Reformstau, zu hohe Medikamentenpreise, politisches Zögern: Nach der Ankündigung, dass die Krankenkassenprämien im kommenden Jahr um durchschnittlich 6.6 Prozent steigen, fallen die Kommentare in unterschiedlichen Schweizer Medien und besonders in der Westschweiz zum Teil recht massiv aus - ein Überblick.

Die «Neue Zürcher Zeitung» schreibt: «Der Prämienschock kommt zum schlechtesten Zeitpunkt. Die Bevölkerung spürt bereits die Folgen der geopolitischen Verwerfungen. Der Einkauf im Supermarkt, das Benzin, der Strom und das Gas: Alles ist teurer geworden in den letzten Monaten. Höhere Mieten und Hypothekarzinsen dürften bald folgen. Die Ausgaben für die Krankenkasse schränken den finanziellen Spielraum jener Mittelstandsfamilien ein, die gerade knapp soviel verdienen, dass sie keine Prämienverbilligungen mehr bekommen. (...) Es rächt sich, dass die Krankenversicherer und das Bundesamt für Gesundheit in den letzten beiden Jahren Prämien ausgehandelt haben, die die realen Kosten nicht deckten. Die Reserven der Kassen sind geschrumpft.»

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Die Westschweizer Tageszeitung «Le Temps» ordnet die Erhöhungen der Krankenkassenprämien 2023 so ein: «Es ist einfach, die Akteure im Gesundheitssystems zu kritisieren. Die Realität vor Ort ist komplexer. Die Gesundheitskosten werden weiter steigen. Der technologische Fortschritt in der Medizin, zu dem alle Zugang haben wollen, und die Alterung der Bevölkerung werden die Kosten weiter erhöhen. Es gibt jedoch Hoffnung, den Anstieg in den nächsten Jahren zu begrenzen. Das Parlament muss nur den Mut haben, sich für die Patientinnen und Patienten einzusetzen und nicht für die Akteure im Gesundheitswesen. Die beiden Krankenkassenverbände Santésuisse und Curafutura sollten ihre kindische Rivalität beenden und sich auf einen neuen Leistungstarif einigen. Der bisherig Tarmed-Tarif ist veraltet.»

Auch bei der Genfer Tageszeitung «Tribune de Genève» kommend die Prämienerhöhungen nicht gut an: «Die massive Erhöhung der Krankenkassenprämien ist eine politische Bankrott-Erklärung. Die Belastung für die Haushalte ist schon heute sehr hoch. Die Gründe für den Anstieg der Krankenkassenprämien sind seit Jahren bekannt, aber niemand hat bisher den Trend umkehren können. Als Folge davon müssen viele Menschen auf die medizinische Versorgung verzichten. Diese Tatsache ist eines reichen Staates - und dazu gehört die Schweiz - unwürdig.»

«Die Bevölkerung verliert allmählich die Geduld»

Krisenhafte Symptome beobachtet die Neuenburger Tageszeitung «ArcInfo»: «Wie weit wollen wir gehen und zulassen, dass uns die Früchte des öffentlichen Gesundheitswesens verrotten? Die Covid-Pandemie hat ohne Zweifel Spuren hinterlassen. Der Kern des Problems liegt jedoch an einem anderen Ort. Das ganz System ist an Grippe erkrankt. Die Schachzüge der Akteure im Schweizer Gesundheitswesen sind undurchsichtig. Und die Pharmabranche nutzt ihre Macht mit schamlos aufgeblähten Margen aus. Das alles sind Symptome der Krise. Und die Politik scheint angesichts dieser Ränkespiele machtlos zu sein. Die Bevölkerung verliert allmählich die Geduld.»

Änderungen in der Preispolitik für Medikamente fordert der «Walliser Bote»: «Ein Inflationsschub, eine unsichere Energie-Situation, steigende Mieten und Hypothekarzinsen. Wir erleben derzeit eine Kumulation an ungünstigen Entwicklungen, die in der Bevölkerung für grosse Verunsicherung sorgt. Und nun folgt der Prämienschock der Krankenkassen. (...) Die Kosten für die Krankenversicherung belasten insbesondere die Haushaltsbudgets des unteren Mittelstandes massiv, weil dieser gerade soviel verdient, dass er nicht mehr von den Prämienverbilligungen profitieren kann. (...) Ein Kostentreiber sind die Medikamentenpreise. Im Vergleich zum Ausland werden hierzulande doppelt so hohe Generika-Preise bezahlt. Das muss sich ändern. Die Politik muss den Reformstau endlich lösen.»

Kosteneinsparungen mahnt die «Südostschweiz» an: «Ob wir wollen oder nicht, wir müssen uns mit den Krankenkassenprämien 2023 beschäftigen. Sei es, um herauszufinden, ob wir die Policen anpassen wollen. Oder sei es, in dem wir die längst angekündigte Kröte schlucken und den durchschnittlichen Prämienanstieg von 6,6 Prozent oder rund 20 Franken pro Monat und Person bezahlen. Die Prämien seien das Spiegelbild der Kosten, sagte Anne Lévy, die Direktorin des Bundesamtes für Gesundheit, vor den Medien. Und: wenn die Kosten weiter steigen, ist auch ein Anstieg bei den Prämien zu erwarten. Umgekehrt braucht es aber auch mehr Bemühungen, um Kosten einzusparen und zu senken. Dann müssten auch die Prämien sinken. Oder zumindest nicht steigen. (...) Dennoch gibt es auch eine gute Nachricht: Wer Geld sparen will, kann die Grundversicherung wechseln. Jedes Jahr.»

Die CH-Media-Zeitungen schreiben zu den Erhöhungen der Krankenkassenprämien für 2023: «Das Fieber des schweizerischen Krankenversicherungswesens steigt. Durchschnittlich 334 Franken pro Monat kosten die Krankenkassenprämien nächstes Jahr - ein Aufschlag um über 20 Franken. Das setzt nicht nur gering Verdienende gehörig unter Druck, sondern zunehmend auch den Mittelstand. Die Begründung des Bundesrats für den hohen Anstieg ist nur teilweise schlüssig. Dass die Pandemie gekostet hat und wegen ihr verschiedene Leistungen verschoben werden mussten, ist am ehesten nachvollziehbar. Die älter werdende Bevölkerung und zu teure Medikamente sind aber längst bekannte Ursachen und erklären steigende Prämien nicht allein. Der Reformdruck war bis jetzt zu klein, um das Kostenwachstum zu bremsen. (,..) Es braucht mehr Druck, um den Reformstau zu lösen.»

Die «Pflästerlipolitik» kritisieren die Tamedia-Zeitungen: «Wir werden älter. Und wir bleiben gesünder. Eine erfreuliche Entwicklung - doch daran krankt unser Gesundheitssystem. Die Kosten steigen unaufhörlich; derzeit verschlingt es über 80 Milliarden Franken pro Jahr. Allein die mit Prämien finanzierte Grundversicherung macht 36 Milliarden Franken aus. Vor diesem Hintergrund ist der diesjährige Prämienschock bei den Krankenkassen heilsam. Die Prämienerhöhungen von durchschnittlich 6,6 Prozent werden zwar viele Menschen in Schwierigkeiten bringen. Aber sie zwingen uns auch zum Realitätscheck. (...) Der Druck auf die Politik steigt. Um die Kosten einzudämmen, braucht es jetzt endlich strukturelle Reformen. Pflästerli und die immer ausgedehnteren Prämienverbilligungen reichen nicht.» (sda/hzi/mig)