Ausgangslage: Warum der Fachkräftemangel die Assekuranz besonders deutlich trifft

Der Finanzsektor, und damit massgeblich verbunden die Assekuranz, hat eine zentrale Bedeutung für die Beschäftigung in der Schweiz: Jeder zehnte Arbeitsplatz, und damit rund 430’000 Vollzeitstellen, ist direkt mit der Geschäftstätigkeit dieses Sektors verbunden (BAK-Studie, 2022). So ist es nicht verwunderlich, dass der Fachkräftemangel und sein aktueller Höchststand in der Schweiz (Fachkräftemangel-Index 2022) die Versicherer mit ihrem Bedarf an gut ausgebildeten Spezialisten besonders treffen. Vor allem Nachwuchs im MINT-Bereich wie IT-Spezialisten, Aktuare oder Risk Engineers, aber auch Profile im direkten Kundenkontakt wie Underwriter und Sales sind zunehmend Mangelware. Verstärkt wird dieser Effekt zudem durch ein regionales Ungleichgewicht, wobei das Defizit innerhalb der deutschen Sprachregion der Schweiz als Sitz der meisten grossen Versicherer besonders zum Tragen kommt (Fachkräftemangel-Index 2022). 

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Neben den bekannten demografischen Faktoren, die zu dem derzeit bereits deutlichen und auch künftig prognostizierten Mangel an qualifizierten Mitarbeitenden führen, verschärfen neue sozio-kulturelle Einflüsse den Effekt zusätzlich: Eigentlich sich noch im Arbeitsleben befindende Kräfte kehren ihren bisherigen Arbeitgebern, der Branche oder sogar dem gesamten Arbeitssystem den Rücken zu. Dieser Trend, genannt «The Great Attrition» oder «The Great Resignation» (McKinsey Quarterly 2021, 2022) beschreibt eine bis zu 25 Prozent höhere postpandemische Quote an aus freien Stücken kündigenden Mitarbeitenden, da die Passung zwischen dem, was traditionelle Unternehmungen anbieten, und dem, was Arbeitnehmer inzwischen fordern, nicht mehr gegeben ist. Besonders drastisch klafft diese Lücke in der Finanz- und Versicherungsindustrie, in der 65 Prozent aller dieser ehemaligen Arbeitnehmer einen Branchenwechsel vollzogen oder sich sogar gänzlich dem Arbeitsmarkt entzogen haben. Diese Entwicklung ist insofern nachvollziehbar, als sich diese Industrie besonders intensiv traditioneller Hebel bedient, um ihre Mitarbeitenden anzusprechen und zu halten, sei es zum Beispiel Gehalt, seien es Titel oder Aufstiegsmöglichkeiten. Diese Massnahmen des Talent-Managements sind grundsätzlich nicht inadäquat, da Anreize dieser Art auch künftig einen bestimmten Kreis an Mitarbeitenden ansprechen werden, die sogenannten «Traditionalisten». Der Anteil dieser Gruppierung am Arbeitsmarkt wird jedoch zunehmend geringer und abgelöst durch neue Bedarfsgruppen, die solch «harte» Faktoren in ihre Wechselüberlegungen nicht führend miteinbeziehen, sondern sie lediglich als Hygienefaktoren betrachten. 

Autorin und Autor:

  • Dr. Isabella Peres, Senior Project Manager Organization, People and Change, Horváth Schweiz
    Langjährige Versicherungs- und Führungserfahrung in den Bereichen HR, strategisches Projektmanagement und Vertrieb. PhD und Dipl. Psychologie der LMU München.
  • Florian Läubli, Senior Consultant Executive Search, Network Selection AG
    Langjährige internationale Unternehmensversicherungs- und Führungserfahrung in den Bereichen Underwriting, kulturelle Transformation, Digitalisierung und New Economy. M.A. HSG in Unternehmensführung.

Wer meint, das Problem aussitzen zu können und auf bessere Zeiten zu warten, dem sei gesagt, dass Automatisierung und Digitalisierung entlang der gesamten Wertschöpfungskette der Versicherer kaum zu Entspannung führen wird; so sind es ja gerade die anfangs erwähnten ausbildungsintensiven Profile, welche auch langfristig nicht durch Maschinen und Algorithmen ersetzt werden können. Bedenkt man zudem die veröffentlichten Wachstumsambitionen hiesiger Versicherer für die kommenden Jahre, so wird der Bedarf an entsprechenden Spezialisten tendenziell zu- und nicht abnehmen.

Zusammengefasst lassen die aufgeführten Entwicklungen darauf schliessen, dass der «New War for Talents» in der Schweizer Assekuranz nicht nur ein gegenwärtiges Problem darstellt, sondern in den kommenden Jahren noch deutlicher zum Tragen kommen wird. Grund genug, um als Branche das Problem grundlegend zu analysieren, sich entsprechend auf diese Herausforderung einzustellen und schlussendlich als attraktiver Arbeitgeber und im Sinne der eigenen Wettbewerbsfähigkeit Talente anzusprechen und zu halten.

Gesuchte Profile in der Assekuranz: Mangel an erfolgversprechenden Ansätzen

Wie eingehend erläutert, suchen die hiesigen (Rück-)Versicherer händeringend nach Mitarbeitenden in den verschiedensten Bereichen, vorrangig aber im MINT-Bereich für zentrale und spezialisierte Funktionen wie im Risk Engineering, im Aktuariat oder in der IT, aber auch in kundenbezogenen Funktionen wie Sales und Underwriting (HZ Insurance, 2023). Dieser Bedarf hat sich über das vergangene Jahrzehnt bereits angekündigt und trifft die Assekuranz so nicht völlig unvorbereitet. Entsprechende Massnahmen zur Gewinnung von Mitarbeitenden und deren langfristiger Bindung waren und sind bisher aber nur bedingt von Erfolg gekrönt. Die Gründe, warum die Assekuranz bis heute noch nicht auf einen «Golden Standard» in der Gewinnung und Bindung dieser Profile zurückgreifen kann, könnten je nach gesuchtem Profil unterschiedlicher nicht sein. Gemein haben alle bisherigen Versuche aber, dass sie fälschlicherweise als isoliertes Problem der einzelnen Verantwortungs- und Teilbereiche des Unternehmens behandelt wurden und dass so weder eine gesamtunternehmerische, geschweige denn branchenweite Antwort gefunden werden konnte. 

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1. Profilgruppe: MINT – lange erkannt, zu wenig getan 

Beginnen wir mit der IT als zentralem Beispiel, welches stellvertretend für den gesamten MINT-Bereich stehen kann: Die Assekuranz als datenintensive Branche mit ihren über viele Jahre heterogen gewachsenen und überalterten IT-Architekturen ist der Konkurrenz der neuen digitalen Player auf dem Markt ausgesetzt und hat diese auch erkannt. Jedoch herrscht ein grosser Mangel an Mitarbeitenden, welche an zeitgemässen Lösungen für das Backend und das Customer Interface arbeiten, um mit den neuen Konkurrenten Schritt halten zu können. Dabei stehen die Versicherer auf dem Arbeitsmarkt in direkter Konkurrenz zu vielen weiteren Branchen, welche diesen stark gesuchten und umworbenen Kandidaten potenziell glaubhafter vermitteln können, ihren Ansprüchen an den Beruf gerecht werden zu können und diese Zusagen dann auch einzuhalten. So sind IT-Ressourcen bis heute – auch aufgrund des bestehenden Mangels – Teil von unternehmensübergreifenden Machtkämpfen, welche zu einer Fokussierung der IT-Ressourcenallokationen auf diejenigen Projekte führen, die den Betrieb aufrechterhalten und den rechtlichen Anforderungen Genüge leisten. Die übrigen Kapazitäten werden danach unentschlossen auf die innovativeren business- und kundenfokussierten Entwicklungsprojekte verteilt. Echte Erfolgserlebnisse oder das durch die IT-Talente geforderte «Startup-Feeling» werden so verunmöglicht. Des Weiteren haben die Versicherungskonzerne grösstenteils gerade erst begonnen, diesen Profilen echte Entwicklungsmöglichkeiten anzubieten; einfaches Übertragen bewährter Talent-Management-Massnahmen wie zum Beispiel klassische Führungs- oder Fachkarrierepfade sind bei dieser Anspruchsgruppe oft wirkungslos. Hier braucht es neu gedachte Ansätze, um den wirklichen Bedürfnissen dieser Talente gerecht zu werden und ihnen auf diese Weise die verdiente Wertschätzung für ihre Leistung entgegenzubringen, die in der Assekuranz ehrlicherweise lange Zeit unerkannt blieb. 

2. Profilgruppe: Kundennahe Bereiche – Mangel schadet Reputation der gesamten Branche

Ähnlich stellt sich die Lage in den kundenfokussierten Bereichen dar. Je nach Teilbereich sind es hier die Kundenberater im Aussendienst der Retailversicherer oder aber Underwriting-Profile im Unternehmens- und Rückversicherungsgeschäft, deren Bewerbungen ausbleiben. Die von den Versicherern und damit von den verschiedenen Vertriebsorganisationen avisierte Gewinnung von Marktanteilen fördert jedoch den zunehmenden Bedarf dieser Spezialfunktionen und heizt den Talentwettbewerb weiter an. Die definierten Ziele lassen sich dabei nur durch eine zukunftsgerichtete Vertriebsstruktur als steuerndes Element im Omnichannel-Ansatz realisieren. Hierdurch wird im Bereich der Retailversicherung insbesondere das beratungsintensive Geschäft (Vorsorge und Unternehmen) an Bedeutung für den Generalagentur-Kanal gewinnen, wobei Commodity-Versicherungen tendenziell in die weiteren Kanäle (z. B. online, Partnerschaften) abweichen. Um die Beratungsqualität im Generalagentur-Kanal aber weiterhin sicherzustellen und um regulatorischen Anforderungen bezüglich der Ausbildung gerecht zu werden, muss ein Schwerpunkt in der Beratungsqualität der Kundenberater liegen. Im Bereich des Underwritings geht der Trend in eine ähnliche Richtung. Aufgrund der zunehmenden regulatorischen und Compliance-bezogenen Vorgaben sowie der stetigen Weiterentwicklung der nachgefragten Grundfähigkeiten verändert sich dieses Spezialistenprofil nachhaltig. So ist der Underwriter zunehmend nicht mehr als teilautonomer Risikozeichner und -verwalter sowie als Unternehmer im Unternehmen zu betrachten. Vielmehr hat sich die Rolle hin zu einer Senior-Projektmanagement-Aufgabe entwickelt. Wo früher noch die Dreiecksbeziehung Unternehmen, Makler und Underwriting/Sales im Zentrum stand, hat sich mittlerweile eine Vielzahl an zusätzlichen internen und externen Stakeholdern dazugesellt, welche es durch das Underwriting- und Salesteam zu managen gilt. Gleichzeitig haben sich aber auch die Ansprüche an die technischen Fähigkeiten zur Bedienung einer Vielzahl an zusätzlichen Beurteilungs- und Rapportierungsinstrumenten erhöht und es werden ausgeprägtes Portfoliomanagement und Datenanalysefähigkeiten abverlangt. Zu erwähnen ist jedoch, dass dieser Wandel nebst all den aufgezeigten Herausforderungen zukünftig auch die grosse Chance birgt, ausserhalb vom üblichen Karrierepfad (Junior-UW bis UW-Manager) interessante Quereinsteigerprofile für diese spannende Aufgabe zu gewinnen und damit dem Mangel an entsprechenden Fachkräften entgegenzutreten.

Aktuell hat es die Branche, abgesehen von wenigen Ausnahmen, in der Schweiz aber noch nicht geschafft, der deutlich überdurchschnittlichen Fluktuation in den kundennahen Bereichen, welche das gesamte System vom Kunden über den Berater und Generalagenten bzw. Underwriter bis hin zu den zentralen Einheiten über die Dauer mürbe macht und die Reputation der gesamten Industrie negativ beeinflusst, Herr zu werden. Marketingtechnisch wertvolle und schön bebilderte Employer-Branding-Massnahmen seitens der Vertriebseinheit reichen dabei nicht mehr aus, um insbesondere das Berufsbild des Kundenberaters zu polieren und für den Arbeitnehmermarkt attraktiv zu machen. Viel zu lange arbeitet die Branche schon mit veralteten finanziellen Anreizsystemen, hierarchischen Strukturen und mangelnder Diversität. So ist der Anteil an internen Wechseln, Frauen oder Beratern mit höherem Bildungsabschluss trotz möglichen Spitzenlöhnen durch variable Anteile verschwindend gering – die neueren Generationen mit dem ihnen nachgesagten Sicherheitsbedürfnis vermögen diese Anreizsysteme nur noch bedingt anzusprechen.

Es bedarf einer fundamentalen Überarbeitung der Personalkonzepte 

Wie kann nun die Assekuranz, die sich in ihrem Kern der Absicherung von Risiken verschrieben hat, dem – aktuell als grösstes Unternehmensrisiko eingeschätzten – Fachkräftemangel (Deloitte, 2021) gegenübertreten, um ihre Wachstumsambitionen erfüllen und der erwähnten Mangellage bei Fachkräften Einhalt gebieten zu können? Die Antwort ist trivial und herausfordernd zugleich, denn die Versicherer müssen ihre Personalkonzepte und -strategien, die jahrzehntelang eingesetzt wurden, konsequent auf den Prüfstand stellen. Gleichzeitig sollte insbesondere in Bezug auf die kritischen Profile unternehmensinternes Silodenken aufgegeben und Talent Management als unternehmensweite Aufgabe und wichtiger Eckpfeiler der Unternehmensstrategie unter der Verantwortung der gesamten Geschäftsleitung betrachtet werden. Gerade in Bezug auf die hier dargestellten erfolgskritischen Funktionen bedarf es eines flexiblen und neu gedachten Ansatzes, der im Mindesten drei Kernbereiche umfassen sollte: (1) Analyse der Einstellungsbedarfe kritischer Funktionen inkl. Forecast, (2) Erarbeitung auf die Zielgruppe zugeschnittener, innovativer Rekrutierungsmethoden und (3) Bindung der bestehenden Talente bei einem echten Verständnis ihrer Bedürfnisse. Ohne auf die Vielzahl der möglichen Massnahmen im Detail einzugehen (siehe Infobox), sollten diese in der Versicherungsbranche insbesondere auf eine Verbesserung des, ehrlicherweise nicht allzu guten, Branchenimages abzielen. Die Versicherer sollten ausserdem bewusst in den Wettbewerb mit anderen – auf den ersten Blick als durchaus attraktiver wahrgenommenen – Branchen treten und dabei Investitionen in die IT-Infrastruktur (damit verbunden in ein innovativeres und dynamischeres Arbeitsumfeld) und die grundsätzlichen in der gesamten Branche bestehenden Transformationsvorhaben als überzeugendes Verkaufsargument für bestehende und künftige Arbeitnehmer nutzen. Im Zentrum muss jedoch als unbedingte Voraussetzung für die Etablierung einer wettbewerbsfähigen und damit zukunftssichernden Personalagenda eine kritische Analyse und Anpassung der veralteten Organisationsstrukturen stehen, die mit ihrer starren Hierarchie, tradierten Führungskultur und ihren prototypischen Führungsriegen bewahrt wurden und einem neuen Mindset als Grundlage für echte Arbeitgeberattraktivität im Wege stehen.

Umsetzungsvorschlag: Neues Netzwerkdenken in tragfähigen Ökosystemen

So steht nun den Schweizer Versicherern zusammenfassend die Aufgabe bevor, ihren Bedarf an fähigen und gut ausgebildeten Mitarbeitenden in einem sich transformierenden Marktumfeld zu decken, welches von diesen in der Breite gesuchten und umworbenen Profilen nicht genug zur Verfügung hat. Dabei werden unserer Meinung nach jene Versicherer als Sieger aus diesem «War for Talents» hervorgehen, die sich – nebst allen politischen Massnahmen und Brancheninitiativen – selbstverantwortlich ein nachhaltig tragfähiges Ökosystem an internen und externen Spezialisten aufbauen, um sich dieser Herausforderung proaktiv zu stellen. Die sich im Ökosystem befindenden Experten vereinen Markt-, Branchen- und Unternehmenswissen und können so personalstrategische Massnahmen spezifisch auf die Bedürfnisse des Auftraggebers in deutlich reduzierter Frist konzipieren, umsetzen und strukturell-kulturell begleiten. Last but not least besteht eine Hauptaufgabe dieser beratenden Experten darin, zusammen mit den Entscheidungsträgern der Branche, als Trusted Partner auf Augenhöhe und mit der benötigten Transparenz das entsprechende Optimierungspotenzial im Personalmanagement zu diskutieren, um auf dieser Basis ein gemeinsames Verständnis für den sense of urgency und die zukünftige Ausrichtung zu schaffen.

Infobox HR-Massnahmen

(1) Analytics
Trendanalyse, Bedarfsberechnung, Benchmarking gegen Wettbewerb, Big-Data-Analysen, qualitative Einschätzungen

(2) Sourcing
Klassisches Marketing, Social Media, Referral, Employer Branding, Hybride Einstellungsverfahren, Chatbots und KI-basierte Tools, Veranstaltungen und Messen, Gamification, Executive Search, Identifikation neuer Zielgruppen, überregionale Ansätze

(3) Retention
Mitarbeiterfeedback, Karriereentwicklung, flexible Arbeitsbedingungen, Re- und Upskilling, starke Führungspersönlichkeiten, Engagement und Anerkennung, Sinnhaftigkeit