Volkswirte und Unternehmenslenkerinnen beobachten in nahezu allen Industriestaaten derzeit einen Effekt, der zwar in seinem Grundsatz nicht überrascht, in seinen Ausmassen aber dennoch für Erstaunen sorgt: Der Preis für Energie scheint deutlich stärker auf die Leistungskraft einer Volkswirtschaft zu wirken als der Preis für Geld, also der Zinssatz. Während die Zinsen in den wichtigsten Industriestaaten inklusive der Schweiz unisono ansteigen, tun sich enorme Unterschiede bei den Energiepreisen auf. In den Vereinigten Staaten beispielsweise zahlen private und gewerbliche Stromkunden und Stromkundinnen nur rund die Hälfte pro Kilowattstunde der Preise in Deutschland oder in der Schweiz. Die USA wachsen derzeit besonders stark – zu einem wichtigen Teil liegt das an den günstigen Preisen für Energie. Stromkosten werden zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil von Industriestaaten.

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Drei Gründe, warum der Preis für Energie für Volkswirtschaften noch wichtiger sein kann als der Preis für Geld:

Erstens: Zinsen fallen nur auf einen Teil der volkswirtschaftlichen Leistung an, nämlich auf den kreditfinanzierten Teil. Energie aber ist ein elementarer Teil jeder Wertschöpfung, ob sie denn bezahlt oder unbezahlt ist, per Kredit finanziert oder nicht. Warum? Weil Wertschöpfung immer Manipulation von Materie bedeutet und diese ohne Energieaufwand nach den obwaltenden Naturgesetzen nicht zu haben ist. Ob nun ein Molekül in ein anderes verwandelt wird, ob Lasten gehoben oder transportiert werden, ob Fotos in Netz hochgeladen werden, eine Krankenpflegerin zum Dienst fährt, eine Familie Kuchen für die Gäste bäckt oder der eine Nachbarn dem anderen im Garten hilft – immer ist Energieverbrauch mit im Spiel.

Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident der Stiftung World.Minds sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt regelmässig über Technologie und Innovation – auch alle zwei Wochen in der «Handelszeitung».

Leben ohne Energie ist unmöglich – und das Wirtschaften erst recht. Da Zinsen also nur einen Teil der Volkswirtschaft treffen, Energie aber jede Tätigkeit weit über das Wirtschaften hinaus betrifft, sind Reichweite und Hebelwirkung des Energiepreises höher als die des Zinses.

Zweitens: Marktzinsen können zwar nicht perfekt, aber immerhin weitreichend von staatlichen Institutionen beeinflusst werden – den Zentralbanken. Da die Zentralbank das Geld selbst schöpft und die Geldschöpfung aller Wirtschaftssubjekte beaufsichtigt, kann sie die Geldwirtschaft beeinflussen, ohne Aufwand über die Verwaltungskosten hinaus treiben zu müssen. Bei der Energie sieht das anders aus. Zwar steht dem Staat zu Gebot, Energiepreise durch Subvention zu senken, doch dabei verzehrt er erhebliche Ressourcen aus seinem Haushalt. Seine Mittel sind arg beschränkt. Gerade auf eine fundamentale Ressource wie Energie hat der Staat nur wenig und dann auch nur kurzfristigen Einfluss. Dem Energiepreis ist die Gemeinschaft eines Staates also immer hilfloser ausgesetzt als dem Preis für Geld.

Drittens: Steigenden Energiepreisen in einem Land können Unternehmen durch Verlagerung ihrer Produktion ins Ausland leichter ausweichen als steigenden Zinsen. Im internationalen Vergleich der führenden Industriestaaten liegen Zinsen in einem engeren Band beieinander als Preise für Energie. Warum? Unter anderem, weil Geld auf transparenten Weltmärkten gehandelt wird und relativ leicht um den Globus geschoben werden kann, Energie aber nicht. Energie wirkt weitenteils lokal. Man kann die Preise in einem Land nicht einfach dadurch senken, dass man Strom von der anderen Seite der Welt einkauft und nach Hause importiert. Physikalisch, technisch und praktisch funktioniert das nicht. Deswegen muss flüchten, wem die Strompreise zu hoch sind. Dies führt zur Schwächung der Wertschöpfung und des Wohlstands in Ländern mit hohen Preisen für Energie.

In den vergangenen Jahrzehnten bestimmten Zinsen einen grossen Teil des Wettbewerbs zwischen den Staaten. In den kommenden Jahrzehnten könnten Energiepreise diese Funktion übernehmen.