannt.

Der Jury zufolge könnten die Forschungen der drei Preisträger über den Orientierungssinn zu einem besseren Verständnis degenerativer Hirnerkrankungen wie Alzheimer beitragen.

Partner-Inhalte
 
 
 
 
 
 

Das von den Preisträgern entdeckte System gibt nach Angaben der Juroren Antworten auf simple Fragen wie: «Woher wissen wir, wo wir sind? Wie finden wir den Weg von einem Ort zum nächsten? Und wie können wir diese Information abspeichern, so dass wir beim nächsten Mal sofort wieder den gleichen Weg nehmen?»

«Absolut verdient»

Für «absolut verdient» halten auch Schweizer Hirnforscher die Nobelpreis-Vergabe. Das von ihnen entdeckte Navigationssystem sei von fundamentaler Bedeutung für das Verständnis höherer Hirnfunktionen - auch des Gedächtnisses, pflichtete der an der Universität Zürich tätige Neurobiologe Fritjof Helmchen dem Verdikt der Jury bei.

Die Grundlagen legte der 74-jährige gebürtige New Yorker O'Keefe, der an Londons University College (UCL) forscht. 1971 entdeckte er erstmals einen Bestandteil des Navigationssystems: Bei der Forschung an Ratten konnte O'Keefe Nervenzellen im Hippocampus ausmachen, deren Aktivität davon abhing, wo sich der Nager gerade befand.

Koordinatensystem im Kopf

Aufbauend auf O'Keefes Erkenntnissen machten der 52-jährige Edvard Moser und seine ein Jahr jüngere Frau im Jahr 2005 die von ihnen so getauften «Rasterzellen« aus. Diese generieren eine Art inneres Koordinatensystem, sodass das Gehirn sich im Raum positionieren und orientieren kann.

Diese Arbeit habe zu einem «Paradigmenwechsel» geführt beim Verständnis davon, wie Gruppen spezialisierter Zellen im Hirn zusammenarbeiten, erklärte das Nobelpreis-Komitee.

Entstehung von Erinnerungen

Die Orientierungsfähigkeit ist ein zentrales Thema für die Hirnforschung, weil sie eng mit der Entstehung von Erinnerungen verknüpft ist. Die innere Landkarte im Gehirn werde anhand von Umgebungsmerkmalen gebildet, die dann beim Wiedererkennen des Raumes abgerufen würden, sagte Helmchen. «Das Navigationssystem dient also quasi der Erinnerung.»

Daher kommt es, dass Menschen ihre Erinnerung an Ereignisse meist mit einem Ort verbinden oder Gedächtnisweltmeister etwa können sich unglaublich viele Dinge merken, indem sie diese im Geiste in einem Raum oder Haus «verstauen».

Andersherum verlieren Alzheimer- und andere Demenzkranke zuerst fast immer das Orientierungsvermögen. Der Hippocampus ist bei ihnen das am stärksten beeinträchtige Hirnareal. Deshalb könnte die Entdeckung des inneren Navigationssystems eines Tages auch bei der Behandlung von Alzheimer helfen.

«Erschütterte» Preisträgerin

Die Preisträger zeigten sich von der Auszeichnung überrascht. May-Britt Moser berichtete auf der Nobelpreis-Internetseite, der Abruf habe sie derart «erschüttert», dass sie in Tränen ausgebrochen sei. Sie ist die elfte Frau, die mit dem Medizin-Nobelpreis ausgezeichnet wird.

Ihr Ehemann befand sich zum Zeitpunkt der Bekanntgabe in einem Flugzeug auf dem Weg nach München. Als Edvard Moser das Flugzeug verliess, wurde er von der Flughafenverwaltung mit Blumen empfangen. Erst da entdeckte er, dass er auf seinem Mobiltelefon «über 120 verpasste Anrufe» hatte, darunter vom Sekretär des Nobelpreis-Komitees, Göran Hansson.

Zum fünften Mal ein Ehepaar

Der mit acht Millionen schwedischen Kronen (rund 1'060'000 Franken) dotierte Preis geht zur Hälfte an O'Keefe, die andere Hälfte teilt sich das norwegische Duo. Die Mosers sind das fünfte Ehepaar, das den renommiertesten Wissenschaftspreis der Welt zugesprochen bekam.

Sie stehen damit in einer Reihe mit dem französischen Physiker-Paar Pierre und Marie Curie, die den Preis 1911 erhalten hatten. Die Übergabe des Nobelpreises findet bei der traditionellen Zeremonie am 10. Dezember statt, dem Geburtstag des 1896 verstorbenen Preis-Stifters Alfred Nobel.

(sda/gku)