Das Ende der Pandemie naht und deren Folgen für Einstellungen und Konsumverhalten werden immer deutlicher. Unternehmen sollten sich vom Szenario «Rückkehr zur Normalität» verabschieden und sich auf eine neue Ära einstellen.

Der Resilienz-Irrtum

Im Kontext der Pandemie wird immer wieder die Qualität der Resilienz beschworen. Darum geht es aber in dieser Krise nicht. Resilienz bezeichnet die Fähigkeit, nach einer Störung wieder zum Ausgangszustand zurückzukehren. Das war vielleicht nach der Finanzkrise der Fall. Was wir aber jetzt erleben, ist eine Art Gegenthese zur Resilienz: eine Metamorphose.

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Viele Verhaltensweisen werden sich grundlegend und irreversibel verändern. Homeoffice wird beispielsweise ebenso verankert wie Contactless-Schnittstellen und das neue Niveau beim Online-Shopping.

Die «Linear-Illusion»

In vielen Bereichen kommen wir jetzt an einen Tipping-Point. Dieser bezeichnet das abrupte Abbrechen oder Beschleunigen einer bisher linearen Entwicklung. Und genau hier liegt eine Gefahr für Entscheiderinnen und Entscheider in Unternehmen. Wir haben eine natürliche Tendenz, der «Linear-Illusion» zu erliegen.

Durch drei Punkte legen wir instinktiv eine Gerade und minimieren die Abstände. Oft liegt aber eine Kurve dahinter und wir verpassen eine exponentielle Entwicklung. Gerade jetzt lohnt es sich in vielen Bereichen, exponentiell zu planen – sollte die Entwicklung «nur» linear sein, ist man so oder so gut gerüstet. Nachfolgend sieben Thesen zu Veränderungen, bei denen wir 2022 einen Tipping-Point sehen könnten:

Unternehmen brauchen eine Social Licence to Operate

Die Finanzmärkte erhöhen angesichts des sprunghaft gestiegenen Nachhaltigkeitsbewusstseins den Druck auf Unternehmen. Diejenigen, die nicht nachhaltig wirtschaften, werden immer häufiger abgestraft. Nachhaltigkeitsthemen werden Corona-Themen schnell wieder ablösen und die gesellschaftliche und politische Agenda bestimmen.

Über den Autor

Dominique von Matt ist Verwaltungsratspräsident der Branding- und Kommunikationsagentur Jung von Matt.

Mit dem Resultat, dass der Footprint einer Marke die Markenpräferenzen noch direkter beeinflusst. Eine aktuelle Studie zeigt, dass 88 Prozent der Konsumentinnen und Konsumenten im DACH-Raum Marken bevorzugen wollen, die einen aktiven Beitrag zur Lösung globaler Probleme leisten. In einer Gesellschaft, die Nachhaltigkeit und Sinnstiftung so stark gewichtet wie nie zuvor, ist ein entsprechendes Engagement Pflicht.

Bezeichnend ist, dass die ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) bereits heute direkt Eingang in die Markenwert-Berechnungen finden. Auf die digitale Transformation folgt die Nachhaltigkeitstransformation.

Das Vertraute gibt uns Sicherheit zurück

Die massive Verunsicherung – wir sind immerhin durch eine Art kollektive «Nahtod-Erfahrung» gegangen – führt zu einer Rückkehr zum Vertrauten: Der Edelman Trust Barometer von 2021 zeigt dieses Comeback eindrücklich. Wenn man die Deutschen nach dem Vertrauen in die regelmässig genutzten Marken fragt, hat sich dieses zwischen 2018 – also vor der Pandemie – und 2020 verdoppelt.

Viele Menschen misstrauen der Kakofonie der sozialen Medien und kehren zum Qualitätsjournalismus zurück.

Dominique von Matt

Die starken Medienmarken beispielsweise sind gefragt wie nie. Viele Menschen misstrauen der Kakofonie der sozialen Medien und kehren zum Qualitätsjournalismus zurück. Diesen Trend hin zu etablierten, starken Marken, die Marktanteile zurückgewinnen, sehen wir aktuell in sehr vielen Märkten. So haben in Deutschland bei den «Fast-Moving Consumer Goods» die renommierten Markenartikel 2020 13 Prozent zugelegt, die Handelsmarken lediglich 8 Prozent. Die Marke und damit die exzellente Markenführung gewinnt weiter an Bedeutung.

Die Heimatliebe erlebt ein Revival

Wenn man die Schweizerinnen und Schweizer 2021 gefragt hat, was sie an ihrem Einkaufsverhalten nach der Corona-Krise verändern werden, kommt der Kauf von Schweizer Produkten an erster Stelle. Dahinter steht mehr als nur eine temporäre Präferenz: Wir erleben aktuell nicht nur eine Deglobalisierung der Lieferketten, sondern auch eine Deglobalisierung im Kopf.

Spätestens als Deutschland eine Markenlieferung für die Schweiz blockierte, wurde jeder Schweizerin und jedem Schweizer klar, dass de Gaulle mit seiner Aussage «Nationen haben keine Freunde, nur Interessen» recht hatte.

Wir erleben aktuell nicht nur eine Deglobalisierung der Lieferketten, sondern auch eine Deglobalisierung im Kopf.

Dominique von Matt

Das führt zu einem gewissen Misstrauen gegenüber dem Ausland und damit gleichzeitig zu einem Erstarken der Heimatliebe. Gleichzeitig setzt sich das Bewusstsein durch, dass der Konsum von Schweizer Produkten wegen der kürzeren Transportwege nicht nur ökologischer ist, sondern auch zur sozialen Nachhaltigkeit beiträgt, indem er Arbeitsplätze in der Schweiz schafft.

Die Community ist das Kapital

Die Online-Communitys haben in der Pandemie, die den persönlichen Austausch behindert hat, nochmals sprunghaft an Bedeutung gewonnen. Die Bindung an diese sich selbst verstärkenden «Bubbles» wird immer stärker. Für Unternehmen ergeben sich daraus Chancen, weil eine aktive Community immer häufiger den relevanteren Wettbewerbsvorteil schafft als die Produktionskompetenz, die oft auch als «White Lable» eingekauft werden kann.

Ein typisches Beispiel dafür ist das Musiklabel Universal Music. Es hat den bekanntesten Rapper Deutschlands, Capital Bra, unter Vertrag, der auf Instagram 4 Millionen Follower hat. Das Problem: Er hat zwar eine riesige Community, die ihn verehrt, aber Songs, die alle erdenklichen Tabus brechen. Capital Bra konnte deshalb trotz seiner Popularität nicht vermarktet werden, weil kein Unternehmen das Risiko eingehen wollte, sich mit ihm zu verbinden.

Darum hat Universal Music sich selbst Gedanken darüber gemacht, welche Produkte in der Community eine hohe Relevanz haben, und Tiefkühlpizzas gewählt. Ein White-Label-Produzent war schnell gefunden, worauf Universal die Marke «Gangstarella» mit dem Bild von Capital Bra auf der Schachtel lancierte. In gut einem Jahr hat Universal Music bereits 7,5 Millionen Pizzas verkauft und wurde so plötzlich zum Konkurrenten von Marken wie Dr. Oetker oder Buitoni.

Contactless wird zum Standard

Die Pandemie hat den Begriff «Nähe» ambivalent werden lassen. Physische Nähe und Berührung sind im Corona-Kontext mit Risiko konnotiert. Wir haben begonnen, den persönlichen Kontakt zu vermeiden. Wir kaufen kontaktlos, zahlen kontaktlos und lassen uns Produkte kontaktlos liefern. Wir machen kontaktlose Probefahrten bei Tesla oder testen die Autos bei VW gleich via Virtual Reality. Im Restaurant scannen wir für das Menu den QR-Code.

Während Contactless in vielen Bereichen zum Standard wird, wird physische Nähe immer mehr zum Privileg.

Dominique von Matt

Eine Technologie, die vor Corona belächelt wurde und jetzt plötzlich den Tipping-Point erlebt und abhebt. Im Hotel setzen wir auf Self-Check-in und eine App, die uns die Zimmertüre öffnet. Viele dieser Entwicklungen sind irreversibel – nämlich immer dann, wenn sie uns einen Convenience-Vorteil bringen. Den Zimmerschlüssel auf dem Mobile zu haben, ist äusserst angenehm und auf das Anstehen an der Rezeption kann man gut verzichten.

Aber von wem wird man nett begrüsst? Die Kundennähe wird zur grossen Herausforderung der Contactless-Ära. Während Contactless in vielen Bereichen zum Standard wird, wird physische Nähe immer mehr zum Privileg.

Zero Tolerance bei den Markenbotschaften

Die Sensibilität gegenüber Aussagen von Marken in Werbung und Marketing hat gemäss dem Edelman Trust Barometer einen Sprung vollzogen. 2018 – also vor der Pandemie – haben 33 Prozent der Befragten diese beachtet, 2020 bereits 60 Prozent. Entsprechend muss die Markenführung mehr denn je empathisch sein, sich in die aktuelle Lebenssituation der Menschen hineindenken und deren Pain-Points aufnehmen.

Eine inklusive Sprache wie auch die gleichwertige Darstellung verschiedener Lebensentwürfe werden zur absoluten Pflicht.

Dominique von Matt

Während der Lockdown-Phasen waren Motivations- und Solidaritäts-Botschaften wichtig. Aktuell sollte man das Corona-Thema hinter sich lassen, aber die Konsumentinnen und Konsumenten auch nicht mit einer künstlichen heilen Welt konfrontieren. Viel kritischer wird heute die Rolle der Frau in der Markenkommunikation beachtet. Marken, die alte Stereotype bedienen, werden in den sozialen Medien sofort abgestraft.

Eine inklusive Sprache wie auch die gleichwertige Darstellung verschiedener Lebensentwürfe werden zur absoluten Pflicht. Botschaften, die eine Missinterpretation bezüglich Diskriminierung oder Rassismus zulassen, führen unmittelbar zu einem Shitstorm.

Das Metaverse wird zum Gamechanger

Würde Facebook ohne Pandemie bereits Meta heissen? Die Entwicklung zum Metaverse wurde durch die pandemiebedingte Verschiebung vom realen in den virtuellen Raum beschleunigt. Weil reale Treffen erschwert sind, sucht man das Gemeinschaftserlebnis virtuell.

Die Gaming-Szene ist hier die Vorreiterin und zeigt, dass ein grösser gedachtes Metaverse überfällig ist: Alleine in Deutschland werden über 3 Milliarden Euro für In-Game-Käufe ausgegeben, insbesondere um Avatare beispielsweise mit Kleidern und Accessoires zu optimieren.

Wer heute exponentiell denkt, gewinnt vielleicht keine Wahlen, aber die Märkte von morgen.

Dominique von Matt

Adidas ist bereits ins NFT-Geschäft eingestiegen und hat im Sandbox-Metaverse eine Parzelle für geschätzte 1,7 Millionen Dollar gekauft. Nike hat den virtuellen Schuhmacher RTFKT Studios übernommen, der in 7 Minuten 600 Paar digitale Turnschuhe für 3,1 Millionen Dollar verkauft hat. «Second Life» war visionär, aber zu früh. Jetzt ist die Zeit reif, weshalb Mark Zuckerberg angekündigt hat, sein Metaverse 2025 zu lancieren. Auch wenn es wohl doppelt so lange dauern wird, wird es die Welt nochmals substanziell verändern.

Mit dem Anspruch «Return to normalcy» gewannen mit Warren G. Harding 1920 nach der Spanischen Grippe und Joe Biden 2020 während der Corona-Pandemie zwei amerikanische Präsidenten die Wahlen. Diese Normalität kam nach 1920 mit dem Aufbruch in die Roaring Twenties nicht zurück und sie wird auch jetzt nicht zurückkommen. Wer heute exponentiell denkt, gewinnt vielleicht keine Wahlen, aber die Märkte von morgen.