Herr Qeli, eine Umfrage von Horvath unter Top-Führungskräften hat kürzlich gezeigt, dass der KI-Reifegrad in der Assekuranz noch überschaubar ist. Wie schätzen Sie das ein?

Ganz so pessimistisch sehe ich das nicht. Wenn wir die gesamte Versicherungsbranche betrachten, stehen wir vermutlich besser da als viele andere Branchen, was die Adoption von KI betrifft. Das zeigen auch andere Studien. 

In der Versicherungsbranche verwenden wir besonders viele unstrukturierte Daten, denn wichtige Informationen finden sich in E-Mails, Antragsformularen, Verträgen und Schadensakten. Mittlerweile erlaubt uns die KI, diese fragmentierten, unstrukturierten Informationen in maschinenlesbare Daten umzuwandeln und erleichtert es uns, sie in einem Business-Kontext zu nutzen, was vorher sehr aufwendig war. Hier hat die Versicherungswirtschaft tatsächlich eine Vorreiterrolle übernommen. 

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Nichtsdestotrotz, die Probleme und Herausforderungen sind natürlich da - vor allem, was die Skalierbarkeit anbelangt. Für kleine Probleme eine KI-Lösung zu erarbeiten, ist relativ einfach. Aber: Wie skaliert man KI-Lösungen, damit es einen tatsächlichen geschäftlichen Nutzen hat? Hier sehe ich noch erhebliches Potenzial.  

Der Gesprächspartner

Ermir Qeli ist seit rund zwölf Jahren in verschiedenen IT-Führungsfunktionen für Swiss Re tätig. Seit 2024 fungiert er als Head Data Science & AI. 

Gerade die Assekuranz sitzt auf einem riesigen Datenschatz…

Das stimmt. Aber diese Daten sind in vielen Fällen über zahlreiche IT-Systeme verteilt. Dadurch entstehen Datensilos, die sich nicht ohne Weiteres miteinander verknüpfen lassen. Das heisst: Wenn eine konsolidierte Datenbasis fehlt, wird auch der Einsatz von KI schnell zur Herausforderung. Und in welchen Kernbereichen soll KI eingesetzt werden? Es ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die Engineering-Anstrengungen auf die richtigen Problemstellungen zu lenken. 

Deshalb kommen viele KI-Projekte aus heutiger Sicht nicht über den Pilotstatus hinaus – eben weil die Legacy-Problematik und die Skalierung erhebliche Hürden darstellen. Und Skalierung erfordert darüber hinaus viel Change-Management. Denn man darf nicht nur die technische Seite betrachten – vor allem die menschliche Komponente spielt eine zentrale Rolle, weil sich die Arbeitsweisen verändern.  

Es ist rund um KI so etwas wie Goldgräberstimmung entstanden. Gibt es in der Versicherungswirtschaft eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit?

Teilweise ist das so. Aber lassen Sie uns mal einen Schritt zurückgehen. Wenn Sie vor einem Jahr die Jahresberichte von Versicherern gelesen haben, spielte KI nur eine untergeordnete Rolle. Mittlerweile ist das Thema angekommen, alle Big Player arbeiten strategisch daran. 

Das ist ein bedeutender Fortschritt, auch wenn sich das erst teilweise im Geschäft niederschlägt. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Daten in der Versicherungswirtschaft zu rund 80 Prozent unstrukturiert sind. Dieses Problem muss die Branche erst in den Griff bekommen, bevor KI effizient eingesetzt werden kann. Das ist die Wirklichkeit - ebenso aber auch das riesige Potenzial, das mit dem Einsatz von KI einhergeht.

Wir sollten aber nicht nur die Big Player betrachten. Es gibt auch zahlreiche kleinere Versicherer, die nicht über entsprechende IT-Budgets verfügen. Die sind beim Thema KI natürlich etwas zurückhaltender. Die Unternehmensgrösse bleibt also ein wesentlicher Faktor für die Geschwindigkeit der Transformation.

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Es wird viel über die Chancen der KI geredet. Wie steht es mit den Risiken für Versicherer?

Das ist eine sehr spannende Frage. Die Künstliche Intelligenz ist im Grunde genommen auch nur eine Software - mit den gleichen Risiken. Hinzu kommen aber völlig neue Risikodimensionen wie beispielsweise «Halluzinationen» von KI-Modellen, welche uns bei Swiss Re stark beschäftigen. Diese Halluzinationen lassen sich mit dem sogenannten Red-Teaming-Ansatz testen, einem Standard, der ursprünglich aus dem Cyberbereich stammt.

Die Idee dahinter ist, dass man versucht, ein KI-Modell nach einem «Bad guy»-Ansatz so zu verwenden, dass es sich fehlerhaft oder unerwartet verhält. So kann man sehen, ob das Modell tatsächlich so reagiert, wie es vorgesehen ist. Diesen Standard verwenden wir sehr oft, zum Beispiel bei unserem Life Guide Scout im Lebengeschäft, einem KI-Tool für Underwriter. Wir wollen natürlich, dass der Life Guide Scout ausschliesslich lebensversicherungsrelevante Fragen beantwortet - und nicht einen bunten Strauss anderer Fragen.

Der Life Guide Scout wurde in diesem Jahr ausgerollt. Welche Erfahrung haben Sie bislang damit gemacht?  

Tatsächlich haben wir den Life Guide Scout bereits im April 2024 ausgerollt, aber nur an einen ausgewählten Kundenpool. Die Ergebnisse des Pilotprojekts waren sehr erfolgreich, sodass wir es dieses Jahr global aufskaliert haben. Die Nutzerzahlen bei Lebensversicherungs-Underwritern liegen bereits heute im Tausenderbereich, die Rückmeldungen sind sehr positiv und unser Wissenspool erweitert sich bei jeder Anfrage. Jetzt arbeiten wir daran, den Life Guide Scout noch besser in die IT-Systeme unserer Endkunden zu integrieren. 

«Künstliche Intelligenz ist im Grunde genommen auch nur eine Software - mit den gleichen Risiken.»

Ermir Qeli

Welche Rolle spielt Künstliche Intelligenz in der Gesamtstrategie von Swiss Re?

Wir sind überzeugt, dass die generative KI ein Game-Changer ist für die Versicherungsbranche. Jetzt gilt es, die KI-Technologie ganzheitlich zu nutzen. Daten und Technologie stehen bei Swiss Re im Zentrum der Strategie und wir erarbeiten die richtigen Bausteine, damit diese Strategie mit Leben gefüllt wird. 

Dabei legen wir den Fokus auf geschäftsrelevante Kernthemen wie Underwriting und Schadenbearbeitung. Ein anderer Schwerpunkt ist die Datenbasis, in die wir seit Jahren viel Geld investieren, damit die unstrukturierten Daten verwendbar für jeden werden. Dann braucht es als weiteren Schwerpunkt eine solide Governance. Unsere langjährige Vorarbeit hat uns ermöglicht, einen robusten, konzernweiten Governance-Rahmen zu etablieren. 

Und schliesslich – vielleicht am wichtigsten – kommt es auf die Menschen an. Ein umfassendes People- und Change-Management ist entscheidend, um Akzeptanz zu schaffen und den kulturellen Wandel zu begleiten, den der Einsatz von KI mit sich bringt.

Wie stark unterstützt KI bei Swiss Re die tägliche Arbeit der Mitarbeitenden?

KI unterstützt die Mitarbeitenden bereits heute sehr stark. Wir sehen die Entwicklungen bei uns in drei Kategorien. Zum einen haben wir Produktivitätsgewinne, indem wir ähnliche Tools wie ChatGPT auch intern zur Verfügung stellen, wie beispielsweise GitHub Copilot oder ChatGPT Enterprise. Firmenintern nutzen Tausende von Mitarbeitenden diese Tools, was eine sehr hohe Anzahl ist. 

Die zweite Kategorie nennen wir Business Innovation, also die Anpassung der Modelle für unsere Geschäftsprozesse. Denn die versicherungsrelevanten Probleme werden natürlich nicht direkt von den Modellen gelöst; diese Lösungen erarbeiten wir selbst.

Und dann gibt es eine dritte Kategorie, die wir gerade vor einigen Monaten gestartet haben. Diese umfasst die Neugestaltung von Geschäftsprozessen mit KI-Prinzipien. Wir denken, insbesondere diese dritte Säule wird transformativ für uns.

«Generative KI ist ein Game-Changer für die Versicherungsbranche.»

Ermir Qeli

Wie hoch schätzen Sie den KI-Reifegrad von Swiss Re ein?

Ich behaupte, dass der KI-Reifegrad bei uns höher ist als im Durchschnitt der Branche, vor allem was die Daten- und Technologiebasis anbelangt. Wir verfügen über eine der besten Datenplattformen und KI-Plattformen auf dem Markt, sind aber auch noch in einer Phase der Skalierung, das ist schon so. Aber wir haben genug Evidenz gesehen, dass die Technologie gut funktioniert und dass sie bereits heute einen Impact für uns hat.

Wo steht Swiss Re beim KI-Reifegrad auf einer Skala von 1 bis 10?

Bei einer 7 bis 8. Unser KI-Appetit kommt beim Essen. 

Wie rege nutzen Sie selbst KI-Tools?

Täglich, das ist ja auch Teil meines Jobs! Ich nutze es beruflich zum Beispiel sehr oft für Textentwürfe oder Transkriptionen. Und privat: Da ich beruflich sehr eingespannt bin, kam ich immer weniger dazu, selbst zu programmieren. Mit KI hat sich das geändert, denn es ist viel einfacher geworden. Die Schwelle, einen eigenen Code zu schreiben, ist jetzt niedriger. Das finde ich sehr spannend.

Noch ein anderes faszinierendes Beispiel: Ein Freund von mir ist Künstler, er schreibt Skripte für Filme. Allerdings war er immer sehr traditionell, wie er an die Sachen rangeht - KI war ein «No-Go». Da habe ich vor einem Monat zu ihm gesagt: «Probiere es doch einfach mal aus!» Daraufhin hat er ChatGPT installiert und mit dessen Hilfe ein Filmskript geschrieben. Er war begeistert von dem Ergebnis! Also: Wenn er schon diese Hürde nimmt, dann schaffen es andere auch.  

«Wenn man erst einmal auf den Geschmack gekommen ist und sieht, wie die Technologie funktioniert, dann gibt es kein Halten mehr.»

Ermir Qeli

Wo steht die Assekuranz in fünf Jahren beim Thema KI?

Wie sagte der berühmte Physiker Nils Bohr einst: «Voraussagen sind schwierig - vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen.» So ist es auch hier. Wenn ich zurückschaue, welche Möglichkeiten wir vor fünf Jahren hatten und das mit heute vergleiche – das sind Welten. Die Entwicklung wird sich noch weiter beschleunigen. 

In der Assekuranz sind wir immer noch in einer sehr frühen Phase der Integration von KI in unsere Kernprozesse. Das wird in fünf Jahren komplett anders aussehen, weil diese Integration jetzt relativ schnell verläuft. Ich gehe davon aus, dass wir dann ein sehr hohes Mass an Reife erreicht haben werden – nicht zuletzt, weil aktuell stark investiert wird.

Wenn man erst einmal auf den Geschmack gekommen ist und sieht, wie die Technologie funktioniert, dann gibt es kein Halten mehr.