Der Sparstrumpf schien ausgerottet. Ein Relikt aus längst vergangenen Jahrzehnten. Der Sparstrumpf war das Synonym für muffiges Hinterwäldlertum. Doch er erlebt eine absurde Renaissance. Europaweit scheinen die Bürger Bargeld zu Hause zu bunkern.

Sichtbar wird das an der rasant steigenden Zahl von Münzen und Scheinen und dem Boom an Tresoren. Trotz Digitalisierung und bargeldlosem Bezahlen ist der Bargeldumlauf in der Schweiz, aber auch in der Euro-Zone auf Rekordhoch.

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Ein Grund ist die neue Zinswelt, die geradezu absurde Züge angenommen hat. Wie absurd – das zeigt die Schweiz. Als erstes Land überhaupt weisen Staatsanleihen aller Laufzeiten eine negative Verzinsung aus.

Zuletzt war die Rendite der fünfzigjährigen Eidgenossen, wie die Titel heissen, in den negativen Bereich gerutscht. Wer sein Geld dem Schweizer Staat anvertraut, muss für dieses Privileg zahlen, unabhängig davon, wie lange er es verleiht. Mit minus 1,1 Prozent fällt die Gebühr für dreijährige Schweizer Titel besonders heftig aus.

Starke Nachfrage nach Bargeld ist kein Wunder

Auch in Deutschland greift der Minuszins immer stärker um sich. Hierzulande weisen Bundesanleihen mit einer Laufzeit von bis zu 15 Jahren eine negative Rendite auf. Banken und Sparkassen nehmen zwar noch keine Strafzinsen, erhöhen aber die Kontoführungsgebühren. In diesem Umfeld ist der Sparstrumpf für viele Bürger eine geradezu rationale Entscheidung.

«Bei Tief- beziehungsweise Negativzinsen hält man besser Bargeld als Guthaben bei Banken», sagt Thorsten Polleit, Chefökonom von Degussa Goldhandel. «Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Bargeldnachfrage steigt.»

Die Schweiz kann wegen der flächendeckenden Minuszinsen geradezu als Modellnation der neuen Zinswelt gelten. Insgesamt sind Noten in einem Wert von 67,4 Milliarden Schweizer Franken im Umlauf. Damit ist die Zahl der Banknoten seit 2008 sprunghaft gestiegen.

Ein Teil davon ist auf das Wirtschaftswachstum zurückzuführen. Denn das Bargeldvolumen wächst bei einem höheren Bruttoinlandsprodukt automatisch. Doch das Gros des Zuwachses geht auf die Renaissance des Sparstrumpfes zurück.

Eine Million Schweizer Franken wiegen nur 1,14 Kilogramm

«Seit 2008 hat Bargeld als Wertaufbewahrungsmittel wieder an Bedeutung gewonnen», heisst es bei der Schweizerischen Nationalbank. Ein klares Indiz sei die starke Zunahme grosser Scheine. «Die erhöhte Nachfrage nach Banknoten lässt sich unter anderem auf das anhaltend tiefe Zinsniveau zurückführen. Zudem haben die Finanzmarktkrise und die Staatsschuldenkrise zu einer erhöhten Attraktivität der Bargeldhaltung beigetragen», so die Schweizer Währungshüter.

Gemessen an der Wirtschaftsleistung beträgt der Banknotenumlauf gut zehn Prozent, so viel wie seit den 1980er-Jahren nicht mehr. Dabei war die Bedeutung von Bargeld über Jahrzehnte rückläufig. Quasi seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging die Quote zurück, von gut 25 Prozent auf zwischenzeitlich rund sieben Prozent.

Doch seit der Finanzkrise horten die Bürger wieder Bargeldnoten. Der 1000-Franken-Schein erlebt einen regelrechten Run. Obwohl der Schein in vielen Geschäften gar nicht akzeptiert wird, macht er inzwischen rund 62 Prozent am gesamten Bargeldaufkommen des Alpenlandes aus.

«Wenn ich dem Staat für die Wertaufbewahrung Geld bezahlen muss, ist Bargeld eine gute Alternative», sagt Unternehmensberater Daniel Stelter, der ein Buch über die neue «Eiszeit der Weltwirtschaft» verfasst hat. Die Welt sei gefangen in einem System, das immer niedrigere Zinsen brauche, um den Schuldenkollaps abzuwenden.

«Der Schweizer Franken ist mit Gold die effizienteste Lagerform nach Volumen», sagt Stelter. Tatsächlich wiegen eine Million Schweizer Franken gerade mal 1,14 Kilogramm, wenn man ausschliesslich die «Ameisen» nutzt, wie die 1000-Franken-Scheine umgangssprachlich auch genannt werden.

Der Verkauf von Tresoren boomt wie nie

Doch auch die Bürger der Euro-Zone haben den Sparstrumpf wiederentdeckt. Hier ist der Bargeldumlauf gemessen an der Wirtschaftsleistung ebenfalls kräftig gestiegen; lag die Quote zur Euro-Einführung noch bei fünf Prozent und fiel sie später bis auf vier Prozent zurück, entspricht das Volumen der Euro-Scheine aktuell 10,2 Prozent.

Kein Wunder, dass der Verkauf von Tresoren boomt wie nie. Zwar existieren keine verlässlichen Branchenzahlen. Allerdings berichten Händler von florierenden Geschäften. «Allein seit dem Herbst verzeichnen wir ein Umsatzplus von 20 Prozent», sagte etwa Franz-Josef Zimmermann, der Vertriebschef von Hartmann Tresore AG, zuletzt dem "Stern".

Nicht anders ist es bei Konkurrenten wie Burg-Wächter oder Eisenbach Tresore, wo Umsatz und Stückzahl zweistellig wachsen. «Wir feiern hier alle drei Wochen Umsatzrekorde», sagte Eisenbach-Vertriebsleiter Karsten Gottschall dem «Stern». «Vor drei Jahren waren rund zwei Drittel unserer Kunden Geschäftsleute und ein Drittel Privathaushalte – heute ist es umgekehrt.»

«Ausgeschlossen, dass das System jetzt noch zu retten ist»

Die Notenbanken werden die Renaissance des Sparstrumpfes mit Argusaugen betrachten. Denn sie sind massgeblich verantwortlich für die verrückte Zinswelt. Mit Minuszinsen sollten Unternehmen, Banken und Verbraucher davon abgehalten werden, das Geld zu horten. Sie sollten es in der Realwirtschaft ausgeben und damit die Konjunktur ankurbeln.

Doch der Strafzins, den die Währungshüter in der Schweiz oder aber bei der EZB nehmen, funktioniert nur, wenn die Menschen sich nicht der indirekten Sparersteuer entziehen, indem sie ihr Geld vom Konto abheben und unter der Matratze oder im Safe lagern. Mario Draghi könnte also mit seinem Strafzins am Sparstrumpf massgeblich gestrickt haben.

So erklärt sich nach Meinung von Stelter auch die Abschaffung der 500-Euro-Note oder die Diskussion zur generellen Einschränkung von Bargeld. Auch der Wirtschaftswissenschaftlicher Max Otte wittert in der Abschaffung der Scheine ein Programm: «Ohne Bargeld lässt sich die Entschuldung der Staaten, die Enteignung der Sparer und der Neustart unseres Finanzsystems viel einfacher durchführen», schreibt er in seinem Buch «Rettet das Bargeld». Ein Neustart müsse kommen. «Es ist ausgeschlossen, dass das System jetzt noch zu retten ist.»

Dieser Artikel erschien zuerst in der «Welt» unter dem Titel «Warum die Schweizer immer mehr ‹Ameisen› horten».