Kaum ein wirtschaftspolitisches Thema wird seit zwei Jahrzehnten so kontrovers diskutiert wie die Globalisierung. Viele Schweizerinnen und Schweizer verbinden damit vor allem das rasante wirtschaftliche Wachstum der Schwellenländer, die zu bedrohlichen Konkurrenten der hiesigen Industrie aufgestiegen sind und hierzulande Arbeitsplätze gefährden.

Die Globalisierung der vergangenen Jahrzehnte ist tatsächlich geprägt vom rapide wachsenden Austausch von Rohstoffen, Zwischenerzeugnissen und Endprodukten: Baumwolle wird in Indien gepflückt, in England veredelt, in Südostasien zu Tuch verarbeitet und schliesslich in der Schweiz als Wintermantel verkauft. In diesem Zuge wuchs der globale Handel von Waren und Dienstleistungen in den vergangenen zwei Dekaden bis zur Finanzkrise um durchschnittlich 6,5 Prozent pro Jahr, wie Zahlen des Niederländischen Amts für wirtschaftspolitische Analyse (CPB) zeigen. Die weltweite Wirtschaftsleistung hingegen legte in dieser Zeit nur um knapp 2,8 Prozent zu – also nicht einmal halb so stark.

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Seit zwei Jahren wächst der globale Handel nur noch leicht

Die Finanzkrise hat dieses Verhältnis von Handel und Industrie indes aus den Angeln gehoben. Nach der Erholung von der tiefen globalen Rezession Anfang 2009 wird klar: Die Globalisierung hat ihr Gesicht verändert. Seit zwei Jahren hat sich das Handelswachstum rapide abgeschwächt. Die monatlichen Zuwachsraten liegen seit Herbst 2011 nur mehr bei gut 0,1 Prozent, wie neue Zahlen der Zürcher Konjunkturforschungsstelle Kof zeigen. In der Vorkrisenzeit gab es hingegen Zuwachsraten von deutlich über 0,5 Prozent. Zwar legt auch die Industrieproduktion seit der Finanzkrise rund um den Globus schwächer zu – doch der Unterschied ist weit weniger bedeutend, wie Kof-Forscher Heiner Mikosch herausgefunden hat (siehe Grafik).

«Unsere letzten Analysen zeigen, dass der Welthandel noch immer sehr schwach ist, die Wirtschaft aber an Fahrt aufnimmt», sagt auch Andrew Kenningham, Ökonom bei der Londoner Researchfirma Capital Economics. Seiner Kalkulation zufolge dürfte der Welthandel in diesem Jahr lediglich um rund zwei Prozent zunehmen. «Das wäre das zweite Jahr in Folge, dass der Handel schwächer als die globale Produktion wächst.»

Noch sind Experten unschlüssig, ob es sich bei diesem Phänomen um einen strukturellen Bruch handelt – oder lediglich eine vorübergehende Handelsflaute. Vor allem der Euroraum ist von einer Handelsschwäche geprägt, sagt Kof-Forscher Mikosch.  «Diese könnte noch andauern, da sich die südeuropäischen privaten und öffentlichen Haushalte aufgrund ihrer angespannten Finanzsituation in Importzurückhaltung üben.» Ein Grund dafür ist die lange Rezession. Anders herum bedeutet das aber: Wächst Europas Wirtschaft wieder, stehen die Chancen gut, dass auch der Handel sich wieder erholt.

China will, dass eigene Unternehmen den Konsumhunger stillen

Eine unbekannte Variable bleiben jedoch die Schwellenländer. China will sich von Investitionen und Exporten als Hauptwachstumstreiber lösen. Gleichzeitig sollen die heimischen Unternehmen stärker den eigenen Konsumhunger stillen. Diese Umstellung dürfte noch Zeit in Anspruch nehmen und sich erst in einigen Jahren manifestieren, sagt Domagoj Arapovic, Experte für Weltwirtschaft bei Raiffeisen Schweiz. «Aber in einigen Jahren könnte das Land mehr für den heimischen Markt und weniger für die Weltwirtschaft produzieren», glaubt er.

Auch europäische Unternehmen reagieren auf die tektonische Verschiebung der Weltwirtschaft. Für viele grosse Autohersteller ist China mengenmässig inzwischen der wichtigste Absatzmarkt. Die Fahrzeuge werden bereits heute in den Werken vor Ort produziert. Inzwischen sehen sich auch immer mehr Zulieferer genötigt, den grossen Abnehmern ins Ausland zu folgen. Ein Beispiel ist etwa der Druckguss-Hersteller DGS aus St. Gallen, der schon 2007 nach China expandierte. Für Firmenchef Andreas Müller ein logischer Schritt, wie er in einem Interview einmal sagte: Deutsche Hersteller bauten immer mehr Fabriken in Asien und in Nordamerika, und Zulieferer gingen einfach mit. «Wenn wir nicht den Gang nach China gewagt hätten, hätten wir einige Aufträge in den letzten zwei Jahren nicht erhalten», so Müller im Frühjahr im SRF.

Chinas Industrie baut jetzt eigene Hochgeschwindigkeitszüge

Hinzu kommt: Das Thema Outsourcing verliert zunehmend an Bedeutung. Wer es sich leisten konnte, verlagerte in den letzten beiden Jahrzehnten arbeitskostenintensive Produktionsschritte in asiatische Billiglohnländer. In China und anderen asiatischen Schwellenländer steigen die Löhne inzwischen jedoch rapide. «Immer öfter lohnt es sich für multinationale Konzerne wieder auf dem Heimatmarkt zu produzieren», sagt Raiffeisen-Experte Domagoj Arapovic. Das gilt heute oft für Bekleidungshersteller. So schloss etwa der Schweizer Unterwäschehersteller Calida bereits ein Werk in China und lässt inzwischen in Ungarn herstellen.

Eine Rolle spielt dabei die zunehmende Sensibilisierung beim Thema Industriespionage. Bestes Beispiel ist der Schienenverkehr: Arbeiteten etwa Siemens und Peking beim Ausbau der ersten Hochgeschwindigkeitstrasse noch zusammen, verfügen Chinas Unternehmen inzwischen über ausreichend Know-How, um alleine zu bauen. Für die vor knapp einem Jahr eingeweihte längste Schnellstrecke der Welt – immerhin 2300 Kilometer von Peking nach Kanton – braucht der chinesische Zug nur noch acht Stunden.

Schweizer Exporteure könnten Probleme bekommen

Die Konjunkturexperten der Kof interpretieren die seit 2012 beobachtete Schwäche der Schweizer Exporte heute noch nicht als strukturelles, sondern primär konjunkturelles – also vorübergehendes – Phänomen. Kof-Ökonom Mikosch beschwichtigt: «Selbst wenn der Welthandel mittelfristig schwächer wächst als vor 2008, heisst das nicht, dass sich die Schweizer Exporte schwächer entwickeln.»

Andere Fachleute sind skeptischer. Volkswirtschaften mit einem hohen Offenheitsgrad – wie die Schweiz – dürften es bei einer strukturellen Abschwächung der Handelsströme automatisch schwerer haben, glaubt Raiffeisen-Ökonom Arapovic. «Für die Schweiz oder auch Deutschland ist diese Entwicklung zwar keine Katastrophe – erschwert das Leben aber deutlich», glaubt Kenningham von Capital Economics.