Das Vorsorgewissen der Schweizer Bevölkerung stagniert lauf Vorsorgebarometer 2023 auf tiefem Niveau. Sind die Menschen zu bequem sich zu informieren oder ist das Schweizer Vorsorgesystem zu kompliziert, um es gut zu verstehen?

Andrea Klein: Vermutlich ist es eine Kombination der beiden Aspekte. Vorsorge ist generell ein Thema, mit dem man sich eher widerwillig befasst oder es auf die lange Bank schiebt.  

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Das Vorsorgebarometer zeigt: Gerade jüngere Personen sehen sich noch nicht oder zu wenig in der Eigenverantwortung und setzen sich häufig zu wenig oder gar nicht mit ihrer Altersvorsorge auseinander. Gleichzeitig ist unser 3-Säulen-System durchaus komplex. Wenn wir die Resultate des diesjährigen Raiffeisen Vorsorgebarometers betrachten, zeigt sich, dass genau diese Komplexität viele Menschen überfordert und das Beratungsbedürfnis wachsen dürfte.

Machen es sich die Vorsorgeeinrichtungen in der Kommunikation zu einfach, wenn das so wenig bei den Menschen ankommt?

Das kann man nicht so pauschal sagen. Gerade Pensionskassen kommunizieren viel aktiver und nutzen dafür zunehmend auch digitale Möglichkeiten. Zum Beispiel gibt es digitale Portale, auf denen sich die Versicherten nicht nur einen Überblick über ihre Vorsorgesituation verschaffen, sondern auch selbst verschiedene Situationen simulieren können.

Was in der Schweiz fehlt, ist eine Informationsplattform, die allen Personen eine Gesamtübersicht ihrer persönlichen Vorsorgesituation (AHV, Pensionskasse, Säule 3a) gibt. Somit fehlt das Bewusstsein für diese Gelder, die ja auch in der Steuererklärung nicht erfasst werden müssen. Der Zugang zu einer umfassenden Vorsorgeinformationsplattform mit einer Gesamtübersicht der eigenen Vorsorgesituation würde – gemäss dem Vorsorgebarometer – viele motivieren, sich stärker mit der eigenen Vorsorge zu beschäftigen. Nur steuerliche Vorteile können die Befragten noch mehr motivieren.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, das Vorsorgewissen der Bevölkerung zu verbessern?

Hier stehen alle in der Pflicht, ihren Teil beizutragen: die Wirtschaft, die Politik, aber zum Beispiel auch die Schulen und natürlich die Schweizer Bevölkerung selbst. Diese Eigenverantwortung geht mit dem Wissen einher. Denn wer sich selbst in der Pflicht sieht, wird sich auch stärker mit dem Thema Altersvorsorge beschäftigen. 

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Wir als Genossenschaftsbank sind uns der Verantwortung und Verpflichtung bewusst. Deshalb setzen wir uns mit Initiativen in Sachen Finanzwissen fortlaufend dafür ein, dass die Relevanz des Themas erkannt wird und sich die Menschen frühzeitig damit befassen. Denn die Erfahrungen unserer Beraterinnen und Berater zeigen: Die entsprechende Sensibilisierung und enge Begleitung der Kundinnen und Kunden ist essenziell. Sei es beim ersten Lohn, bei der Gründung einer Familie, beim Kauf von Wohneigentum oder bei der Frühpensionierung – das Thema begleitet einen in jeder Lebensphase.

Wo gibt es Wissenslücken in der zweiten Säule?

Eine der grössten Wissenslücken in Bezug auf die zweite Säule ist sicherlich die Tatsache, dass die Mehrheit der Arbeitnehmenden in der Schweiz ihr Altersguthaben in der beruflichen Vorsorge gar nicht als eigenes Vermögen wahrnimmt. Dementsprechend werden die monatlichen Sparbeiträge eher als Kosten wahrgenommen, statt als persönlicher Sparbatzen. 

Zudem gibt es viele gesetzliche Vorschriften, Einschränkungen und Fachbegriffe, die für Laien schwer verständlich sind. Um die persönliche Vorsorgesituation beurteilen und optimieren zu können, sollte man diese aber kennen. Hierzu gehören zum Beispiel der Koordinationsabzug und die Unterscheidung zwischen Obligatorium und Überobligatorium – wobei dieses Wissen gerade im Hinblick auf die bevorstehende BVG-Abstimmung entscheidend ist. 

70,7 Prozent der für das Vorsorgebarometer befragten Personen können sich vorstellen, unregelmässig, in Teilzeit oder sogar in Vollzeit nach Erreichung des ordentlichen Pensionierungsalters erwerbstätig zu sein. Was sagt das über die arbeitende Schweizer Bevölkerung aus? Sind sie besonders fleissig und gute Staatsbürger oder besonders sicherheitsorientiert  und ängstlich?

Diese Aussage muss man sicherlich differenziert betrachten. Es lassen sich daraus nicht so einfach Rückschlüsse auf den Fleiss oder die Ängstlichkeit der Schweizer Bevölkerung ziehen.  Fakt ist, dass sich nur die Wenigsten (4Prozent) vorstellen können, über das Alter von 65 Jahren hinaus Vollzeit zu arbeiten. Die grundsätzliche Vorstellung, nach Erreichung des ordentlichen Pensionierungsalters erwerbstätig zu sein, heisst auch nicht zwingend, dass die berufliche Karriere weiterverfolgt wird. Es gibt auch die Möglichkeit, eine ganz neue Tätigkeit aufzunehmen. 

Für manche steht auch nicht der finanzielle Aspekt im Vordergrund, sondern vielmehr die sinnstiftende Aufgabe. Eine weitere Möglichkeit ist der sukzessive Austritt aus dem Berufsleben in Form einer Teilpensionierung, um sich so an die neue Freizeit zu gewöhnen. Zudem lässt sich beobachten, dass Menschen länger fit sind. 65-Jährige zählen sich beispielsweise noch nicht zum «alten Eisen».

42,2 Prozent der Befragten investieren mittlerweile ihre Säule-3a-Gelder ganz oder teilweise an den Finanzmärkten – ein neuer Höchststand.

Andrea Klein, Leiterin Fachzentrum Finanzplanung bei Raiffeisen Schweiz

In der dritten Säule ist der Trend zum Wertschriftensparen ungebrochen. Was steckt dahinter?

Das Vermögen in der dritten Säule wird in der Regel über einen langen Zeitraum nicht benötigt. Gerade deshalb ist es empfehlenswert, das Geld nicht auf dem Konto zu parkieren, sondern mit einem 3a-Vorsorgefonds von Renditechancen an den Finanzmärkten zu profitieren. Die Tiefzinsphase, während der das klassische 3a-Konto mit Vorzugszins kaum noch etwas abwarf, und Corona haben dazu geführt, dass sich viele Personen erstmals überhaupt mit dem Thema Anlegen und den Finanzmärkten befasst haben. Entsprechend wurden in dieser Zeit überdurchschnittlich viele 3a-Depots eröffnet und dieser Trend setzt sich nun fort.

42,2 Prozent der Befragten investieren mittlerweile ihre Säule-3a-Gelder ganz oder teilweise an den Finanzmärkten – ein neuer Höchststand. Bei den jüngeren Personen ist das Wertschriftensparen gar beliebter als das Sparen auf dem Vorsorgekonto.

Versicherungslösungen haben anteilsmässig leicht verloren. Was sind mögliche Gründe?

45,7 Prozent der Befragten gaben an, ihre 3a-Gelder in 3a-Versicherungspolice investiert zu haben. Das ist an und für sich immer noch ein hoher Wert. Aber es zeichnet sich tatsächlich ein Abwärtstrend ab. Im Jahr 2021 waren es noch 49,8 Prozent und im Vorjahr 47,2 Prozent.

Hierfür gibt es mehrere potenzielle Gründe. Einerseits sorgen immer mehr Personen mit Wertschriften vor, wobei Banklösungen tendenziell mehr Spielraum bieten. Einer der Hauptgründe dürfte in der grösseren Wahlfreiheit liegen. 

Im Gegensatz zu Versicherungslösungen besteht bei Banklösungen keine Einzahlungspflicht. Die Beiträge können in Bezug auf Höhe und Zeitpunkt flexibel gestaltet und jederzeit pausiert werden. Entsprechende Versicherungen gegen Invalidität und Tod können auch separat abgeschlossen werden, zum Zeitpunkt, wenn effektiv ein Bedürfnis entsteht – beispielsweise bei der Familiengründung oder beim Kauf eines Eigenheims.

Das höchste Vertrauen geniesst die private Altersvorsorge, während die AHV wie schon in den Vorjahren den tiefsten Wert ausweist. Wie könnte das Vertrauen in die AHV gestärkt werden?

Dass das Vertrauen in die AHV weiter gesunken ist, ist überraschend. Denn eigentlich wird die AHV durch die am 1. Januar 2024 in Kraft tretende Reform AHV 21 gestärkt. Das sinkende Vertrauen kann aber auch damit zusammenhängen, dass sich mit der Flexibilisierung der Pensionierung sowie den Anreizen für die Weiterarbeit nach dem Referenzalter die Komplexität in diesem Vorsorgewerk tendenziell erhöht hat. 

Eine Möglichkeit zur Stärkung des Vertrauens sehen wir in der Entkoppelung von starren politischen Parametern. Statt eines fixen Rentenalters könnte dieses beispielsweise an die Lebenserwartung gekoppelt werden.

Im Vergleich zum Vorjahr haben weniger Personen ein hohes oder sehr hohes Vertrauen in die Pensionskassen.

Andrea Klein

Welches Vertrauen geniessen die Pensionskassen? Gibt es hier Unterschiede zwischen Jüngeren und Älteren? 

Allgemein lässt sich sagen, dass das Vertrauen in die berufliche Vorsorge eher tief ist. Zwar liegt es etwas höher als dasjenige in die AHV, aber immer noch deutlich unter demjenigen in die dritte Säule. 

Im Vergleich zum Vorjahr (19,2 Prozent) haben mit 17,9 Prozent weniger Personen ein hohes oder sehr hohes Vertrauen in die Pensionskassen. Dieser tiefe Stand dürfte unter anderem mit der bestehenden Wissenslücke und der damit einhergehenden Unsicherheit zusammenhängen. Und es gibt klare Unterschiede je nach Alter: Die 50- bis 65-Jährigen haben ein grösseres Vertrauen in die 2. Säule als die 31- bis 50-Jährigen.