Selbst wenn dieses Jahr heute enden würde, könnte es ohne Probleme mit den bisher schwierigsten Zeiten im internationalen Handelssystem konkurrieren. Doch die nächsten dreieinhalb Monate könnten weitere Störungen mit sich bringen und 2020 den Platz als turbulentestes Jahr der modernen Geschichte sichern.

Risiken auf der Agenda gehen nicht nur von den US-Wahlen und dem Brexit aus, sondern auch vom WTO-Konflikt um Airbus und Boeing, der Nachfolgefrage an der Spitze der Welthandelsorganisation und dem Ringen um eine Besteuerung von Digitalunternehmen.

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«Es ist keine Frage, die nächsten drei Monate werden für den Welthandel entscheidend sein», sagt Edward Alden, Fellow beim Council on Foreign Relations. Die Zunahme des Protektionismus erinnere an die Zeit vor der Weltwirtschaftskrise, die Echos der 1930er Jahre seien recht deutlich zu hören.

1. WTO-Flugzeugstreit

Ein WTO-Schlichtungsgremium wird in Kürze entscheiden, ob und inwieweit die Europäische Union Vergeltungsmaßnahmen gegen die USA wegen illegaler Subventionen für Boeing ergreifen kann.

Die EU hat bei der WTO um die Genehmigung ersucht, Zölle auf US-Produkte im Wert von 11,2 Milliarden Dollar erheben zu dürfen. Informierten Kreisen zufolge wird die Zahl, die grünes Licht erhält, darunter liegen - und womöglich noch viel niedriger ausfallen als die 7,5 Milliarden Dollar, die den USA im Parallel-Disput um EU-Subventionen für Airbus SE zugesprochen wurden.

Die Entscheidung könnte in einigen Wochen fallen und, so die Hoffnung, US-Verhandlungen zur Beilegung eines 15 Jahre währenden Streits bewirken. Eine Einigung wäre eine große Erleichterung für die europäischen Exporteure, die derzeit mit hohen US-Vergeltungszöllen konfrontiert sind, und auch für die US-Industrie, die sich bald den von der WTO genehmigten EU-Zöllen gegenüber sehen könnte.

2. US-Präsidentschaftswahl

Das wohl wichtigste Thema im Welthandel in diesem Jahr ist - neben der weiteren Entwicklung der Corona-Pandemie - die Möglichkeit, dass US-Präsident Donald Trump im November für eine zweite Amtszeit wiedergewählt werden könnte.

Schafft er es, werden die USA wahrscheinlich die Zölle für Produkte ausländischer Handelspartner erhöhen, um die Lieferketten zurück nach Amerika zu holen und zu diversifizieren. Dies gilt besonders für Medizinprodukte.

Wie Trump am Montag bei einer Pressekonferenz deutlich machte, wäre eine zweite Amtszeit höchstwahrscheinlich mit einer Eskalation des geopolitischen Konflikts mit China verbunden. Trump macht die Volksrepublik für die Ausbreitung der Corona-Pandemie verantwortlich, und auch für die ökonomische Misere der USA.

«Wenn Trump gewinnt, erwarten Sie mehr vom gleichen - eine Achterbahnfahrt voller Volatilität, Drohungen und Zölle», sagt William Reinsch vom Thinktank Center for Strategic and International Studies, der in der Clinton-Regierung als Wirtschaftsexperte fungierte. Zur Möglichkeit eines Siegs des Demokraten Joe Biden sagt er: «Er hat bereits gesagt, dass der Handel in den Hintergrund treten wird, während er sich mit der Pandemie und der Wirtschaft befasst.»

3. WTO-Führungsrennen

Die WTO-Mitgliedsstaaten stehen vor der Aufgabe, sich auf einen neuen Chef für die geschwächte Organisation zu einigen. Zurzeit ist die WTO führerlos. Der vorzeitige Abgang von Roberto Azevedo am 31. August hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt kommen können. Die Funktion der WTO als Streitschlichter ist gestört, ihre Verhandlungsmöglichkeiten sind weitgehend gelähmt, und die Organisation beginnt, im Kampf zwischen den USA und China um die Vorherrschaft im Handel einzuknicken.

Im Zentrum der komplexen und intransparenten Überlegungen der WTO steht eine «Troika» von Handelsbotschaftern, die mit jedem der 164 WTO-Mitgliedsländer Konsultationen abhalten, um einen Konsenskandidaten auszuwählen. Wenn sich die WTO-Mitglieder nicht auf einen Chef einigen können, bleibt als letztes Mittel eine Abstimmung, die eine qualifizierte Mehrheit erfordert. In der 25-jährigen Geschichte der Organisation wäre das ohne Beispiel.

«Die WTO befindet sich in einer schwierigen Lage und würde enorm von einem Reformer profitieren, der bereit ist, die Länder zu Veränderungen zu bewegen», sagt Clete Willems, Partner bei Akin Gump und ehemaliges Mitglied der Trump-Administration.

4. Streit um Digitalsteuer

Die USA und Europa laufen auf einen Handelskonflikt um die Auslandsbesteuerung von US-Technologieunternehmen wie Facebook und die Alphabet-Tochter Google zu. Einerseits wollen klamme Regierungen in Europa und anderswo neue Digitalsteuern für ausländische Unternehmen erheben, die in ihren Hoheitsgebieten enorme Einnahmen erzielen. Die Trump-Regierung argumentiert indessen, solche Steuern würden amerikanische Unternehmen diskriminieren und droht mit Vergeltungszöllen, die die weltweite Rezession noch verschlimmern könnten.

Zwar haben sich die Staaten bei der OECD in Paris um eine Lösung des Konflikts bemüht, doch im Juni haben sich die USA aus den Gesprächen zurückgezogen. Der für Handel zuständige Vertreter Amerikas hat Zölle für knapp ein Dutzend Länder angekündigt, falls es in diesem Jahr kein Abkommen geben sollte.

5. Brexit

Zum Jahresende treten zwischen Grossbritannien und der Europäischen Union erhebliche neue Handelshemmnisse in Kraft. Grund dafür ist, dass Grossbritannien den EU-Binnenmarkt und die Zollunion verlässt. Auf britische Exporteure kommt deshalb zusätzliche Bürokratie zu, und das könnte zu Verzögerungen an den Grenzen führen.

Dies wird unabhängig davon geschehen, ob Grossbritannien mit der EU eine Einigung über die zukünftigen Wirtschaftsbeziehungen erzielt. Kommt es zu keinem zoll- und quotenfreien Abkommen, dann unterliegen britische Exporte den von der WTO ausgehandelten Bedingungen. Das würde für Kosten, Kontrollen und Bürokratie sorgen, wie es sie in den letzten Jahrzehnten nicht gegeben hat.

(bloomberg/mlo)