Ein Programm zur Förderung der Konjunktur, ein staatlicher Stromstoss zum Wiederbeleben der Nachfrage, sinkende Zinsen zur Stabilisierung des wackelnden Immobiliensektors – Chinas Nationalbank und Regierung greifen dieser Tage auf die Rezepte der Keynesianer zurück, um ihre Wirtschaft anzuregen. Anders, so glauben sie, könnte das Ziel von 5 Prozent Wachstum in Gefahr geraten.
In der Tat: Nach dem jüngsten Bericht der OECD könnte Chinas Wachstum 2024 unter die 5-Prozent-Marke fallen. Doch gemessen an den Wirtschaftsleistungen anderer Staaten wäre das immer noch eine phänomenale Leistung. Chinas Bruttoinlandsprodukt betrug im vergangenen Jahr 17,78 Billionen Dollar. 5 Prozent Wachstum darauf wären über 880 Milliarden Dollar. Das wäre mehr als die gesamte Wirtschaftsleistung der Schweiz – zusätzlich gewonnen in einem einzigen Jahr. Also: Wenn es in China dieses Jahr schlecht läuft, legt China 2024 einmal die Schweiz zu. Oder einen Viertel von Deutschland, das laut OECD zum dritten Mal in Folge gar nicht wachsen wird. Anders ausgedrückt: Wenn die Chinesen viermal hintereinander nur mit 5 Prozent wachsen und die Deutschen mit null Prozent, entsteht in China in weniger als einem halben Jahrzehnt zusätzlich einmal die ganze Wirtschaftskraft Deutschlands. Eine eindrucksvolle Leistung.
Der Gastautor
Christoph Keese ist Verwaltungsratspräsident von WORLD.MINDS sowie Unternehmer und Unternehmensberater aus Berlin. Der Autor von sechs Büchern schreibt monatlich in der «Handelszeitung».
Für Häme, Schadenfreude oder übertriebene Sorge ist es in Sachen China also zu früh. Nach wie vor gelingt es den Chinesen durch geschickte Strategie, eine Branche nach der anderen erst ins Land zu holen und dann zu dominieren. Solche Erfolge sind es, die hinter dem Wirtschaftswachstum stehen. Jüngstes Beispiel ist die Raumfahrt. Eine neue Studie des amerikanischen Technologieunternehmens Brycetech listet die Fortschritte Chinas in der Raumfahrt auf. Man sollte sie mit Bedacht lesen und überaus ernst nehmen, denn ganz ähnlich hatte die Dominanz Chinas etwa schon bei Solartechnologie, Drohnen oder Elektroautos begonnen.
Von 9990 aktiven Satelliten, die derzeit durch das Weltall kreuzen, kommen inzwischen 8 Prozent aus China. Ein enorm hoher Prozentsatz, wenn man bedenkt, dass China Raumfahrt erst seit Kurzem ernsthaft betreibt. Von den 800 chinesischen Himmelskörpern stehen 91 auf geostationären Laufbahnen, also in weiter Entfernung von der Erde auf festen Punkten über uns, und 672 kreisen in erdnahen Orbits knapp über der Erdoberfläche. Zwei Drittel der erdnahen Satelliten widmen sich der Erdbeobachtung und Navigation. China sieht dadurch aus dem All inzwischen fast genauso viel und vor allem fast genauso scharf und detailreich wie die Amerikaner. Und durch ihre satellitengestützten Navigationssysteme können die Chinesen alles, von Autos über Drohnen bis zu Raketen, fast genauso präzise leiten wie die USA. Durch diese Technologie wächst Chinas geopolitisches Potenzial weiter an.
Noch führen die Amerikaner durch Starlink von Space X bei der erdnahen Telekommunikation mit extrem kurzen Latenzzeiten. Doch auch in diese Lücke wird China bald vorstossen, 54 chinesische Startups haben in den vergangenen zehn Jahren 3,3 Milliarden Dollar Wagniskapital eingesammelt. Diese Innovatoren arbeiten auf allen Stufen der Wertschöpfung – von Startrampen über Raketenbau und Satellitenfertigung bis hin zu Satellitenbetrieb und Wartungsarbeiten im All. China wird in Sachen Raumfahrt bald autonom sein, so wie heute schon bei den Drohnen. Zugleich pumpt die Regierung Milliarden in ehrgeizige Programme zur Ausweitung der Einflusssphäre. Drei chinesische Missionen sind auf dem Mond gelandet, drei chinesische Satelliten umkreisen den Mond, eine chinesische Mission bricht zum Mars auf.
Dies geschieht in Zeiten, in denen Boeing es nicht schafft, zwei Astronauten mit seiner Pannenkapsel Starliner von der Internationalen Raumstation zurück auf die Erde zu bringen. Und in der Mario Draghi mit seinem Bericht für die EU-Kommission die Europäer daran erinnern muss, dass sie mit ihrer Technologie- und Wachstumsschwäche gerade auf gutem Wege sind, ihre Zukunft zu verspielen. Ausgesprochen lesenswert ist der Draghi-Report übrigens. Eine glänzend recherchierte, mutig formulierte Studie auf höchstem inhaltlichen Niveau.
Europa sollte sich mithin nicht freuen über Chinas Wachstumsschwäche, sondern die enormen Leistungen dort weiterhin ernst nehmen. Und entschlossen daran arbeiten, das eigene Niedrigwachstum zu überwinden. Gerade werden die Chancen und Branchen der Zukunft verteilt, und wir sitzen in den hinteren Reihen.